Sein heißt gesehen werden: In der Medienkultur der Gegenwart fällt es der Wirklichkeit immer schwerer, sich gegen Bilder als ultimative Quelle von Sinn und Identität zu behaupten. Anders ist nicht zu erklären, dass sich Tausende von Freiwilligen gefunden haben, die sich voller Elan – aber ohne Talent – den Kameras aussetzen, in der vagen Hoffnung, eines Tages von einem anonymen Publikum zum Super-Star gekürt zu werden. Der Siegeszug des Star-Systems hat jedoch nicht erst mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens begonnen, sondern reicht zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als Zeitungen und Filme anfingen, die Art der Wahrnehmung der Welt grundlegend zu verändern. In jener Epoche spielt das Musical „Chicago“, das von Menschen handelt, die das Streben nach Popularität zur Religion erhoben haben.
Roxie Hart ist ein Niemand. Ein Mensch in der Masse, der davon träumt ein Jemand zu sein. Dafür ist sie bereit, jedes Opfer zu erbringen – selbst wenn das bedeutet, mit einem Möbelverkäufer zu schlafen, der ihr versprochen hat, seine vermeintlichen Beziehungen zur Club-Szene spielen zu lassen. Entsprechend groß ist ihre Wut, als sie entdeckt, dass er sie belogen hat. Sie greift zum Revolver, erschießt ihren Liebhaber und beginnt eine Flucht ins Reich ihrer Imagination: Roxie beginnt, die graue Realität ihrer Umgebung in eine farbenprächtige Revue zu transformieren, in der allein die Regeln des Show-Business gelten und die Widrigkeiten der Wirklichkeit von mitreißenden Melodien, raffinierten Choreografien und einer perfekten Inszenierung überdeckt werden.
Der Zoom auf Roxies Auge in der allerersten Einstellung lässt keinen Zweifel: Der Film ist einzig und allein ihrer Wahrnehmung verpflichtet. Ansonsten wäre „Chicago“ kein Musical, sondern ein bitteres Melodram über Menschen ohne Mitleid, eine trostlose Geschichte um Mord, Verrat und krankhaften Ehrgeiz. Erst ihr Blick nimmt ihrem Schicksal den Schrecken, indem sie das Gefängnis in eine Show-Bühne und den Gerichtssaal in ein Zirkuszelt verwandelt. Allerdings ist sie nicht allein in ihrem Eskapismus: Sie findet einen Anwalt, der es versteht, ihre Träume und die Sensationsgier der Öffentlichkeit zu synchronisieren; er kümmert sich weniger um die Fakten des Falls als um die medientaugliche Aufbereitung von Roxies Schicksal, indem er sie als unschuldiges Opfer des Jazz-Zeitalters präsentiert. Plötzlich ziert ihr Name alle Zeitungen: Sie wird zum Star. Es ist ein großer Augenblick für Roxie, als ihr persönliches Schicksal zum öffentlichen Ereignis wird. Ihr Traum vom Ruhm hat sich erfüllt; ihre Fantasien sind nicht an der Wirklichkeit zerschellt, da ihre Sucht nach Öffentlichkeit in perfektem Einklang mit deren Unterhaltungsbedürfnis steht. Ihre private Manie ist insofern das Symptom der kollektiven Krankheit, die seit Beginn des vorigen Jahrhunderts immer weiter um sich gegriffen hat. So findet das Leben der Akteure seinen Sinn nicht länger in der eigentlichen Erfahrung, sondern in der überlebensgroßen Inszenierung, die ihre Relevanz erst durch das Auge des Betrachters gewinnt.
Roxies Triumph ist zugleich der Sieg der Show über die Substanz. Ihre Lebenslügen machen Schlagzeilen, selbst ihre vorgetäuschte Schwangerschaft gewinnt durch die Verbreitung in den Medien den Anschein von Realität. Spätestens an diesem Punkt offenbart sich aber auch ihre Herzenskälte. Sie ersehnt weder Liebe noch Nähe, sondern bloß die blinde Anerkennung der Masse. Ein Happy End im traditionellen Sinne kann es daher für sie nicht geben, zu sehr reduziert sie die Menschen in ihrer Umgebung zur Staffage in ihrer privaten Choreografie des Daseins. Regisseur Rob Marshall bringt ihre fundamentale Einsamkeit in der bunten Bilderwelt auf den Punkt, als Roxie im zentralen Solo ihren Ruhm besingt: Er präsentiert sie auf einer leeren Bühne, auf der riesige Spiegel das einzige Requisit bilden. Roxys Bild wird endlos reproduziert, bis es schließlich die gesamte Leinwand füllt. Dennoch bleibt sie allein. Marshalls Kunst besteht darin, dass selbst in derartigen Sequenzen die Eleganz der Inszenierung jeden bitteren Beigeschmack übertüncht: Er feiert den Sieg des Stils über jegliche Substanz mit einem Fest erlesener Bilder. Sein Film will nicht anklagen oder belehren, er stellt lediglich fest. Dementsprechend verbreitet „Chicago“ keinen Kulturpessimismus, sondern zelebriert gut gelaunten Zynismus, der anerkennt, dass es keine Rückkehr aus dem Show-Zeitalter geben wird. Das erlaubt es dem Publikum, sich vorbehaltlos an den zahlreichen großartigen Regieeinfällen zu erfreuen. Denn Marshall hat zwar die Farbdramaturgie der Broadway-Version übernommen, brennt ansonsten aber ein fulminantes Feuerwerk an eigenen Ideen ab. Schon lange gab es keinen großen amerikanischen Film mehr, der formalen Erfindungsreichtum derart virtuos mit inhaltlicher Sinnstiftung verbunden hätte. Dabei hätte es der großen Bilder im Grunde gar nicht bedurft; allein die schauspielerischen und gesanglichen Leistungen von Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere sind das Eintrittsgeld wert.