Das glückliche Leben eines leidenschaftlichen Fischers und seiner Frau findet ein jähes Ende, als sich herausstellt, dass der spät geborene Sohn das Meer fürchtet, sogar hasst. Dies entzweit Vater und Sohn, die Mutter geht an dem Konflikt zu Grunde. Der Sohn erliegt den Verlockungen des Stadtlebens, wird in einen blutigen Streit verwickelt und betrügt die Schwester. Melancholisches Drama um den ewigen Gegensatz von Meer und Land, in dem der Sturm gepeitschte Atlantik, der die Menschen in ihre Schranken verweist, die zentrale Rolle einnimmt. Der meisterhafte Stummfilm arbeitet mit komplexen Schnittfolgen, versteht sich als "visuelle Symphonie" und gilt als frühes Beispiel einer "kinematografischen Schrift".
- Sehenswert ab 16.
L'Homme du large - Ein Mann der See
Drama | Frankreich 1920 | 86 Minuten
Regie: Marcel L'Herbier
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Filmdaten
- Originaltitel
- L' HOMME DU LARGE
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 1920
- Produktionsfirma
- Gaumont
- Regie
- Marcel L'Herbier
- Buch
- Marcel L'Herbier
- Kamera
- Georges Lucas
- Musik
- Antoine Duhamel
- Schnitt
- Marcel L'Herbier
- Darsteller
- Jaque-Catelain (Michel) · Roger Karl (Nolff, Michels Vater) · Charles Boyer (Guenn-la-Taupe, Michels Verführer) · Philippe Hériat (Beschützer) · Marcelle Pradot (Djenna, Michels Schwester)
- Länge
- 86 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Marcel L’Herbiers Seedrama um einen Vater-Sohn-Konflikt lebt vom Gegensatz Mensch und Natur, wie man dies vor allem von der schwedischen Schule, von Victor Sjöström („Berg-Eyvind und seine Frau“, 1918) und Mauritz Stiller („Johan“, 1920) kennt. „L’homme du large“ ist eine Hymne an das Meer und die wilde Schönheit der bretonischen Küste, wo das Werk im Sommer 1920 zwischen Quiberon und Penmarch auch aufgenommen wurde. Diese „visuelle Symphonie“ bezeichnete Henri Langlois, Mitbegründer der Cinémathèque française, als eines der ersten Beispiele für eine „kinematographische Schrift“. Die Komposition lasse den Film Bild für Bild wie Hieroglyphen oder einen chinesischen Text lesen. Die bewusste Stilisierung Marcel L’Herbiers, sichtbar auch in den kunstvoll arrangierten Zwischentiteln, wählt archetypische, überirdische Verweise und Symbole, um die Allmacht der Natur und das Ausgeliefertsein, das Schicksal des Menschen darin zu spiegeln. Die insgesamt 89 Titel mit den Originalfotogrammen und Ursprungsviragen wurden von der Filmhistorikerin Mireille Beaulieu im Archiv des Regisseur gefunden. 1998 entschlossen sich die Produktionsfirma Gaumont und das Centre National de la Cinématographie zur Restaurierung dieses frühen Meisterwerks.
