Nirgendwo (2002)

- | Türkei/Deutschland 2002 | 90 Minuten

Regie: Tayfun Pirselimoglu

Eine 40-jährige Verkäuferin von Fahrkarten am Hauptbahnhof in Istanbul sucht auf Polizeistationen, bei Militärbehörden sowie in Kranken- und Leichenschauhäusern nach ihrem verschollenen Sohn. Ihr Weg führt sie quer durch die Türkei, bis sie im kurdischen Gebiet an der Grenze zu Syrien fündig zu werden scheint. Ein erschütterndes Drama an der Grenze zum Politthriller, das in düsteren Farben von den Zuständen in der Türkei erzählt und eine Atmosphäre der Ohnmacht, permanenten Bedrohung und Hilflosigkeit beschwört. Der Film vermittelt allenfalls dadurch Hoffnung, dass die Frau auf ihrer Reise zu sich selbst gefunden und sich zu wehren und durchzusetzen gelernt hat. (O.m.d.U.) - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
HICBIRYERDE
Produktionsland
Türkei/Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Mine/Luna-Film/ZDF/arte
Regie
Tayfun Pirselimoglu
Buch
Tayfun Pirselimoglu
Kamera
Colin Mounier
Musik
Cengiz Onural
Schnitt
Sevket Uysal · Hamdi Deniz
Darsteller
Zuhal Olcay (Sükran) · Michael Mendl (Gerhard) · Parkan Özturan (Ahmet) · Meral Okay (Melek) · Ruhi Sari (Veysel)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.

Diskussion
Kühles hellblaues, fast surreales Licht: Eine Frau schreitet die Treppen hinab, neben ihr zwei bärtige, breitschultrige Männer mit gleichgültigem Gesichtsausdruck. Eine Bahre, auf der unter einem Tuch ein Paar männlicher Beine zu erkennen ist. Das Leichentuch wird gelüftet, die Miene der Frau verzerrt sich, dann geht die Kamera mit ihr zu Boden. Die Ohnmacht der Mütter – das ist das Thema des türkischen Films „Nirgendwo“. Denn die Suche nach ihrem Sohn Veysel hat für Sükran auch dieses Mal, beim dritten Besuch im Leichenschauhaus, kein Ende gefunden. Der Tote ist nicht ihr vermisster Sohn, ihr Schwächeanfall die hilflose Geste einer hoffenden Mutter. Veysel hat „seltsame Hobbies“, wie es der Chef der Mutter ausdrückt: Gemeint ist sein politisches Engagement, das auch schon seinen Vater das Leben kostete. Die behütete Erziehung durch Sükran konnte sein Bedürfnis nach politischem Engagement nicht verhindern. Er filmte bei Demonstrationen; mehr verrät der Film nicht. Ansonsten herrscht Schweigen vor; beim Vater von Veysels ebenfalls verschwundenem Freund, der seinen Sohn sogar verleugnet, bei der Polizei und Justiz, die vorgeben, nichts über den Verbleib des jungen Mannes zu wissen. Die Mutter kann sich nicht mit dem Gedanken abfinden, nun auch den zweiten Menschen wegen seiner Ideale an das Regime verloren zu haben. Auf eigene Faust beginnt sie ihre Recherche und stößt immer wieder an die Grenzen einer Politik, die weniger demokratisch als diktatorisch aufgebaut scheint. „Nirgendwo“ ist aber nur in erster Linie ein Film über eine Frau, die sich aus Verzweiflung in einer männlich dominierten Welt zu emanzipieren beginnt, allein unter Männern reist, isst und sich mit dem Foto ihres Sohns in der Hand an jede kleinste Information klammert. Ihr Weg führt sie an Orte, die eine türkische Frau niemals aufsuchen dürfte: ins Pornokino oder die Stadt, in der sie eine Fremde ist. In zweiter Linie jedoch, und hieraus zieht der Film seine anklagende Wirkung, ist er das Soziogramm einer Gesellschaft, in der Widerstand im Keim erstickt und dabei über Leichen gegangen wird. Dass diese Gesellschaft funktionieren könnte, zeigt Sükrans Umfeld: Nachbarn und Kollegin unterstützen und decken sie, helfen und trösten; und das, obwohl der Film die Türkei als ein Land der unkompletten Familien etabliert: Kaum eine Figur, die nicht einen geliebten Menschen verloren hätte, Ehemänner, -frauen und vor allem Söhne. Die Wände des Vermisstenbüros, das Sükran täglich aufsucht, sind übersät mit Fotos von Vermissten. Genau hier ist die Bruchstelle zu finden: Kaum betritt Sükran bei ihrer Suche eine Amtsstube, den öffentlichen Raum überhaupt, wird sie herablassend geduzt und unter Vorwänden hinausgewiesen, in ihrer Heimatstadt Istanbul genauso wie in Mardin im Südosten, nahe der irakischen Grenze, wo sie ihren Sohn vermutet. Der Film umkreist eine Leerstelle, die des verschwundenen Sohnes. Die ausgebeulte Jeansjacke an der Garderobe, der leere Stuhl im Wohnzimmer: Die schlichte Bildersprache etabliert klar, fast emotional spürbar die Symbole eines existenziellen Verlustes. Doch statt sich darin zu erschöpfen, schafft es die rhythmische Dramaturgie, eine Spiralwirkung zu erzeugen. Die Kettenreaktion von Hoffnung, vermeintlichem Erfolg und stetig wachsender Enttäuschung ist nicht mehr zu stoppen und zieht den Betrachter hinein in eine Welt, die an Vorzeiten erinnert – an eine Zeit vor den Menschenrechten. Dass diese Welt in der heutigen Türkei zu finden ist, macht „Nirgendwo“ zu einem wichtigen Film, der, wie viele seiner Art, dort zensiert und totgeschwiegen werden wird. Gerade heute, angesichts des viel diskutierten EU-Beitritts der Türkei, zeigt der Film als politisches Medium seine demokratische Bildermacht. Veysel bleibt verschwunden; doch die Kritik am türkischen Regime wird die europäischen Kinos erreichen – über Landesgrenzen und Zensurapparate hinweg.
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