Drama | Iran/Kanada/Italien/Schweiz 2001 | 105 Minuten

Regie: Babak Payami

Als auf einer abgelegenen Insel im Persischen Golf die erste demokratische Wahl durchgeführt werden soll, prallen eine emanzipierte Wahlleiterin und ein dem alten System verpflichteter Wachsoldat aufeinander. Aber nicht nur die beiden Protagonisten tun sich schwer, sondern auch die Inselbewohner, deren festgefügte Gemeinschaften sich in der Abgeschiedenheit selbst genügen und im kleinen Kreis längst autonome "Regierungen" gebildet haben. Ein sich langsam entwickelnder, ausgesprochen leise daherkommender Film aus dem Iran, der in Panorama-Aufnahmen schwelgt und mit verhaltenem Humor den weltverbesserischen Anspruch der Wahlhelferin mit der Lebenswirklichkeit vor Ort abgleicht. Trotz aller Diskrepanzen und Spannungen überwiegen am Ende die versöhnlichen Töne. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RAYE MAKHFI | SECRET BALLOT
Produktionsland
Iran/Kanada/Italien/Schweiz
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Payam/Sharmshir/Fabrica/RAI/TSI
Regie
Babak Payami
Buch
Babak Payami
Kamera
Farzad Jadat
Musik
Michael Galasso
Schnitt
Babak Karimi
Darsteller
Nassim Abdi (Wahlleiterin) · Cyrus Abidi (Soldat) · Youssef Habashi · Farrokh Shojaii · Gholbahar Janghali
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Starre Panoramaeinstellungen entfalten ihre träge Schönheit, es dauert lange bis geschnitten, noch länger bis gesprochen wird. Mitten in der kargen Landschaft steht ein schmales Feld-Bett, im Hintergrund brandet das Meer gegen den Strand einer Insel irgendwo im Persischen Golf – Grenzgebiet vermutlich, zwei Soldaten wechseln sich ab mit Schlafen und Wache halten. Der Westen scheint weit weg, als eine Kiste an einem Fallschirm heruntergleitet, abgeworfen wie über Kriegsgebiet. In der Kiste befindet sich eine Wahlurne, und die Ankunft eines Wahlleiters wird angekündigt. Unterstützt und chauffiert vom diensthabenden Soldaten, soll er eine demokratische Wahl auf der Insel durchführen. Als dem Boot vom Festland eine Frau entsteigt, will der bäuerisch einfältige Soldat zunächst nicht wahrhaben, dass es sich bei ihr um die Wahlleiterin handelt. Die selbstbewusste und gebildete junge Frau lässt jedoch keinen Zweifel an ihrer Zuständigkeit aufkommen und pocht auf seinen Gehorsam. Beide bleiben im weiteren Verlauf namenlos und interessieren Babak Payami weniger als Personen denn als Typen. Häufig geht die Kamera in ihrer Darstellung auf Distanz, zeigt sie in Totalen und Panorama-Aufnahmen als Teile eines Ganzen und bettet sie so in ein soziales und politisches Umfeld ein, das in einem erheblichen Maße ihren Handlungsspielraum bestimmt. Wahlleiterin und Soldat trennt dabei mehr als die Geschlechtszugehörigkeit, sie repräsentieren zwei grundlegend unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe. Stehen Soldat und Gewehr für die militärisch diktatorische Verwaltung einer traditionellen Ordnung, verkörpert die politisch engagierte Frau mit Kopftuch den städtischen Fortschritt, den demokratischen, emanzipatorischen Aufbruch und die Vermischung islamischer Kultur mit einer säkularen, westlichen Weltanschauung.

