Die andere Welt

- | Frankreich/Algerien 2001 | 94 Minuten

Regie: Merzak Allouache

Eine junge algerischstämmige Französin fliegt nach Algerien, um nach ihrem Geliebten zu suchen, der nach einem Massaker islamistischer Fundamentalisten verschwunden ist. Sie begibt sich auf eine Reise durch ein Land, das von innerer Zerrissenheit und Angst sowohl vor den Terroristen als auch dem Militär geprägt ist. Regisseur Merzak Allouache wirft einen sensiblen Blick auf die gesellschaftlichen Zustände seines Geburtslandes und versucht, hinter der Fremdheit und Gewalt das Vertraute und Menschliche zu entdecken. Zugleich erzählt er eine spannende Liebes- und Leidensgeschichte, die über den spezifischen geografischen und zeitlichen Kontext hinausweist. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
L' AUTRE MONDE
Produktionsland
Frankreich/Algerien
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Baya/Canal + Horizons/Lancelot/We Aime El Djazair/arte
Regie
Merzak Allouache
Buch
Merzak Allouache
Kamera
Georges Lechaptois · François Kuhnel
Musik
Gnawa Diffusion
Schnitt
Sylvie Gadmer
Darsteller
Marie Brahimi (Yasmine) · Karim Bouaiche (Hakim) · Nazim Boudjenah (Rachid) · Michèle Moretti (Aldjia) · Abdelkrim Bahloul (Offizier)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.

Diskussion
Yasmine, eine junge, algerischstämmige Französin mit weichen Gesichtszügen, dunkeln Augen und kurzen Haaren, probiert in einem Laden in Paris einen schwarzen Schleier, einen Hejab, auf. Sie will nach Algerien reisen und braucht das Kopftuch gewissermaßen als Tarnung. Trotz der Warnung einer Freundin vor dem Land, in dem seit den frühen 1990er Jahren Attentate und Massasker durch islamistische Fundamentalisten verübt werden, die gegen die Regierung kämpfen, sitzt Yasmine wenig später im Flugzeug, den Hejab auf dem Kopf: Der Beginn einer Reise, die die junge Frau auf der Suche nach ihrem verschollenen Geliebten, Rachid, von Algier aus immer weiter in die Fremde führt, in eine „andere Welt“, aus der sie nie mehr zurückkehren wird.

Yasmine ist eine naive Reisende, die die Zustände in dem Land, das sie besucht, offensichtlich kaum einschätzen kann. Das zeigt sich sehr bald: Den Schleier könnte sie sich sparen, denn die modernen Algerier bestehen sowieso nicht auf diesem Kleidungsstück oder lehnen es sogar ab; den Fundamentalisten wiederum, die sie bei ihrer Suche aufgreifen, ist es egal, ob sie den Hejab trägt oder nicht: als „Ungläubige“ stösst sie auf Hass und Gewalt. Entkommen kann sie der Terrorgruppe nur, weil einer ihrer Entführer das Morden satt hat: Der junge Mann rettet Yasmine, flieht gemeinsam mit ihr und heftet sich an ihre Fersen. Sie zeigt bei aller Unbedarftheit einen erstaunlichen Mut: Unberirrbar und hartnäckig geht sie jeder Spur des verlorenen Rachid nach, der in der algerischen Armee gedient hatte und nach einem Massaker verschwand. Über staubige Straßen, durch Städte, Dörfer bis in die Wildnis folgt sie Hinweisen, die sie der Mauer aus Schweigen, die sie empfängt, abtrotzen kann. Angst und Misstrauen, sowohl den Terroristen als auch der Regierung und der Armee gegenüber, prägen das Land. Am Rande von Yasmines Weg tauchen andere Schicksale auf: eine junge Frau, die sich früher für die Frauenbewegung engagiert hat und nun verbittert hinnehmen muss, dass ihre Bewegungsfreiheit sich auf einige „sichere“ Viertel beschränkt; ein Offizier, der dem Mädchen weiterhilft und der schließlich dem Terror zum Opfer fällt; seine Frau, die zuhause alle Freiheiten genießt, die sich nach Außen aber der restriktiven Moral der religiösen Fanatiker unterordnen muss. Verbote und unsichtbare Grenzen scheinen die Menschen einzuengen, Grenzen, die auf absurde Weise mit der Weite der kargen Landschaft kollidieren, die Yasmine auf ihrer Reise durchquert. In der Wüste, abseits von den Orten, die von den Terroristen oder der Armee kontrolliert werden, ist es schließlich, wo Yasmine ihren Rachid wiederfindet: Von den Erlebnissen des Massakers traumatisiert, in Begleitung eines Wahnsinnigen, ist dieser als Deserteur in einem „Hotel“ (oder Bordell) in der Wüste untergekommen, wo einige Frauen zusammenleben und sich nicht um die Prüderie der Fundamentalisten scheren. Vorsichtig versucht Yasmine, sich ihrem verstörten Geliebten anzunähern, während der junge Terrorist, der ihr gefolgt ist, hinter Felsen verborgen das Treiben in dem Wohnkomplex entspannt beobachtet. Doch als sich Rachid und Yasmine wieder näherkommen, wird er eifersüchtig – und zur Bedrohung für das wiedervereinte Paar.

