Zwei spannende Überlieferungen aus der Produktion der "Staatlichen Filmdokumentation der DDR", in der zwischen 1971 und 1986 rund 300 zeitgeschichtliche Studien hergestellt wurden: "Das Haus" beobachtet Angestellte und Bittsteller des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, "Volkspolizei" Momente aus dem Alltag eines Ost-Berliner Polizeireviers nahe der Grenze zum Westen. Die einst zu Archiv- und Forschungszwecken gedrehten Filme erweisen sich als künstlerisch verdichtete Werke, die hautnah die abgrundtiefe Tristesse des realen Sozialismus zeigen, aber auch die Bemühungen des Räderwerks einer zunehmend unerträglich gewordenen Erziehungsdiktatur, jede private und gesellschaftliche Regung unter Kontrolle zu bekommen.
- Sehenswert ab 14.
Das Haus & Volkspolizei
- | DDR 1984 & 1985 | beide 60 Minuten
Regie: Thomas Heise
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Filmdaten
- Produktionsland
- DDR
- Produktionsjahr
- 1984 & 1985
- Produktionsfirma
- Staatliche Filmdokumentation der DDR
- Regie
- Thomas Heise
- Buch
- Thomas Heise
- Kamera
- Peter Badel
- Schnitt
- Gisela Tammert
- Länge
- beide 60 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
Diskussion
Wer die DDR wiederhaben wolle, möge sich bitte nur diese Filme anschauen, war unlängst in einer großen Berliner Tageszeitung zu lesen. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen: „Das Haus“ (1984) und „Volkspolizei“ (1985), zwei frühe Arbeiten von Thomas Heise, dokumentieren die abgrundtiefe Tristesse des realen Sozialismus ebenso wie die Bemühungen einer zunehmend unerträglich gewordenen Erziehungsdiktatur, jede private und gesellschaftliche Regung unter Kontrolle zu bekommen. „Das Haus“ führt in das so genannte Berolina-Haus, den Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte, und zeigt Gespräche zwischen Angestellten und Bürgern in Abteilungen wie Soziales, Wohnungspolitik und Inneres; „Volkspolizei“ skizziert den Alltag in einem Polizeirevier in der Bernauer Straße, ebenfalls in Ost-Berlin, ein Bezirk, der sich unmittelbar an der Grenze zum Westen befand.
Heise und sein hochsensibler Kameramann Peter Badel befleißigten sich dabei keinerlei Aufsehen erregender Kunstgriffe. Sie zeigten das Leben „pur“, veristisch und in Augenhöhe: meist halbnah, mit weitgehend unbewegter Kamera, man gestattete sich bestenfalls einen vorsichtigen Zoom auf Gesichter. Die Gefilmten sollten schnell vergessen, dass ihre Gespräche aufgenommen wurden; noch besser: Sie sollten es vielleicht gar nicht erst registrieren. So sieht man in „Das Haus“ eine junge Frau, die um Beihilfe für die Einschulung ihres Kindes bittet, oder Wohnungssuchende, die von den staatlichen Maßregelungen sichtlich die Nase voll haben oder vor Verzweiflung in Tränen ausbrechen. Eine nur von Gelegenheitsarbeit lebende Frau hofft, eine Genehmigung zum Einzug in die Wohnung ihrer Mutter zu erhalten. Doch deren vier Wände liegen im Grenzgebiet; außerdem hat die Bittstellerin einen Liebhaber aus Stuttgart: Wer weiß denn schon, was aus all dem werden könnte? Sowohl Arbeitslosigkeit in der DDR als auch die Tatsache von Sondergenehmigungen fürs Ost-Berliner Grenzgebiet kamen in anderen ostdeutschen Filmdokumenten niemals vor: „Das Haus“, aber auch „Volkspolizei“ – u.a. mit dem Treppenstreit zweier lesbischer Frauen – nahm sich also bewusst Tabu-Themen an.
Dass das überhaupt möglich war, hing mit Auftraggeber und Verwendungszweck dieser Filme zusammen: Beide entstanden für die „Staatliche Filmdokumentation der DDR“, eine Abteilung des Staatlichen Filmarchivs, die zwischen 1971 und 1986 existierte und deren Wirken bis dato weitgehend unbekannt geblieben ist. Maßgeblich von Wolfgang Klaue, dem damaligen Direktor des Staatlichen Filmarchivs und heutigen Vorstand der DEFA-Stiftung initiiert, wurden in diesem Rahmen – also außerhalb der DEFA! – rund 300 schwarz-weiße 16mm-Produktionen gedreht, ein großer Teil davon Zeitzeugengespräche, darüber hinaus aber auch Dokumentationen zum „gewöhnlichen“ Alltag in der DDR. Der Themenplan war frei gewählt. In den dafür entwickelten Konzeptionen wurde zwar nicht expressis verbis festgestellt, dass sich die Staatliche Filmdokumentation darum zu kümmern habe, Leerstellen des „audiovisuellen Gedächtnisses“ in der DDR zu füllen – also Dinge aufzugreifen, die in den DEFA-Studios und im DDR-Fernsehen nicht beachtet wurden oder beachtet werden durften –, aber den meisten Beteiligten war diese Aufgabe durchaus bewusst. Die so gedrehten Dokumente wurden sofort nach ihrer Fertigstellung in die Sammlung des Staatlichen Filmarchivs aufgenommen. Wichtig zu wissen ist, dass der Auftraggeber von vornherein keine Premiere oder sonstige öffentliche Aufführung vorsah: Die Arbeiten der Staatlichen Filmdokumentation, bei denen sich die filmischen Gestaltungsmittel auf ein Minimum reduzierten, galten als Rohmaterial für künftige künstlerische oder publizistische Dokumentationen, als visuelle Zeugnisse von Besonderheiten oder Persönlichkeiten der DDR für die Forschung. Auch Regisseure, die nicht zur zehnköpfigen, fest angestellten Arbeitsgruppe des Filmarchivs gehörten, und die, vornehmlich in den 80er-Jahren, als Gäste für die Staatliche Filmdokumentation tätig waren, wussten das. Deshalb ist im Grunde genommen auch der Begriff Zensur falsch: Weder Heises noch andere Produktionen wurden im herkömmlichen Sinne „auf Eis gelegt“ oder „in den Giftschrank gesperrt“.
