Als ihr Mann beim Besuch der erwachsenen Kinder in London stirbt, nutzt eine ältere Frau vom Lande die Gelegenheit und bleibt bei der Tochter in der Großstadt. Sie spannt der Jüngeren den Geliebten aus und fungiert als Katalysator, unter dessen Einfluss nach und nach die Lebenslügen und Risse in den Fassaden der Lebensentwürfe der sich bürgerlich gebenden Kinder zum Vorschein kommen. Ein sich ruhig entwickelnder Film mit Bildern von ausgesuchter Schönheit, der der englischen Gesellschaft und der Institution Familie trostlose Befunde bescheinigt. Das perfekt entwickelte, durchaus humorvolle Drehbuch vermag den Tochter-Mutter-Konflikt als Echo früherer, lange kollektiv beschwiegener Konflikte darzustellen.
- Sehenswert ab 16.
Die Mutter - The Mother
- | Großbritannien 2003 | 112 Minuten
Regie: Roger Michell
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Filmdaten
- Originaltitel
- THE MOTHER
- Produktionsland
- Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2003
- Produktionsfirma
- BBC/Renaissance/Free Range
- Regie
- Roger Michell
- Buch
- Hanif Kureishi
- Kamera
- Alwin Küchler
- Musik
- Jeremy Sams
- Schnitt
- Nicolas Gaster
- Darsteller
- Anne Reid (May) · Peter Vaughan (Toots) · Anna Wilson-Jones (Helen) · Daniel Craig (Darren) · Danira Govich (Au-Pair-Mädchen)
- Länge
- 112 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Eines Tages brechen May und Toots, ein älteres Ehepaar aus der Provinz, in Richtung London auf, um ihre erwachsenen Kinder Bobby und Paula sowie ihre Enkel zu besuchen. Allzu oft scheint das nicht zu passieren. In der Metropole sehen sie sich mit einer Hektik und allgemeinen Zeitknappheit konfrontiert, die auch den Alltag der Kinder prägt. Nicht einmal die Enkel scheinen sonderlich an Oma und Opa interessiert. Zwischen den Terminen bleibt kaum Zeit für einander; zumal Bobbys Familie geriert sich als soziale Aufsteiger mit Au-Pair-Mädchen für die Kinderbetreuung und Risotto im Kühlschrank – und der Besuch verläuft für das Paar einigermaßen ernüchternd. Zumal für Toots, den die Reise körperlich überfordert. In der Nacht stirbt er unvermittelt an einem Herzinfarkt. Nach einer Anstandsfrist soll May in ihr altes Zuhause zurückkehren, doch sie weigert sich, die alte Wohnung zu betreten, und zieht stattdessen zu Tochter Paula, besucht aber regelmäßig den einige Straßen entfernt wohnenden Sohn Bobby und dessen Familie. Je selbstsicherer May nach dem Tod ihres Mannes wird, desto sensibler registriert sie die Defizite im Leben ihrer Kinder. Paula etwa ist in eine höchst unglückliche Liaison mit dem undurchsichtigen Schreiner Darren verstrickt. May, die Darren schon bei Bobby getroffen hat, wird Zeugin einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Paula und Darren. Sie wird von ihrer Tochter beauftragt, Darrens Haltung zu ihrer Beziehung in Erfahrung zu bringen. Es kommt zu einem ersten Gespräch zwischen May und Darren, das May am nächsten Tag in Freundlichkeit fortsetzt. Die beiden kommen sich näher, während die übrigen Familienmitglieder noch versuchen, die alleinstehende Mutter konventionell zu verwalten: Kurse im kreativen Schreiben sollen Kontaktanbahnungen erleichtern. Währenddessen beginnt May eine Affäre mit Darren. Als Paula schließlich eher zufällig von der Affäre erfährt, ist der Skandal da, platzen einige Lebenslügen voller Selbstmitleid.
Mitunter glaubt man, hinter dem zugespitzten Plot Spurenelemente einer Western-Struktur zu erkennen. Auch hier kommt eine Fremde in die Stadt, verschafft sich einen Überblick über den Status quo, erkennt mit sicherem Gespür die Bedeutung von Rissen in der Fassade, fungiert als Katalysator mühsam kaschierter Konflikte und verlässt nach getaner Arbeit einen grundlegend veränderten Ort. Dieses konventionelle Handlungsschema wird aber insofern originell konterkariert, als es die Mutter der Betroffenen ist, die im Zentrum des Geschehens steht, die „aufräumt“. Für May geht mit Toots’ Tod ein Lebensabschnitt zu Ende, der ihr zwar Sicherheit garantierte, aber auch verhinderte, dass sie sich mit einem eigenen Lebensentwurf auseinander setzte. Das holt sie jetzt in rasantem Tempo und mit durchaus egoistischer Verve nach. Insofern schildert „Die Mutter“ die Geschichte einer Emanzipation, die um das gern tabuisierte Thema der Sexualität im Alter kreist. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Spielraum unterschiedlicher Lebensformen erheblich ausdifferenziert, davon erzählen hier auch die Bilder des urbanen London – und nicht zuletzt die komplexen, teilweise rein funktionalen Lebensentwürfe der Kinder. Alte Menschen scheinen bislang gewissermaßen jenseits dieses Prozesses zu leben, was insofern pikant ist, als die Akteure von „1968“ gerade das Rentenalter erreichen. Diesbezüglich dürfte „Die Mutter“ Auftakt einer Reihe von Reflexionen sein, für die Kureishis Drehbuch freilich die Messlatte recht hoch gelegt hat; denn weder im Sachverhalt, dass eine ältere Frau ihre Sexualität mit einem jüngeren Mann auslebt, noch in der Volte, dass sie hierbei der eigenen Tochter den Mann ausspannt, macht den Reiz des Films aus, sondern vielmehr die Tatsache, dass es ihm gelingt, den Tochter-Mutter-Konflikt zu einem Echo früherer, lange kollektiv beschwiegener Konflikte zu machen. So ist in dieser Geschichte angelegt, dass diejenige, die allerlei Lebenslügen aufdeckt und die Institution Familie sehr präzise als dysfunktional und selbstüberfordernd beschreibt, ein Grund für bestimmtes Fehlverhalten sein könnte. Zugleich gelingt es dem Film, an den Rändern seiner Erzählung differenzierte, psychologisch subtile Momente einer umfassenden ökonomischen wie sozialen Krise zu versammeln, sei es der hohle New-Economy-Konsumismus von Bobbys Familie, sei es die Therapiegeschichte Paulas, sei es die mit Drogen und Zynismus notdürftig kaschierte Verunsicherung Darrens.
Trostlos ist der Befund des Films, den Kameramann Alwin Küchler in ruhig montierte Bilder von ausgesuchter stilisierter Schönheit verpackt, die die konstitutiven Themen Innen/Außen, Ordnung/Chaos, Wohlstand/Armut perfekt variieren, unterlegt mit kammermusikalisch raffiniertem Trio-Jazz. Wenn May schließlich eine zerrüttete Familie hinter sich lässt, ist dies kein emanzipatorischer Triumph, sondern auch das Eingeständnis des eigenen Scheiterns. „Die Mutter“ präsentiert mit großer Entschiedenheit, welche Brisanz und auch welche Verwerfungen sich in dem Komplex verbergen, der gegenwärtig noch oberflächlich als „Krieg der Generationen“ verhandelt wird.
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