Bedrängnis im Mai

Drama | Türkei 1999 | 130 Minuten

Regie: Nuri Bilge Ceylan

Ein türkischer Filmemacher besucht seine Eltern in einer anatolischen Kleinstadt, um sie als Darsteller für seinen neuen Film zu gewinnen. Obwohl diese wenig begeistert sind, beginnen einige Woche später die Dreharbeiten, womit es um die ländliche Ruhe geschehen ist. Kontemplatives Meisterwerk, dessen visueller Reichtum ebenso wie seine formale Brillanz ganz im Dienst einer sinnlich erfahrbaren Präsenz steht. Dabei huldigt der Film keiner melancholischen Metaphysik, sondern übt sich in schelmischer Gelassenheit. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MAYIS SIKINTISI
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
NBC Ajans
Regie
Nuri Bilge Ceylan
Buch
Nuri Bilge Ceylan
Kamera
Nuri Bilge Ceylan
Schnitt
Ayhan Ergürsel · Nuri Bilge Ceylan
Darsteller
Emin Ceylan (Emin) · Muzaffer Özdemir (Muzaffer) · Fatma Ceylan (Fatma) · Emin Toprak (Saffet) · Muhammed Zimbaoglu (Ali)
Länge
130 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
In Deutschland assoziiert man mit türkischem Kino hauptsächlich geistlos-sentimentale Unterhaltungsware, wie sie neuerdings dem Immigrantenpublikum verstärkt zugänglich gemacht wird. Dabei vermag der eine oder andere Film aus der osmanischen No-Brainer-Factory durchaus zu überraschen, vor allem, wenn er Politisches thematisiert oder sich kritisch mit den autoritären Strukturen des Landes auseinandersetzt. Dass es neben Kommerz (und den verblassten Erinnerungen an Yilmaz Güney) noch andere kulturelle Traditionen gibt, konnten bislang allenfalls Festivalbesucher registrieren. Diesen wird auch seit dem Film „Uzak“, prämiert mit dem Jury-Preis in Cannes 2003, der Name Nuri Bilge Ceylan geläufig sein; schon vier Jahre zuvor hatte der 1959 in Istanbul geborene Auteur für „Bedrängnis im Mai“ den FIPRESCIPreis bei der „Berlinale“ erhalten, was im Getriebe der Filmwirtschaft freilich so gut wie nie einen Mehrwert darstellt. Die Zurückhaltung der deutschen Verleiher liegt wohl auch in der Eigenart von Ceylans Kino begründet, das sich der reinsten Form filmischer Kontemplation verschrieben hat: betörend schön, fast schmerzhaft sinnlich, aber nahezu ohne Handlung und Dialoge, dafür voller impliziter Anspielungen, Verweise und Reflexionen. Entsprechend unspektakulär liest sich „Bedrängnis im Mai“: Ein mittelloser Regisseur aus Istanbul besucht für einige Tage seine Eltern in einer anatolischen Kleinstadt, weil er sie für die Mitarbeit an einem neuen Film überreden will. Die Eltern sind davon wenig begeistert. Muzaffer aber macht Probeaufnahmen, sucht Drehorte und schlägt die Zeit tot. Dann verschwindet er, ohne dass seine Abwesenheit einen spürbaren Nachhall hinterlassen würde. Wochen später taucht er mit einem Assistenten und etwas Equipment im Schlepptau erneut auf – die Dreharbeiten beginnen. Nun ist es mit der ländliche Ruhe vorbei, weil sich der Regisseur als Perfektionist entpuppt. Das Ergebnis seiner Unnachgiebigkeit ist augenfällig, ohne dass dies erst umständlich über die Handlung explizit gemacht werden müsste: der visuelle Reichtum von „Bedrängnis im Mai“ spiegelt sich darin – wie wohl auch jedes andere Detail der „Handlung“ als „Film im Film“ seine Entsprechung hat – bis zur autobiografischen Ebene: die Hauptdarsteller sind Ceylans wirkliche Eltern, der Ausschnitt aus einem früheren Film, mit dem die (Film-)Eltern zur Mitarbeit bewogen werden sollen, stammt aus Ceylans Debütfilm „Kasaba“ (1998) – und alle Übergänge sind so gestaltet, dass sie eine fortlaufende Erzählung ergeben.