Merzak Allouache, in Algier geboren und während der Phase der islamistischen Massaker nach Frankreich emigriert, begleitet in seinen Filmen seit den 1970er-Jahren die gesellschaftlichen Entwicklungen in seinem Heimatland. Vor allem in „Omar Gatlato“ (1976) und „Bab el Oued City“ (1994, fd 31 350) nahm er sich Problemen des zeitgenössischen Algeriens an, wobei er anrührende Liebesgeschichten mit politischen und sozialen Themen verband. In „Die andere Welt“ setzt er dies fort, wobei er als Hauptfigur nun eine in Frankreich aufgewachsene Protagonistin wählt – weil sich Allouache nach seiner sieben- bis achtjährigen Abwesenheit nicht an eine unvermittelte Darstellung der algerischen Zustände wagte, sondern den Blick des Fremden bevorzugt, der das Land neu entdeckt. Gedreht wurde im immer noch unsicheren Algerien. Trotz authentischer Drehorte ist Allouache aber kein Filmemacher, der mit „dokumentarischem“ Gestus an einen Stoff herangeht, vielmehr stilisiert, um bestimmte Sachverhalte sichtbar zu machen. Musik setzt er erneut ein, um Denkungsarten und Zugehörigkeiten zu charakterisieren: Zu Beginn in Paris ertönt eine Opernarie; Muezzin-Rufe verweisen auf die religiösen Fanatiker; das englischsprachige Blues-Lied, das eine Frau in dem Wüstenrefugium singt, zeigt die interkulturelle Offenheit der kleinen Lebensgemeinschaft. Die Figuren erscheinen, ohne an Lebendigkeit zu verlieren, als Repräsentanten bestimmter Gruppen bzw. Ideen oder nehmen, wie die Bilder, gar symbolische oder mythologische Bedeutung an. So etwa ein Mann, den Yasmine beim Flug nach Algier trifft und der den Sarg seines Bruders begleitet: eine Art Hermes-Figur, ein „Psychopompos“, der Yasmines Weg an entscheidenden Stationen kreuzt. Das Grauen der Massaker wird nicht direkt gezeigt, sondern reflektiert durch die Figur des Wahnsinnigen, der wie der Jesus einer Pietà von Rachid in den Armen gehalten wird, wenn er schreit und weint. Die Wüste schließlich wird zum Freiraum, in dem Menschen fern von Restriktionen staatlicher und religiöser Gewalt Zuflucht und ein ungezwungeneres Leben finden. Das Zusammenspiel von Licht, Landschaft und Kamera schafft fast unwirklich schöne Bilder. Wo zuvor horizontale und vertikale Linien dominierten, zeigt Allouache, den Silhouetten der Dünen folgend, die Umgebung des Hotels vor allem in Diagonalen, was den Eindruck von Dynamik evoziert. Die Wüste erscheint als Passageort, bei dem das Reale endgültig ins Metaphysische oszilliert: Kulisse für eine Liebes- und Leidensgeschichte, die über den direkten Bezug auf die algerische Wirklichkeit hinaus über Mechanismen der Gewalt und die Sehnsucht nach Geborgenheit, über Fremdheit, Mut, Liebe und Tod reflektiert. Die Bilder, die Allouache für die „andere Welt“ findet, bleiben im Gedächtnis.

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