Einmal will dieser Film sogar ein richtiger Horrorfilm sein. Da haben sich die Spieler gerade auf eine zehnjährige Auszeit „geeinigt“, und Julien beschreibt aus seiner Sicht, was ihm diese Zeitspanne als Vorort- Reihenhaus-Normalität bedeutet: eine Frau, zwei Kinder, drei Freunde, ein fester Job, fünf Wochen Urlaub, haufenweise Konsumgüter, regelmäßiger Geschlechtsverkehr, das Glück eines geregelten Lebens – eigentlich ein Albtraum. „Erwachsen zu sein“, so Julien, bedeute, „dass man zwar 210 km/h fahren könnte, aber nur 60 km/h fährt.“ Dass es auch etwas anders geht, weiß er. Er hat vom forcierten, emphatisch gesteigerten Lebensgefühl gekostet; leitmotivisch durchzieht den Film in diversen Versionen der sehnsüchtige Song „La vie en rose“. Nicht grundlos beschreibt Julien in einer Art Beat-Poem die Wirkung des „reinen Spiels“ als derjenigen von Drogen aller Art, von Sex, George-Lucas-Box-Sets, Emma Peel und selbst der Musik von Jimi Hendrix überlegen.
Mehr als von der Liebe, dem Schmerz und solchen Dingen handelt Yann Samuells Film zunächst von der Lust am Fabulieren und der Logik der Eskalation. Zugleich jedoch mischt sich unmittelbar nach der rasanten, Raum und Zeit aufhebenden Exposition ein sinistrer Zug ins Erzählen, an dessen Anfang das Wort „Metastase“ steht. Juliens Mutter ist auf den Tode erkrankt. Als kleinen Trost – besser: als kleine Ablenkung – bekommt der verstörte Achtjährige ein Spielzeugkarussell von ihr geschenkt, das er fortan innig liebt. Doch auch draußen vor der Tür ist das Leben grausam, jedenfalls, wenn man, wie Juliens Klassenkameradin Sophie, mit Nachnamen „Kowalski“ heißt. So wird sie fortwährend zum Opfer ihrer Klassenkameraden. Eines Tages solidarisiert sich Julien mit ihr, indem er ihr seinen wertvollsten Besitz, eben jenes Karussell, schenkt. Als er einen Rückzieher machen und sich das Spielzeug wieder zurückleihen will, erklärt Sophie die Spielregeln: Geschenkt ist geschenkt, wiederholen will verdient sein. Die Wette gilt! Gemeinsam verschwören sich die Kinder in bester antiautoritärer Tradition gegen die Erwachsenenwelt aus Disziplin und Respekt. So wird beispielsweise eine Standpauke des Schuldirektors dadurch konterkariert, dass man ihm einfach vor den Schreibtisch pinkelt. Obwohl keiner der Erwachsenen über die Streiche der Kinder lacht, perfektionieren sie ihr Spiel, auch wenn der Film keine Gelegenheit versäumt, daraufhin zu verweisen, dass es sich dabei um eine autistische Verweigerung der Realität handelt: Sie soll den Skandal überdecken, eine Mutter zu haben, die schön ist und doch stirbt. Jahre später spielen Julien und Sophie noch immer ihr Spiel; längst ist es zu spät, um auszuhören. Nur sind die Opfer nicht mehr die verhassten Autoritäten, sondern Gleichgestellte wie die hübsche Studentin Aurélie oder der stupide Sportlehrer Igor – und längst primär beide Protagonisten selbst. Zumal Sophie scheint früh zu ahnen, dass das Spiel seine Unschuld verloren hat und jede andere Affäre nur „zweite Wahl“ bleiben wird. Zu diesem Zeitpunkt aber ist die kommunikative Grundlage ihrer Beziehung durch das spielerische Moment längst in Frage gestellt. Selbst die Behauptung der Authentizität des „Ich liebe dich“ trägt jetzt den Verdacht des Inszenierten in sich – und damit die Gefahr des Verletztwerdens, und davor gilt es sich zu schützen. Unter der Voraussetzung, dass sich die Vertrautheit zwischen Sophie und Julien unausgesprochen in Liebe verwandelt hat, die nicht unironisch thematisiert werden darf, verwandelt sich der Liebesbeweis in eine möglichst perfide Intrige, die allein auf eine spektakuläre Verletzung des Gegenübers zielt. Unwillkürlich denkt man an Kleists „Penthesilea“: „So war es ein Versehen. Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.“
Yann Samuell buchstabiert die Zerstörungskraft dieser pervertierten Liebe und die davon ausgehende Faszination mit erbarmungsloser Konsequenz durch und bedient sich auf fantasievolle Weise eines ganzen Arsenals filmischer Strategien wie dem distanzierenden Voice-over, dem surreal-fadenscheinigen Theatereffekt, dem überbordenden Melodram, dem Werbespot und der radikalen Satire auf das bürgerliche Heldenleben. „Liebe mich, wenn du dich traust“ erscheint wie eine aberwitzige und düstere Mischung aus „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (fd 34 999), „Zazie“ (fd 9863), „Mein Leben als Hund“ (fd 26 433) und „Schrei in der Stille“ (fd 28 921). Den Spielenden fügt das Spiel früh Schmerzen zu, die sie allerdings zu genießen verstehen. Mit der Eskalation der inszenierten Gewalttätigkeiten – die zumeist nicht blutig, sondern unangenehm komisch sind – werden die Spielunterbrechungen notwendig länger: ein Jahr, zehn Jahre. An der körperlichen Abhängigkeit der Spieler ändert das wenig, skandalös beiläufig werden Randexistenzen wie Schachfiguren geopfert, Hochzeiten gesprengt, Häuser verwüstet, Unfallopfer missbraucht. Dass so etwas nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand, zumal schon die Exposition die Ahnung nahe legte, dass hier eine Stimme aus dem Jenseits spricht. Vielleicht ist dem Filmemacher die Geschichte selbst zu heiß geworden, vielleicht regte sich auch die Stimme der Vernunft. Doch eine furiose erzählerische Volte führt zum Epilog, dessen „Naht“ buchstäblich ins Auge springt. Die Erzählung wechselt aus der Gruft ins Altersheim, wo die zuvor in Beton gegossene anarchische Liebe augenzwinkernd erinnert wird. Oder ist diese in fahlen, überbelichteten Farben gehaltene Erinnerung nur die Fantasie des versäumten Lebens, ein fauler Kompromiss und damit ein selbstreflexiver Zug des Films?