Jesus, Du weißt

Dokumentarfilm | Österreich/Frankreich 2003 | 90 Minuten

Regie: Ulrich Seidl

Sechs Porträts von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen eine sehr persönliche Beziehung zu Jesus pflegen und ihm im Gebet ihre Bitten vortragen. Der durch die Inbrunst seiner Protagonisten ebenso erschreckende wie mitunter auch erheiternde Dokumentarfilm nähert sich dem Katholizismus von einer Seite, die nicht frei von Bigotterie ist. Der Regisseur nutzt Blickwinkel und -perspektiven, um die Haltung der Kirchgänger sowie ihre Lebens- und Glaubenseinstellungen erfahrbar zu machen. Dabei dringt er in einen Grenzbereich vor, der Staunen und Fragen auslöst, ohne mit vorgefertigten Antworten aufzuwarten. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
JESUS, DU WEISST
Produktionsland
Österreich/Frankreich
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
MMK Media/ORF/arte
Regie
Ulrich Seidl
Buch
Ulrich Seidl · Veronika Franz
Kamera
Wolfgang Thaler · Jerzy Palacz
Schnitt
Christof Schertenleib · Andrea Wagner
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Obwohl Ulrich Seidl längst ein einschlägiger Ruf vorauseilen müsste, ist es doch erstaunlich, wie es dem österreichischen Dokumentarfilmer immer wieder gelingt, die Protagonisten seiner Filme dazu zu bringen, ohne Druck und zwingende Not ihre Seelen zu entblößen. Dies gilt für Tierfreunde, deren Tierliebe jedes Maß übersteigert („Tierische Liebe“, fd 32 066), junge Frauen, die verbissen auf ihre Chance als Darstellerinnen lauern („Models“, 1998) oder österreichische Männer, die sich vermeintlich „pflegeleichte“ asiatische Ehefrauen zulegen („Die letzten Männer“, 1994). Trotz dieser recht unterschiedlichen Sujets ist Seidls Filmen eines gemein: Sie konstatieren eine ungeheuere gesellschaftliche Kälte, die der Dokumentarist ohne Kommentar seziert. Dies trifft auch auf seinen jüngsten Film „Jesus, Du weißt“ zu, in dem sechs bekennende Katholiken betend zu Wort kommen und während des Vorspanns dem Filmprojekt alles Gute wünschen oder ihn Jesus widmen, der schließlich der Herr über das Filmprojekt wie über ganz Österreich ist. Von liturgischen Gesängen strukturiert, geben die sechs ihre Zwiesprache mit Jesus der Kamera preis, und damit eine der intimsten Situationen ihres Lebens. Dabei sind es weniger die offiziellen Gebete, die für Verstörung sorgen, sondern das persönliche Bekenntnis, die privaten Fürbitten und die unverbrüchliche Nähe, die die Betenden zu ihrem Heiland aufgebaut haben, weil darin immer wieder eine tiefe Not zum Ausdruck kommt. Da ist die verhuschte Frau im zart-blauen Pulli, die für ihren kranken Mann bittet, der sich nach einer Phase der Besinnung und Hinwendung zu Gott wieder weltlichen Dingen widmet und im Fernsehen am liebsten Talkshows ansieht. Die Sorge um dessen Seelenheil nimmt mitunter groteske Züge an, wenn der Heilige Geist für den Programmmacher des Fernsehens herbei gerufen wird und man erfährt, dass der verstockte Ehemann ein pakistanischer Muslim ist, dem auch von Seiten seiner Familie die Hölle heiß gemacht wird – weil er eine Christin geheiratet hat. Verzweiflung liegt auch in der Stimme der älteren Dame, weil ihr Mann fremd geht, weshalb sie Jesus nun um Rat fragt. Zwar hat sie den Gedanken, den untreuen Gatten zu vergiften, schon verworfen und sieht auch von ihrem Selbstmord ab; doch der Geliebten des Mannes mit verstellter Stimme das Leben schwer machen, scheint ihr ein ganz probates christliches Mittel zu sein. Der blasse Mann, der seine Beziehungsschwierigkeit offenbart und in dessen Gebet von den schweren Misshandlungen durch die Eltern die Rede ist, fragt nach dem Sinn dieser Prüfungen. Ein fahriger Student, der wegen seine Glaubens gehänselt wird, bittet Jesus um Verzeihung, weil er trotz guter Vorsätze immer wieder „schmutzige Dinge“ denkt und tut und sich gerne in die Rolle des Helden hineinträumt. Den Abschluss bildet ein junges Paar, dessen Beziehung in die Brüche ging, weil er sich zum Mönch berufen fühlte, diesem Auftrag aber nicht gerecht werden konnte. Nun hadert er mit seiner Schwäche, und beide möchten wieder zueinander kommen, ohne so recht zu wissen, wie. Seidl kommentiert nicht, sondern konzentriert sich ganz auf die Aussagen seiner Protagonisten, die dem visuell kargem Film ihren Stempel aufdrücken. Jede Einstellung beginnt mit den betenden Gläubigen, dann Folgen Schuss und Gegenschuss auf Kruxifixe und Jesus-Abbildungen. Dadurch geschieht zweierlei: der kniende Mensch in der Untersicht und die mächtige Christusfigur im Altarraum manifestieren ein Herrschaftsverhältnis; und durch den im Laufe des Films schneller werdenden Schnitt/Gegenschnitt provoziert Seidl einen Kuleschow-Effekt, so als würde das unbewegliche Gesicht des Gekreuzigten wirklich seine Züge ändern und auf die Nöte der Betenden reagieren. Durch winzige Szenen aus den Privatleben der Gläubigen erhöht Seidl noch die Distanz zu diesen, die in ihrer Diesseitigkeit völlig unglaubwürdig werden, so als kämen sie im wirklichen Leben überhaupt nicht zurecht. Vielleicht ist in „Jesus, Du weißt“ deswegen so viel von Leiden, Prüfung, Erlösung und dem Jenseits die Rede, weil die porträtierten Menschen – eigentlich mehr oder weniger schwere Fälle für einen Therapeuten – ihre Zukunft gar nicht mehr in dieser Welt zu finden glauben, sondern dem irdischen Jammertal schon längst den Rücken gekehrt haben, leider aber scheinbar auch den Menschen, die mit ihnen leben. Dabei ist Seidl weniger an klassischer Glaubenskritik oder gar Blasphemie interessiert, sondern er stellt mit den starren, statischen Einstellungen vielmehr eine devote Gläubigkeit vor, der alles Weltliche fremd geworden ist und die sich voller Inbrunst auf sich selber konzentriert. Dazu passt auch das unwirkliche, diffuse Licht in den Kirchenschiffen, das die meist halbnahen Einstellungen der Betenden umspielt und sie ein wenig aus der Wirklichkeit entrückt. Eine Wirklichkeit, die die meisten von ihnen zu fliehen scheinen, obwohl sie sich in ihrem täglichen Leben doch nur für die Zeit des Gebetes ausklammern lässt. Ob dies Formen einer neuen Frömmigkeit sind, lässt Seidl ebenso unbeantwortet wie die Frage, wie die offizielle Kirche zu dieser Art der innigen Zwiesprache, in die sich meist auch eine Portion Bigotterie einschleicht, steht – Berufsgläubige kommen in diesem Film nicht vor.
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