Mein kleines Kind

- | Deutschland 2001 | 88 Minuten

Regie: Katja Baumgarten

Autobiografisch-dokumentarisches Essay der Filmemacherin Katja Baumgarten über ihre Schwangerschaft mit einem schwer behinderten Kind, das wenige Stunden nach der Geburt starb. Zurückhaltende, fast meditative Studie über eine extreme Lebenssituation, die durch die konzentrierte formale Gestaltung zu einem tief bewegenden Dokument der Humanität wird. Weniger eine Waffe im Streit um die Pränatale Diagnostik als ein nachdrücklicher Beitrag zum Diskurs über humanes Leben und Sterben. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Katja Baumgarten
Regie
Katja Baumgarten
Buch
Katja Baumgarten
Kamera
Gisela Tuchtenhagen
Schnitt
Katja Baumgarten
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
„Sie müssen entscheiden!“, sagt der Facharzt zu Katja Baumgarten, nachdem er der alleinerziehenden Mutter eröffnet hat, dass das Baby in ihrem Bauch schwer behindert ist. „Die sofortige Beendigung der Schwangerschaft ist in einer solchen Situation der übliche Weg.“ Obwohl die Hebamme und Filmemacherin den Sinn der medizinischen Diagnose – „komplexes Fehlbildungssyndrom in der 21. Schwangerschaftswoche, Verdacht auf Chromosomenanomalie“ – entschlüsseln kann, wehrt sich alles in ihr gegen diese Nachricht. Ihr vierte Schwangerschaft verlief bislang unproblematisch, auf dem Monitor des Ultraschallgerätes schien alles in Ordnung. Sie kennt das Prozedere der „vorzeitigen Geburtseinleitung“, bei der der Fötus mit einer Injektion ins Herz getötet wird; sie weiß aber auch, dass ihr Kind nach der Geburt nicht lange leben würde. Reflexartig sei ihr noch im Gespräch mit dem Arzt der Gedanke durch den Kopf geschossen, ihre Not mit der Kamera festzuhalten, eine Art Gegenwehr, um Halt und Orientierung zu finden, aber auch, um mit der extremen Situation nicht allein zu bleiben. Vier Tage später sitzt ihr die Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen gegenüber, die ihr ratloses Gespräch dokumentiert; die ersten von vielen Aufnahmen einer bestürzenden Lebenssituation, die mit der Geburt und dem Tod von Martin Tim noch lange nicht überwunden ist. Erst ein Jahr später wagte sich Katja Baumgarten an die Videobänder, auch ihre eigenen, die sie in diesen Monaten aufnahm – und stellte sich der Herausforderung, eine „angemessene Form“ für einen Film zu finden, den sie als „autobiografischen Dokumentarfilm“ bezeichnet. Das Ergebnis ist ein tief bewegendes, aufwühlendes Dokument der Humanität – und zugleich ein Glücksfall fürs Dokumentarfilmschaffen, weil hier höchste Intimität und reflektierte Distanz in eine Weise zusammenfinden, die zum Nachdenken zwingt; denn die „Menschlichkeit“, von der die Bilder erzählen, verdankt sich in hohem Maße einer filmischen Gestaltung, die dem Exhibitionismus ebenso wehrt wie jeder Form des Voyeurismus. Die vierjährige Entstehungszeit spürt man in vielen Einzelszenen, die so sehr aufs Wesentliche konzentiert sind, als habe die Autorin in einem Akt der ständigen Selbstbefragung allen Schmerz und alle Eitelkeit getilgt; ihr Off-Erzählung ist klar, die Bildauswahl unspektakulär, der Schnitt fast beiläufig. Selbst auf eine naheliegende Spannungsdramaturgie des Ausgangs der Schwangerschaft wurde verzichtet, indem der Film mit grobkörnigen Impressionen nach der Geburt einsetzt, als auf das Neugeborene angestoßen wird. Breiten Raum nehmen die Ultraschallaufnahmen ein, der pulsierende Echolot-Widerschein des Ungeborenen, dessen „Anomalien“ der Experte klinisch zu deuten weiß, während die Mutter lediglich die Bewegungen ihres Kindes sieht. Szenen aus dem Familienleben mit den drei anderen Kindern Baumgartens mischen sich mit Gesprächen, rechtlichen und medizinischen Überlegungen, ab und zu auch mit „Kunst“-Aufnahmen von fließenden Gewässern oder Blumen und schließlich der (Haus-)Geburt, auf die alles zustrebt. Als die Wehen einsetzen, ist für „Klein-Martin“ alles vorbereitet. Hebamme, zwei Ärzte, ein Freund und ihre Kinder umringen Katja Baumgarten nach der Entbindung, während das Baby auf ihrer Brust ruht. Alle sind von einer feierlichen Stimmung ergriffen, es gibt Kuchen und Sekt, obwohl jeder weiß, dass dem Baby keine lange Lebensspanne gegönnt ist. Mit einer letzten ruhigen Einstellungen auf die Mutter und ihr totes Kind zieht sich die Kamera zurück: ein stille, friedvolle Pietà-Szene, in der sich viele Themen bündeln. Etwa das des Todes, der hier nicht nur angesichts der schweren Behinderung seinen Schrecken verliert, sondern auch und vor allem durch seine ebenso beständige wie beiläufige Thematisierung, zumindest auf der filmischen Erzählebene. Er ist von der Eröffnung des Arztes an gegenwärtig, als unausweichliches Schicksal, das gleichwohl gestaltet werden muss, hier konkret als Eingriff von Menschenhand oder seinem Gegenteil. Warum entschied sich Katja Baumgarten für Letzteres? Sogar in tieferen Dimensionen wird ihre Entscheidung erahnbar, einen todgeweihten Fötus auszutragen und ihn als ihr Kind anzuerkennen. Im Off-Kommentar klingt einmal das Schicksal von Baumgartens eigener Mutter an, die ihr zweites Kind tot zur Welt brachte; ehe sie auch nur einen Blick darauf werfen konnte, wurde „Es“ in einem Eimer fortgetragen. Welche seelische Leere und welche Schuldgefühle solche anonyme „Entsorgung“ hinterließ, deutet der Umstand an, dass Baumgartens Mutter erst nach 40 Jahren über das Geschehene zu sprechen beginnt. Der leise, zurückhaltende Film ist ein Therapeutikum gegen die Angst, weil sein paradoxes Lob des Kreatürlichen auch jene Seiten einschließt, die in der auf Funktionalität und Perfektion fixierten Moderne ausgegrenzt sind: etwa jene des Schmerzes oder der Behinderung. Nicht zuletzt plädiert der Film eindringlich und plausibel für eine „sanfte“ Geburt diesseits des Kreißsaals, wie er nachhaltig auch für ein umfassendes Ja zum Leben wirbt, ohne auf ethische Begrifflichkeiten zurückgreifen zu müssen. Was „Würde“ oder auch „Menschenwürde“ bedeuten kann, wird umso greifbarer, weil der Film nicht theoretisiert, sondern sichtbar macht, wobei er den Aspekt der Anerkennung ebenso akzentuiert wie den der Entscheidung: die Not und Last der Wahl, zwischen medizinischem Rat und widerstreitenden Gefühlen einen Weg zu finden. „Mein kleines Kind“ ist weniger eine Waffe im Streit um die Pränatale Diagnostik als vielmehr ein nachdrücklich-nachdenklicher Beitrag im gesellschaftlichen Diskurs um humanes Leben und Sterben.
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