Ihren „Namen“ verdankt Ash ihrer grauen Strähne im schwarzen, schulterlangen Haar. Der wirkliche Name und ihre Identität sind zweitrangig; wichtig ist nur das Kürzel zum „Einloggen“. Ash lebt in einer Gesellschaft, in der das Spielen Lebensinhalt und Broterwerb zugleich ist. Wer mittels seiner Hirnströme komplett ins Spiel eintauchen und sich erfolgreich durch die Levels kämpfen kann, genießt Ruhm und Ansehen und verfügt über einen hohen Lebensstandard. Ash geht es besser als dem Gros der Menschheit, sagt ein Mitspieler einmal. Die introvertierte Frau gehört zu den besten Kämpfern in Avalon. „Avalon“ ist gleichermaßen ein interaktives Computerspiel wie süchtigmachender Realitätsersatz. Auf den vernetzten Schlachtfeldern einer Wirklichkeit, die ebenso monochrom ist wie die Realität, kann man für Punkte töten, aber auch selber Schaden nehmen. Wer das verborgene Level „Special A“ erreichen will, kalkuliert die Gefahr mit ein, als psychisches Wrack im Sanatorium zu landen. Ashs Freund Murphy hat dieses Schicksal während eines Kampfeinsatzes“ erlitten, weshalb Ash sich seither keiner interaktiven Gruppe mehr angeschlossen hat. Doch um den mysteriösen Ghost in Kindergestalt und damit den Schlüssel ins verbotene Level zu finden, muss sich die Einzelkämpferin ein letztes Mal rüsten. Einer ihrer größten Konkurrenten, Bishop, bietet ihr kurz davor überraschend seine Hilfe an.
Mamoru Oshii wurde durch seine Arbeit als Autor und Regisseur von Animes („Ghost in the Shell“, fd 32 343) berühmt. In seinen ebenso schönen wie verstörenden Geschichten entführt er die Zuschauer in intellektuell extrem anspruchsvolle Märchenwelten. Für seinen ersten „Real“- Film verschlug es den Japaner jetzt nach Europa. Mit einheimischen Darstellern realisierte er in Polen für 8 Mio. Dollar eine höchst virtuose Cyberpunk- Variation. Darin verbindet der exzentrische Regisseur bestechende Computertricks mit einer archaischen, monochromen Optik, einer grandiosen Filmmusik von Kenji Kawai und einer betont fokusierten Inszenierung, die nicht selten an die Elegien Alexander Sokurows („Verborgene Seiten“, fd 31 160) erinnert. Ohne die üblichen Nebenstränge, die sich im Mainstream meist in Liebesgeschichten aufreiben, erzählt Oshii seinen visualisierten Albtraum aus der Sicht eines Menschen, der ebenso zwanghaft wie verzweifelt und einsam nach Grenzüberschreitung sucht.
„Avalon. Fernes sagenumwobenes Eiland blühender Apfelbäume. Von Nebeln umhüllt. Avalon. Wann kommt deine Zeit? Avalon. Insel der Feen. Heimstadt der Helden... Avalon. Ein Held besteigt ein Schiff. Und segelt übers Meer zu dem mythischen Eiland. Zu den Neun Schwestern und nach Avalon. Sie sind vereint. Auf der heiligen Insel. O Artus. Dein Schiff bringt dich sicher, über die nebligen Wasser nach Avalon.“ Diese gesungene Allegorie, die zu Beginn des Films als Teil des Scores und zum Finale sogar als regelrechtes Oratorium explizit in die Handlung integriert wird, ist nicht nur der Schlüssel für Ashs Reise; sie steht für den Entwicklungsprozess, den die Menschheit in „Avalon“ durchmachen muss. Oshii, der als Regisseur in „Ghost in the Shell“ und als Drehbuchautor in „Jin Roh“
(fd 35 130) mehr an existentiellen Fragen wie der Herkunft und dem Weg von Individuen und Maschinen interessiert war, stellt in „Avalon“ erstmals das Weltbild der Menschen in Frage. Unter den oberflächlichen Reizen seiner futuristischen Action-Geschichten findet sich auch in „Avalon“ ein philosophischer, mithin theologischer Diskurs. Wie im Computerspiel üblich, füttert er den zur Passivität gezwungenen Zuschauer mit Daten, die Ash stellvertretend auf ihrem Weg durch die verschiedenen Levels sammelt. Jene, die sich die Mühe machen, die Indizien zu kombinieren, zwingt Oshii, dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen: Nämlich der Möglichkeit, dass unsere Existenz im Kontext des großen Ganzen zwar nichtig erscheinen mag, dennoch aber das höchste Level ist, das wir jemals erreichen werden.