Marie-Line

- | Frankreich 2000 | 100 Minuten

Regie: Mehdi Charef

Eine Französin um die 40, Mitglied der rechtsradikalen Front National, leitet eine aus illegalen Einwanderinnen bestehende Putzkolonne eines Supermarkts in einem Pariser Vorort, kümmert sich aber auch jenseits der Arbeit um "ihre" Frauen. Sozialstudie über den Zustand der französischen Gesellschaft in den unteren Schichten, getragen von einer großartigen Hauptdarstellerin. Die zahlreichen sozialkritischen Themen des Films von Ausländerfeindlichkeit, Unterbezahlung, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz bis zum Eskapismus mit Schlagern und einer Emanzipationsgeschichte werden indes überdeutlich herausgestellt und rauben sich gegenseitig ihre Wirkung. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MARIE-LINE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
La Chauve-Souris/Le Studio Conal +/La Sofica Sofinergie 5/Le Centre National de la Cinématografie/Le Fonds d'Action Scoiale/Canal +
Regie
Mehdi Charef
Buch
Mehdi Charef
Kamera
Alain Levent
Musik
Bernardo Sandoval
Schnitt
Kenout Peltier
Darsteller
Muriel Robin (Marie-Line) · Fejria Deliba (Meriem) · Valérie Stroh (Bergere) · Yan Epstein (Léonard) · Gilles Treton (Paul)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Im Jahr 1985 drehte der Algerier Mehdi Charef „Tee im Harem des Archimedes“ (fd 25 354), den Schlüsselfilm des „Cinema beur“, jenes Genres, das sich der Probleme der in Frankreich geborenen Maghrebiner annimmt. Charefs Film handelte von gesellschaftlichen Zuständen in Frankreich, die nicht tragbar, aber schwer zu ändern sind; dem französischen Kino gab er einen gewaltigen Schub in Richtung Sozialkritik. 15 Jahre später sieht es in der Realität nicht besser aus: Nicht nur die Emigranten, auch die Franzosen aus der Unterschicht müssen täglich ums Überleben kämpfen. Von ihren täglichen Schreckenserlebnissen und ihren bescheidenen Träumen erzählt „Marie-Line“. Der neue Mikrokosmos, in dem Charef das Spiegelbild des sozialen Übels ansiedelt, ist die nächtliche Putztruppe eines Supermarkts in der tristen Pariser Vorstadt Corbeil. Deren Chefin ist Marie-Line, eine Frau um die 40, mit verbittertem Gesicht, strengem Blick und oft harschem Tonfall, wenn sie ihre Untergebenen durch den Laden scheucht. Die Frauen sind vorwiegend junge illegale Einwanderinnen, die für Dumpingpreise arbeiten und manchmal nicht mal ein Dach über dem Kopf haben. Eine von ihnen lässt Marie-Line später sogar im Keller übernachten, die anderen holt sie jeden Abend mit dem Transporter ab und fährt sie auch wieder zurück. So hat sie die Kontrolle darüber, dass alle da sind – und sie schart eine Art Ersatzfamilie um sich, die ihr lieber ist als die eigene. Ihr Mann, Mitglied der rechtsradikalen Front National, ist ein schlimmer Macho, die Tochter mit ihrem Baby sitzt nur herum und lässt sich bedienen. Kaum ist Marie-Line zuhause, wird sie genauso herumgescheucht wie sie vorher ihre Putzfrauen kommandierte. Lichtblick in ihrem tristen Leben ist der französische Sänger Joe Dassin (1938-80) mit seinen locker-flockigen, eskapistischen Schlagern, die sie in eine andere Welt entführen – wenn sie als Dassin verkleidet auf der Bühne steht und singt, aber auch wenn sie in ihrem Kellerraum sitzt, der als Fan-Büro geschmückt ist, und Briefe anderer Fans beantwortet. Der Film ist voller Dassin-Songs, von „Si tu t’appelles mélancholie“ bis L’été indien“ „L’Amérique“ und „Ça va pas changer le monde“, deren Textzeilen die wahren Gefühle Marie-Lines hinter der harten Fassade illustrieren. Warum sie sich so hart gibt, wird schnell klar: Wäre sie nicht auch der Front National beigetreten, hätte sie den Job nicht bekommen; hätte sie nicht den sexuellen Avancen des Supermarkt-Leiters nachgegeben, wäre sie nicht Chefin geworden und es nicht geblieben. Aber auch jüngere und hübschere Frauen ihrer Putzkolonne schlafen mit dem Filialleiter, damit sie ihren Job behalten und eine kleine Zulage bekommen. Marie-Linie weiß es und sagt nichts. Sie sagt auch nichts, als sie eine Putzfrau beim Stehlen erwischt. Vor allem hilft sie ihren Frauen, den immer wieder unangemeldet nachts auftauchenden Beamten der Ausländerbehörde zu entwischen. Als doch eine verhaftet wird – nicht im Supermarkt, sondern zuhause –, schafft es Marie-Line gerade noch rechtzeitig, den zwei kleinen Kindern die Hand vor den Mund zu halten, damit sie nicht entdeckt und nach Afrika abgeschoben werden. Fortan nimmt sie sich der Kinder an – und sie wird immer stärker, wächst über sich hinaus und beginnt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie sagt dem Filialleiter die Meinung, schafft es, ihre Tochter samt Kind aus dem Haus zu drängen und sich von ihrem Ehemann zu befreien. Was genau im Mittelpunkt des Films steht, ist schwer zu sagen: die Probleme der illegalen Einwanderer ohne Papiere, das Beispiel eines typischen Leichtlohn-Sektors für ungelernte Frauen, das Leben in der Provinz zwischen Notunterkünften und sozialen Wohnungsbau, die angesichts des Einflusses der Rechtsradikalen gestiegene Ausländerfeindlichkeit, Eskapismus und Emanzipation einer Französin aus der Unterschicht, eine Hommage an Joe Dassin? Charef hat ein bisschen zu viele Aspekte hineingepackt, obwohl sich vieles so oder so ähnlich tatsächlich in Frankreich abspielt. Es ist ein Manko, dass der Film trotz aller überdeutlich inszenierten Sozialkritik letztlich ein klassischer Schauspielerfilm ist: Es gibt nur wenige Szenen, in denen die Kamera nicht Marie-Line einfängt. Muriel Robin verkörpert Marie-Line mit einer so ungeheuren Kraft und Natürlichkeit, dass es in erster Linie ihr Film wurde und ihr den großen Durchbruch ermöglichte. Sie machte Marie-Line zu einer der wenigen Unterschicht-Heldinnen des französischen Kinos machte. Ihre Präsenz ist wie ein Song von Joe Dassin, und sie allein tröstet über die Schwächen und Zwiespältigkeiten von Drehbuch und Regie hinweg.
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