Böse Zellen
Drama | Österreich/Deutschland/Schweiz 2003 | 118 Minuten
Regie: Barbara Albert
Filmdaten
- Originaltitel
- BÖSE ZELLEN
- Produktionsland
- Österreich/Deutschland/Schweiz
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- coop 99
- Regie
- Barbara Albert
- Buch
- Barbara Albert
- Kamera
- Martin Gschlacht
- Schnitt
- Monika Willi
- Darsteller
- Kathrin Resetarits (Manu) · Ursula Strauss (Andrea) · Georg Friedrich (Andreas) · Marion Mitterhammer (Gerlinde) · Rubert M. Lehofer (Lukas)
- Länge
- 118 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Die österreichische Regisseurin Barbara Albert („Nordrand“, fd 34 433) wählt die Konstellation von Manus Tod und Begräbnis als Ausgangspunkt, um eine lose Folge von Schicksalen miteinander zu verknüpfen. Manus Freund Andreas kommt deren verstörter Freundin Andrea näher, ihr Bruder Lukas, ein engagiert über Chaostheorie räsonierender Physiklehrer, lernt die dunkelhäutige Österreicherin Sandra kennen, die darunter leidet, dass sie ihren Vater nicht kennt. Sandras Mutter wiederum verliebt sich in den Polizisten, mit dem sie im Kirchenchor singt. Über den Lehrer Lukas und über Kai, den minderjährigen Fahrer des Unglücksautos sowie dessen Clique lernt man eine andere, jüngere Generation von Österreichern kennen.
Souverän und gleich auf mehreren Ebenen schlüssig (etwa im Motiv der Verstümmelung) entwirft Barbara Albert ein abgründiges Kaleidoskop menschlicher Beziehungen. Hier herrscht eine umfassende Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen, aber auch die Angst vor Verletzungen und Zurückweisungen. Auf der einen Seite des Spektrums findet man die zärtlich-schüchterne Annäherung zwischen Lukas und Sandra, auf der anderen Seite die emotionale Eiseskälte des adretten ostdeutschen Autoverkäufers, der beim Sex als Monade erscheint und völlig verschlossen bleibt. Doch der Film geht noch weiter, indem er die Umwelt ins Spiel integriert. Die Handlung entwickelt sich über vier Jahreszeiten hinweg, die über den Bau einer Shopping Mall thematisiert werden, die sich ins Leben der Figuren einmischt. Sie ist ein Ort für oberflächliche Begegnungen, sie sorgt für Jobs und für kurze Träume von Glück, aber auch für stupende Demütigungen. Bei der wenig glanzvollen Eröffnungsfeier der Einkaufsmeile laufen schließlich alle Fäden zusammen: in Form einer famos choreografierten Zwischenbilanz der Begegnungen und Entfremdungen des zurückliegenden Jahres. Dazu singt eine Volksmusiksängerin: „Nimm’ den Strohhalm Glücks!“ Eine andere Institution der Verwaltung beschädigten Lebens ist das Fernsehen, wo es für gescheiterte Beziehungen eine „Verzeih mir“-Show gibt, die das Leid der Menschen gnadenlos kapitalisiert. Dorthin wird Kai irgendwann verzweifelt seine seit jener Nacht querschnittsgelähmte Freundin Gabi schleppen, um sie zum Sprechen zu bringen. Hierin zeigt sich die Doppelgesichtigkeit der Medien, die eben nicht nur Gabis Schicksal voyeuristisch ausbeuten, sondern de facto auch eine Gesprächsplattform für die Beziehung zwischen Gabi und Kai bieten. Zudem wird Gabi in dieser Szene erstmals nach dem Unfall nicht im Krankenzimmer, sondern in Gesellschaft gezeigt. Man ist dankbar für solche kurzen Lichtblicke, denn der böse, aber zugleich präzise Blick auf die Verhältnisse scheint mitunter von kaum zu ertragender Trostlosigkeit: Drogensucht, Krebserkrankung, zwei Selbstmordversuche, Kindsmord.
Doch die pessimistische Wucht des an Fassbinder, Seidl und Solondz gemahnenden Films über das beschädigte Leben wird durch eine sanfte Gegenbewegung hintertrieben. Da ist jenes kitschige Bild im Gemeindehaus, das eingangs zu sehen ist: ein betendes Mädchen, das von einem goldenen Licht aus einem dunklen Unwetterhimmel beschienen wird. Eine diesem Strahl vergleichbare Funktion übernimmt die Musik, die Glanz oder Tränen des Glücks in die Gesichter der Menschen zaubert und sie für kurze Zeit ihr Leiden vergessen lässt. Das kann ein Kirchenlied sein, aber auch Großraum-echno, Hits wie „Macarena“, die alte Hippie-Hymne „San Francisco“ und Hannes Waders „Heute hier, morgen dort“, dessen Refrain „So vergeht Jahr um Jahr, und es ist mir längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt, wie es war“ im Kontext dieser Meditation über die conditio humana an philosophischer Verve gewinnt. Unmittelbar nach dem Vortrag fragt der Chorleiter erschöpft: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diese Erschöpfung informiert auch über die beiden (vergeblichen) Selbstmordversuche, bei denen die Figuren sich einfach fallen lassen, weil sich ein Weiterleben nicht mehr zu lohnen scheint. Eine alternative Position bezieht die drogensüchtige Gerlinde, die eines Tages erstaunt konstatiert, dass sie ja lebt, woraufhin sie sich gegen ihre (sexuelle) Ausbeutung zu wehren beginnt. Selbst Andrea findet für wenige Augenblicke den Mut zum selbstbestimmten Handeln, als sie beschließt, um Andreas’ Liebe zu kämpfen, ihre Konkurrentin verjagt und am nächsten Morgen hysterisch auflacht, als sich die neue, unglückliche Kleinfamilie am Frühstückstisch versammelt. Durchzogen von Surrogaten christlicher Symbole, ist „Böse Zellen“ ein packendes Traktat über die transzendentale Obdachlosigkeit des modernen Menschen. Der Film endet zwar versöhnlich mit einer Verbeugung vor der Schönheit der Natur, sei es die Schönheit der Fraktalen, sei es die Flüchtigkeit von Regentropfen, die in einer Pfütze aufgehen. Fraglich bleibt, ob die Chaostheorie ein tragfähiger Ersatz für die längst dekonstruierten, verlorengegangenen Sinnstiftungssysteme sein kann.