Nanni Moretti auf Achse: Fuhr er in „Liebes Tagebuch“ (fd 30 867) vorzugsweise mit dem Motorroller durch Rom, joggt er diesmal am Hafen von Ancona entlang, um Abstand zu den Dingen zu gewinnen. Weniger zu den politischen als zu den psychologischen Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen, denn Moretti spielt einen Psychoanalytiker namens Giovanni. Mit unendlicher Geduld hört er seinen Patienten zu, wie sie ihm ihre kleinen und großen Leiden vortragen. Zu Hause ist er liebender Ehemann und Vater zweier Kinder, ein ruhender Pol scheinbar ohne besondere Bedürfnisse. Diese gelassene Sichtweise auf die Welt gibt auch den Ton des Films vor: Aus jeder Szene atmet das Leben mit seinen alltäglichen Anforderungen, aber auch mit dem selbstverständlichen Glück, das es bieten kann – bis eines Tages der Sohn bei einem Tauchunfall stirbt. Von diesem Tag an gerät die Welt der Familie aus den Fugen. Vorher eine scheinbar unteilbare Einheit, ist sie nicht nur nicht mehr vollständig, sie zerbricht auch zusehends weiter. Paola, Giovannis Frau, geht auf Distanz, die Tochter treibt es aus dem Haus, und Giovanni selbst kehrt in sich: Wäre er doch an jenem Tag nicht zu einem Patienten gefahren und stattdessen bei Andrea geblieben wie ursprünglich geplant! So gibt er sich selbst die Schuld, ein wenig aber auch jenem Patienten, der ihm weiterhin ungerührt sein Herz ausschüttet. Das Rennen vom Anfang wird nun zu einer Metapher dafür, immer am richtigen Ort sein zu wollen – ein unmögliches Unterfangen. Moretti, der subtil-ironische, politisch engagierte und manisch-autobiographisch arbeitende Komiker des heutigen italienischen Kinos hat einen sehr ernsten Film gedreht, der all die kluge Lebenserfahrung und Menschenbeobachtung zusammen zu fassen scheint, die Moretti in seinen bisherigen Filmen gezeigt hat. Das macht bei aller Traurigkeit der Handlung die Schönheit und Erhabenheit des Films aus. Schon die Exposition, die ohne dramatische Ereignisse auskommt, ist von erstaunlich beiläufig dargestellter psychologischer Dichte. Aber selbst der Riss, der nach dem Tod des Sohnes durch die Familie geht, breitet sich nur langsam aus. Die Gespräche werden einsilbig, man geht sich aus dem Weg, blickt sich nicht mehr in die Augen: Kein „zusammen sind wir stark“, stattdessen will oder muss jeder allein zurecht kommen. Morettis Inszenierungsstil ist noch weit nüchterner als bisher, er meidet Kunststücke und Stilisierungen, aber auch zeitgemäße Accessoires wie etwa Handys. Das geht so weit, dass er, anstatt die Trauerfeier zu zelebrieren, minutenlang zeigt, wie die Schrauben in den Sarg des Sohnes gedreht werden – und Giovanni schaut diesem Weg allen Fleisches regungslos zu. Nur manchmal gibt es Einschübe, bei denen sich Moretti ganz offensichtlich an seinem Vorbild und Freund Kieslowski orientiert: etwa die Rückblenden oder auch der Tagtraum, den Giovanni angesichts des Zimmers seines Sohnes darüber hegt, wie jener schicksalhafte Tag anders hätte verlaufen können. Schicksal – das erklärt der Psychoanalytiker Giovanni seinen Patienten als etwas, das sich nicht ändern lässt. Aber der Vater Giovanni folgt seinen eigenen Rat nicht, hadert mit sich selbst und ist außer Stande, mit seiner Trauer zurecht zu kommen. So konterkarieren die Szenen in der Arztpraxis das Geschehen: die Anamnesen der Patienten wirken wie Kommentare zum Zustand Giovannis und seines Lebens. Die Befreiung muss in einem Fall wie diesem von außen kommen, und sie kommt, in Gestalt eines Mädchens, das Andrea einmal kennen gelernt hat und deren jüngster Brief ihn nach seinem Tod erreicht. Daraufhin nimmt die Mutter Kontakt auf und bringt das Mädchen dazu, sie zu besuchen. Das Leben des Sohnes ersteht noch einmal vor ihren Augen auf, und die Eltern sehen eine Aufgabe darin, dem Mädchen den Wunsch zu erfüllen, Richtung Frankreich auf die Autobahn gebracht zu werden. Wenn die Zeit stillzustehen droht, ist es Zeit für einen Aufbruch.