Nolff, der Fischer, hat seiner Schutzpatronin, der See, Schweigen bis zum Tod und Meditation in der Einsamkeit gelobt. Seit einem Jahr lebt er in einer Felsgrotte, und keiner wagt sich zu ihm. Im Dorf verbreitet der Fischer Angst und Aberglauben. Nach dieser Exposition - ein Kreuz über den Felsen vor dem silbern glitzernden Meer verweist auf sein tragisches Schicksal – wird die Vorgeschichte in Form einer Rückblende erzählt. Seine Frau hat ihm nach der Tochter Djenna einen Sohn geboren, dessen Bestimmung Nolff als freier Mann der See sieht. Die Kinder wachsen unterschiedlich heran, und während das Mädchen der schwachen Mutter hilft, nutzt Michel die Liebe des Vaters aus, verweigert die Arbeit auf dem Boot, liegt verträumt am Felsen und liebt die Freuden der Stadt. Zum Osterfest will Nolff mit der Familie an Land, doch Michel lässt sich vom Freund Guenn-la-Taupe zum Kartenspiel im Gasthof verführen. In einer „Lasterhöhle“ gerät er unter Alkoholeinfluss in einen Streit um eine Animierdame und landet nach der beinahe tödlichen Verletzung eines Konkurrenten im Gefängnis. Der Vater löst Michel aus, aber nach dem Tod der Mutter bricht dessen Niedertracht erneut aus. Er entreißt der Schwester das Erbgeld und verletzt sie. Vom Vater am Meeresstrand gestellt, schwört Michel einen Meineid wegen der Herkunft des Geldes. Nolff schickt ihn gefesselt mit dem Boot aufs Meer hinaus. Djenna tritt als Novizin ins Kloster ein, während der Vater ein feierliches Gelübde ablegt, weil er sich gegen Gott und seinen Sohn versündigt hat. Monate später erhält Djenna einen Brief ihres Bruders, der besagt, das Meer habe ihm vergeben, und er lebe. Der Vater schwankt ob dieser Nachricht zwischen Freude und Wahnsinn. Vor dem unendlichen Meer wartend ruft er Michels Namen.
„L’homme du large“ basiert auf Honoré de Balzacs 1835 erstmals publizierter Novelle „Ein Drama am Meeresstrand“ und zeigt eine düstere, schwermütige Landschaft mit schroffen Felsküsten, weiten Horizonten und der Armut der Menschen. Antoine Duhamel (Jahrgang 1925) komponierte dazu eine neue Musik, die vom Symphonieorchester Moldawien unter Leitung von Leonardo Gasparini eingespielt wurde. L’Herbiers musikalische Struktur aufnehmend – der französische Filmhistoriker Georges Sadoul sprach von einer Sonatenform –, fügte er Zwischenspiele ein. Marcel L’Herbier favorisierte die Inszenierung von Raum, Dekor, Licht, Landschaften und Architektur. Die bretonische Küste erscheint dabei „als pathetische Dekoration der Gefühle“ (Viktor Sidler). Zu nennen ist insbesondere der visuell bestechende Ausdruck einer eigenständigen Filmästhetik, das Experiment mit den Möglichkeiten der Kamera, die Nähe zum Zeitdokument. Die Omnipräsenz der Landschaften, der Symbolismus der Personen und die Choreografie der Bildkaschierungen, die Unterteilung der Leinwand, die Gestaltung der Zwischentitel zeitigten einen großen Einfluss auf die Stummfilm-Avantgarde. Die Uraufführung fand am 30. Oktober 1920 in Paris statt. Der später von der Nouvelle vague als Kalligraph diskreditierte Regisseur verschrieb sich als großer Literatur- und Musikliebhaber seit „L’homme du large“ einem musikalischen Impressionismus. Er nutzte die Unschärfe ebenso wie lange und langsame Auf-, Ab- und Überblenden zur Steigerung der rhythmischen Schnittfolgen, zur dramaturgischen Spannung. Seine kinematografische Syntax zielte auf die Abkehr vom Theatralischen, auf die Annäherung an das Dokumentarische („Jeder reine Spielfilm soll einen Teil an Dokumentaraufnahmen aufweisen“) und eine medienspezifische Stilisierung. „Ich dachte, dass der Film sehr viel eher als irgendein anderes Kunstmittel in der Lage sei, diese Tragödie des Wartens zu zeigen. Die beiden Hauptfiguren, Vater und Sohn, sind während des gesamten Dramas in direkter und dauernder Beziehung zum Meer“, erklärte Marcel L’Herbier in einem Interview. Das Nachtblau des Ozeans, das Gewitterschwarz des Himmels, das sinnlich-fiebrige Rot, das Goldgelb und Erdbraun der leuchtenden Viragen geben einen guten Eindruck von der Urfassung des Films wieder. Das Porträt eines Landstrichs, das Schicksal der bretonischen Fischerfamilie, erinnert entfernt auch an „Maria do Mar“ (1930) des Portugiesen Leitão de Barros oder Luchino Viscontis „Die Erde bebt“ (fd 34 286).
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