„Die Zeit ist nur eine Illusion“, lässt der heute als Filmemacher weithin vergessene Alejandro Jodorowsky seinen schwarz gewandeten Desperado in „El Topo“ philosophieren. Möglicherweise gibt es ja tatsächlich Meditationsmethoden, um der letzten Konsequenz aus dem Vergehen der Zeit – dem Tod – auszuweichen, so wie dies wiederum Jodorowsky in seinem Comic „Der weiße Lama“ nahelegt. Die Manöver der Nicht-Eingeweihten aber, sich gegen das Raum-Zeit-Kontinuum aufzulehnen, währen immer nur kurz und münden in Katerstimmung. Nur Kinder und Tiere, heißt es bei Borges, leben in der Unsterblichkeit, denn sie wissen noch nichts vom Vergehen der Zeit. Für uns mehr oder weniger mündige Erdenbürger hingegen bleibt das Diktat der Zeit bis zum Ende bestimmend, ob wir das nun wollen oder nicht; es wäre auf Dauer kindisch, sich gegen dieses Los zu stemmen.
Nun haben die Menschen mit dem Kino ein Vehikel gefunden, das die Illusion vermittelt, mit der Zeit spielen zu können. Andrej Tarkowskij hat in seinem programmatisch „Die versiegelte Zeit“ betitelten Buch darauf hingewiesen, dass mit dem Film erstmals ein Mittel zur Konservierung von Zeit zur Verfügung steht. Seitdem die Brüder Lumière 1895 die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof von La Ciotat auf Silberhalogenid fixiert haben, finden die filmischen Grübeleien über die Vergänglichkeit kein Ende. Der Zusammenhang von Kino und Zeit ist dabei ebenso elementar wie banal und lädt gerade deshalb zu Spekulationen ein. Vielleicht beruht ja das Kinderglück, das auch bei erwachsenen Zuschauern immer wieder angesichts von zu schnell oder gar rückwärts abgespielten Filmaufnahmen freigesetzt wird, auf dem Gefühl, der unerbittlichen Zeit ein kleines Schnippchen zu schlagen.
Die Wucht der Vergänglichkeit
Gaspar Noé geht es in „Irreversible“ keineswegs um komische Effekte, im Gegenteil. Mehrfach im Film beschwört er die alles auflösende Wucht der Vergänglichkeit. „Die Zeit zerstört alles!“, heißt es geradezu pathetisch. Sein programmatisch betitelter Film reiht sich in eine lange Tradition cineastischer Reflexionen ein, von Erich von Stroheims „Greed“ (1924) über Hitchcocks „Vertigo“ und Kubricks „2001“ bis hin zu David Lynchs „Lost Highway“ oder „Memento“ von Christopher Nolan. Nicht zufällig zitiert Nóe in seinem Film einige dieser Vorläufer inhaltlich oder durch direkte visuelle Verweise.
Alex ärgert sich über ihren Freund Marcus, der mit ihrem Ex-Freund Pierre auf einer lärmenden Party zu viel Alkohol und andere Drogen zu sich nimmt, und will mit einem Taxi vorzeitig nach Hause fahren. In einer Fußgängerunterführung ereilt sie in Person eines aggressiven Zuhälters ihr Schicksal. Der ebenfalls unter Drogen stehende Mann lässt seine angestauten Aggressionen an der ihm zufällig über den Weg laufenden „Edelfotze“ aus. Nach erfolgter Vergewaltigung schlägt und tritt er auf die am Boden liegende Frau ein, bis sie ins Koma fällt. Marcus und Pierre erscheinen am Tatort, realisieren erst allmählich, dass der leblose Körper auf der Trage die von beiden geliebte Alex ist. Nach dem Tipp eines arabischen Zuhälters machen sich die beiden auf die Suche nach dem Gewalttäter; nichts scheint ihren Rachefeldzug aufhalten zu können. In einem schwulen Nachtclub mit dem wenig dezenten Namen „Rectum“ werden sie fündig und vollziehen ein rabiates Strafgericht.