Wenn man so will, gleicht „Bedrängnis im Mai“ einem Moebius-Band, in dem Innen und Außen, Fiktion und Wirklichkeit, (Film-)Produktion und Rezeption nahtlos ineinander übergehen. Das Erstaunlichste ist, dass sich dieses Tor ins celyansche Film-Universum selbst zu transzendieren scheint: Der filmische „Apparat“ und die hohe (Bild-)Kunst des Regisseurs treten zurück, um einer unmittelbaren Gegenwart Platz zu machen. Der Zuschauer befindet sich quasi mitten im Film, dessen lange, ruhige Einstellungen und extrem ausgefeilte Tonspur eine aktive Rezeption ebenso verlangen wie ermöglichen. Selbst die gestochen scharfe Textur der Bilder, ihre meisterhafte Kadrierung und der unauffällige Schnitt dienen primär einer kontemplativen Aufmerksamkeit, die sich der Motive der Figuren, ihrer Eigenheiten wie Begrenztheiten versichern soll.

Dabei bleibt kaum verborgen, dass jede der männlichen Hauptfiguren (Frauen spielen allenfalls am Rande eine Rolle) nur mit sich selbst beschäftigt ist: Der Regisseur denkt nur an seinen Film, der Vater ist ausschließlich auf die Auseinandersetzungen um ein Wäldchen fixiert, ein Jugendfreund erhofft sich von den Dreharbeiten die Chance, den Weg nach Istanbul zu finden, und selbst der kleine Ali hütet wochenlang ein rohes Hühnerei wie seinen Augapfel, weil ihm eine Tante zu einer Uhr verhelfen will, wenn er das Ei unbeschädigt 40 Tage lang mit sich tragen kann. Jede dieser „Manien“ ist ebenso menschlich verständlich wie in einem größeren Kontext verrückt bis widersinnig, weil sie die Kommunikation untereinander massiv einschränkt: Alle reden aneinander vorbei, ohne dass dies freilich den Alltag nachhaltig beeinflussen würde. Die Gelassenheit, mit der Nuri Bilge Ceylan sich selbst und die Welt um sich porträtiert, temperiert auch die kulturkritischen Anklänge des Films: Die Hektik und der Lärm der Moderne dringen nur von Ferne ins ländliche Idyll, in dem man Hähne und Esel, Vögel und den Donner, aber keine Maschinen hört. Der Film beschreibt dennoch keine Utopie, was schon im Titel anklingt; dieser bezieht sich auf eine Redewendung des Vaters als Ausdruck der Sorgen um seinen Besitzstand, was auf der Bild- und Erzählebene mit einer allmählichen Zunahme von Schatten, Gegenlicht und nächtlichen Szenen korrespondiert. Am Ende „stirbt“ der Vater, weil er den entscheidenden Tag, an dem die Landvermesser sein Wäldchen kartografieren, mit seinem Sohn am Meer verbrachte. Die minutenlange Schlussszene zeigt ihn nach durchwachter Nacht an einem Baum sitzend, wie er dem Sonnenaufgang entgehen schaut. Dabei bricht sein Blick, den die Kamera im Gegenschuss aufgreift, fortführt, vielleicht auch milde korrigiert: indem sie durch die dunklen Bäumen den Horizont erspäht und dem Naturschauspiel folgt, bis sie vom Weiß des Lichtes „geblendet“ wird.

Ob der Vater wirklich tot oder nur mit offenen Augen eingeschlafen ist, bleibt ebenso eine Frage der Interpretation wie die Ausdeutung vieler parabelhafter oder metaphorischer Elemente. Das macht eine gewisse Vagheit von Ceylans Kino aus – aber auch seine Größe, weil sich hier eine originäre filmische Vision kundtut, in der die Dimension der Zeit eine entscheidende Rolle spielt. Unübersehbar sind die Einflüsse der kontemplativen Meister des Kinos (Dreyer, Bresson, Tarkowskij) zu spüren, obwohl Ceylan kein Jünger melancholischer Metaphysik ist. Der schelmische Zug um den Mund Muzaffers, seine Ruhe, aber auch die Freude an kindlichen Gedankenspielen darf man getrost auch für Nuri Bilge Ceylan unterstellen, der seine Hauptfigur immer wieder ins Freie führt, wo sie mit wachen Sinnen in die Ferne schaut und auf eine Eingebung hofft. Mit ihr stellt er auch den Zuschauer in die raffiniert gestaffelte Filmlandschaft, in eine inszenierte Gegenwart, die sich sinnlich-akustisch und mit den Augen auskosten lässt, aber nicht von Dauer ist: Sie kennt den Augenblick, den man ergreifen oder verpassen kann, und vor allem auch ein Ende, selbst wenn dieses nicht schwermütig-düster, sondern blendend- hell in Szene gesetzt ist.

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