Dieses Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, das Payami vertraut sein dürfte – nach einem Filmstudium in Toronto kehrte der Iraner 1998 in seine Heimat zurück –, bildet den allegorischen Faden in „Geheime Wahl“. Formal verknüpft er Elemente symbolistischer Strömungen des iranischen und asiatischen Kinos mit dem Erzählgestus europäischer und amerikanischer Avantgarde- und Kunstfilmer der 1980er-Jahre. Dem filmischen Mainstream scheint sich Payami hingegen mit einer Reihe selbstauferlegter „Dogmen“ (kein Kunstlicht, nur Originalschauplätze, ausschließlich – überzeugende – Laiendarsteller) programmatisch entziehen zu wollen; sein stilles fotografisches Beharren gestaltet dabei ein filmisches Gegenmodell zum turbulenten empathisch-voyeuristischen Sensationskino, dem es immer wieder gelingt, gemäldeartige Impressionen voll sinnlicher Schönheit und sinnbildlicher Aussagekraft entstehen zu lassen, das bisweilen aber auch in anstrengenden Formalismus abgleitet. Die durchgängig präsente Absurdität des Geschehens vermag die Steifheit der Gestaltung nur selten so treffsicher aufzulockern, wie bei der ersten Begegnung der Hauptfiguren mit einem potenziellen Wähler, den sie erst einfangen müssen, um ihn „freiwillig“ wählen zu lassen. Die Botschaft in dieser Szene ist deutlich: Der wählenden Bevölkerung fehlt das Vertrauen in die Regierung, sie ist auf die Demokratie nicht vorbereitet.

Dieser Umstand bestimmt die episodisch erzählte Reise der Wahlleiterin und des Soldaten. Bei jeder Station, an der sie Halt machen, wird ein neuer Aspekt des Widerspruchs zwischen dem naiven, weltverbesserischen Anspruch der Wahlleiterin und der Lebenswirklichkeit vor Ort beleuchtet. Viele der Inselbewohner leben in festgefügten patriarchalischen Gemeinschaften, die wenigsten Frauen können schreiben oder lesen, und längst nicht alle trauen sich zur Wahl. Das abstrakte Wahlrecht vermag sich gegen das konkrete Wahlverbot der Sippe nicht durchzusetzen. Kaum jemand kennt die Kandidaten, und die Grundprinzipien der Demokratie werden in Frage gestellt. Je länger die Reise geht, umso mehr entfernt sich die Wahlleiterin vom Einfluss der Außenwelt, umso tiefer dringt sie ein in abgeschlossene, archaische und wenigstens teilweise funktionierende Gesellschaften, bis sie selbst am Sinn ihrer Mission zweifelt und einräumt, dass zentrale Wahlen nicht nötig sind, wo längst im kleinen Kreise autonome „Regierungen“ gebildet wurden. Trotzdem mündet der Film nicht in der Ablehnung des Demokratisierungsprozesses als Ganzem; kritisiert wird lediglich die Rücksichts- und Gedankenlosigkeit seiner zentral geleiteten Umsetzung. Eine zwanghafte Einführung der Demokratie von außen, ohne dass zuvor die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, die lokalen Verhältnisse berücksichtigt werden und sie auf dem Willen der Bevölkerung basiert, das ist ebenso sinnvoll wie eine Ampel in der Wüste, die Payami zeigt. Eine zeitlang bleiben der Soldat und die Frau davor stehen, nur um sich ans Gesetz zu halten. Nach einer Weile aber fahren sie weiter, weil das Gesetz hier keinen Sinn macht.

„Geheime Wahl“ ist kein realistischer Film, behandelt keine eigentliche Wahl, kein Ereignis der Zeitgeschichte. Aber das Geheimnis, das im Grundprinzip der Wahl liegt, wird nicht immer sorgfältig gehütet. Ein wenig zu penetrant drängen die allgegenwärtigen Synekdochen und Metaphern nach ihrer Entschlüsselung. An ihrer politischen Brisanz verliert die groteske Allegorie dadurch jedoch nicht; löst man die Verweiskette aus einer globalen Perspektive auf, wird der Ort des Geschehens austauschbar und hinter der Zentralregierung lässt sich die Weltmacht USA erahnen. Eine Anklage ist der Film, der vor dem Irak-Krieg entstand, dennoch nicht. Am Ende überwiegen die versöhnlichen Töne. Nicht nur der Soldat und die Wahlhelferin kommen sich näher, sondern auch die Prinzipien, die sie repräsentieren.

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