Öffentliche Aufführungen von Filmen der Staatlichen Filmdokumentation fanden, wenn überhaupt, nur selten statt, das erste Mal im Oktober 1979 beim 2. Nationalen Dokumentarfilmfestival der DDR in Neubrandenburg, als vier zwischen 20 und 30 Minuten lange, unkommentierte Arbeiten aus der Produktionsreihe „Lebensbedingungen sozialer Gruppen in der DDR“ gezeigt wurden, darunter „Rentnerwohnung“, „Hausmüll“ und „Schornsteinfeger“. Die Resonanz war einerseits äußerst positiv – andererseits wurden sofort Stimmen laut, die forderten, auch diese bis dahin eher unbeobachtet laufende „Nischenproduktion“ nun den strengen Abnahmeprozeduren durch das Ministerium für Kultur, Hauptverwaltung Film, zu unterwerfen. Das hatte es bis dahin nicht gegeben; die Abnahme war einzig durch die Leitung des Staatlichen Filmarchivs erfolgt, die der offensichtlichen Bedrohung ihres Freiraums nun auch dadurch einen Riegel vorschob, indem sie auf weitere Präsentationen weitgehend verzichtete. Öffentliche Vorführungen waren aber auch deshalb schwierig, weil das Material nur zweistreifig eingelagert wurde: Bild und Ton getrennt. Entsprechende Projektoren waren in der DDR selten; gelegentlich stellte die Akademie der Künste ihre Vorführapparatur zur Verfügung. Im Übrigen gelang es der Staatlichen Filmdokumentation selbst für interne Zwecke nicht, bestimmte Themen durchzuboxen: So war es unmöglich, den Arbeitstag von Politbüromitgliedern der SED ebenso zu skizzieren wie die negativen Auswirkungen der Grenzöffnung zu Polen – Schmuggelgeschäfte, Schwarzmärkte etc. – zu beobachten. Untersagt wurde auch, mit der Kamera zu zeigen, wie sich westalliierte Soldaten und Offiziere in Ost-Berlin bewegen. Neben den Filmen von Thomas Heise ragen heute vor allem die Arbeiten von Thomas Grimm (u.a. „Christ und Keramiker“, „Jürgen Kuczynski“, „Umsiedler ‘45“) und Hans Wintgen („Gespräch über Leben und Tod“) aus den Überlieferungen der Staatlichen Filmdokumentation heraus: auch das ein entdeckenswertes Material!
Richtig ist allerdings auch: „Das Haus“ und „Volkspolizei“, die für ihre Aufführung jetzt tonlich restauriert wurden, unterscheiden sich von vielen anderen Produktionen der Staatlichen Filmdokumentation dadurch, dass Thomas Heise die Gelegenheit nutzte, nicht bloß relativ ungeschnittenes Rohmaterial zu liefern, sondern eigenständige Filme zu montieren. Das beginnt bei „Das Haus“ schon mit der Ouvertüre: Zu sehen sind, bevor die Kamera mit dem Paternoster nach oben, in die einzelnen Etagen fährt, unter anderem der Alexanderplatz im Regen und eine Überwachungskamera auf dem Dach des Gebäudes. Aus den Dialogen zwischen städtischen Angestellten und ihren Besuchern werden markante Sätze durch Inserts herausgehoben: „Ihre Sache wird im Auge behalten“ oder „Kann ich schon ausradieren.“ Diese Zwischentitel – auch die an George Orwell gemahnende Sentenz: „So, heute haben wir 1984“ – machen deutlich, wie sehr die so genannte Bürgerberatung zum negativen Ritual erstarrt war, wie sehr die Mängelwirtschaft zu Abstumpfung und Flucht in Floskeln führte. „Wir haben nichts, wir können nichts geben“, sagt die Wohnungsvermittlerin, und: „Ihre Tochter ist nicht im Plan. Mein Plan ist Gesetz, und den hab’ ich zu erfüllen.“ Jeder Bittsteller ein lästiger Mensch, den abzuwimmeln zur eigentlichen Tagesaufgabe wurde. Ans Ende von „Das Haus“ setzte Heise eine triste Trauung, bei der die Standesbeamtin das junge Eheglück in ihrer Rede an den Weltfrieden koppelt und Erich Honecker überlebengroß von der Wand auf das Paar herabblickt; am Schluss von „Volkspolizei“ reden zwei Schüler darüber, warum sie unbedingt Polizisten werden wollen – nachdem eine Stunde lang gezeigt wurde, wie sehr deren Alltag vom Ideal spannender Verbrecherjagden entfernt ist. Nicht ganz uninteressant wäre zweifellos, die damals meist zwischen 20- und 30-jährigen Streifendienstler, die im Übrigen fast allesamt aus der Provinz nach Berlin herangeschafft und bevorzugt mit Wohnungen versorgt (!) wurden, heute noch einmal zu befragen: Was ist aus den einstigen treuen Dienern des Staates DDR geworden? Wie hat sich, sollten sie noch immer für „Recht und Gesetz“ zuständig sein, ihr Berufsalltag eigentlich verändert?
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