„Vorher“ oder „Nachher“ führen ins Abseits
„Irreversibel“ wird kurzfristig als ein Film kolportiert werden, der von hinten nach vorn abläuft und in dessen Zentrum eine neunminütige Vergewaltigungsszene von selten gesehener Brutalität steht. Diese Wahrnehmung verkürzt Noés Arbeit auf denkbar ungerechte Weise. Tatsächlich handelt es sich sowohl um einen ernstzunehmenden Kommentar über erzählte und erzählende Zeit als auch um eine durchaus moralisch fundierte Äußerung zur Phänomenologie zwischenmenschlicher Gewalt. Wenn Marcus und Pierre zuletzt von der Polizei abgeführt werden, wird die Sinnlosigkeit ihres Racheaktes ebenso deutlich wie die Unfassbarkeit der vorangehenden Vergewaltigung. Männliches Gebaren insgesamt erlebt hier eine sehr kritische Vivisektion. Schließlich führt das Unvermögen ihrer männlichen Begleiter, aus Rollenklischees auszubrechen, erst zur Katastrophe. Auch vorher wird Alex schon als diejenige gezeigt, die sich mit ihren Selbstzweifeln allein gelassen sieht. Doch Vorsicht: bei diesem Film von „vorher“ und „danach“ zu sprechen, führt ins Abseits.
„Irreversibel“ beginnt mit dem Ende, genauer gesagt mit dem Abspann. Dieser scheint aus dem Projektor zu laufen, kippt auf die Seite und gibt dann erstmals jene geometrische Form vor, die zum eigentlichen Leitmotiv des Films wird: die der Spirale. Die Spirale ist nicht erst seit „Vertigo“ Sinnbild einer sich immer mehr nach Innen schraubenden Bewegung, die den Betrachter hinabzieht und zum Mahlstrom der Wahrnehmung wird. In der Spirale fallen Micro- und Makrokosmos zusammen und heben sich damit auf. Der Betrachter wird gewahr, dass seine Sinne und sein Denken für eine komplexe Verarbeitung doch nur in Grenzen tauglich sind. Godards Fokussierung der Kaffeetasse in „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ weitet sich zum Blick in die Milchstraße, Kubricks Vorstoß in kosmische Spiralnebel („2001“) fällt zurück auf das transparent wirkende Gewebe eines Fötus. In seinen stärksten Momenten vermag auch Gaspar Noés Film, an solche filmischen Transzendierungen anzuschließen.
Puzzle im Kopf
Es wäre Unsinn, einen Film ernsthaft vom Ende her erzählen zu wollen. Ein solches Experiment lässt sich jederzeit für jedermann mit Fernbedienung, Videorekorder und Bildschirm durchführen. Darum geht es in „Irreversibel“ auch nicht. Noés Umkehr-Konzept stellt vielmehr einen dramaturgischen Trick dar, um eingefahrene Erzählstrukturen neu zu mischen. Aufheben kann er sie nicht. Jeder der einzelnen elf Blöcke ist in sich chronologisch erzählt. Anstatt von einer Gesamtexposition auszugehen, legt der Film den finalen Racheakt als Ausgangspunkt zugrunde, führt aber dabei schon die beiden Hauptpersonen ein. Alle anderen Hintergründe rekonstruieren sich scheinbar nach und nach als Puzzle im Kopf des Zuschauers.
Im Scheitel der Erzählung steht die Vergewaltigung, sie teilt „Irreversibel“ in zwei mittellange Filme, die an sich auch autonom funktionieren könnten. Stellt der erste (letzte) Teil die actionbetonte Phase mit einem Höchstmaß an Adrenalinausschüttung dar, funktioniert der zweite (erste) Teil als psychologische Hintergrundbeleuchtung der Figuren. Auf frappierende Weise lässt der Film mit zunehmender Länge immer mehr Licht zu. Am Ende dieser Reise ans Ende der Nacht wirkt das gute alte Prinzip Hoffnung trotz des Wissens um die vorangegangen (folgenden) Ereignisse, und man verlässt das Kino fast (!) ein wenig verwöhnt mit den Gegebenheiten dieses Planeten.