Azzurro (2000)

- | Schweiz/Italien/Frankreich 2000 | 85 Minuten

Regie: Denis Rabaglia

Ein italienischer Großvater reist mit seiner erblindeten Enkelin in die Schweiz, wo er 30 Jahre lang als Gastarbeiter lebte. Mit der finanziellen Unterstützung seines ehemaligen Arbeitsgebers will er ihr eine teure Augenoperation ermöglichen. Dabei wird er ebenso mit den drastischen Veränderungen der reichen Eidgenossenschaft konfrontiert wie mit seiner eigenen unausgesöhnten Vergangenheit. Filmmärchen mit ausgeprägtem Sozialtouch, das seine sentimentale Note selbstbewusst herausstellt und die Würde des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Lakonischer Witz und ein tiefer Glaube an die Menschlichkeit kennzeichnen den von einem überragenden Hauptdarsteller getragenen Film, der seine Geschichte ebenso poetisch wie wahrhaftig erzählt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
AZZURRO
Produktionsland
Schweiz/Italien/Frankreich
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
C-Films/TSI/Gam Films/Machinassou/Athena Film/PCT Cinema & Television/Technovisual
Regie
Denis Rabaglia
Buch
Luca de Benedittis · Antoine Jaccoud · Denis Rabaglia
Kamera
Dominique Grosz
Musik
Louis Crelier
Schnitt
Claudio di Mauro
Darsteller
Paolo Villaggio (Guiseppe De Metrio) · Francesca Pipoli (Carla De Metrio) · Marie-Christine Barrault (Elizabeth Broyer) · Jean-Luc Bideau (Gaston Broyer) · Renato Scarpa (Giorgio)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Es war einmal ein Regisseur, der ließ seinem fulminanten Erstling sieben Jahre lang (leider) keinen zweiten Film folgen. Als er sich dann endlich doch dazu aufraffte, hatte er (glücklicherweise) nichts verlernt. Denis Rabaglia heißt jener virtuose Erzähler, der es sich leisten kann, seine Geschichten bis an den Rand der Geschmacksentgleisung zu führen, ohne dabei zu verunglücken. Im Falle von „Grossesse nerveuse“ („Wer kriegt hier ein Baby?“, 1993) gelang ihm eine überdrehte und doch erschreckend realitätsnahe Groteske über den zeitgenössischen „Way of Life“, eine schrille Variante des Märchens vom verpassten Leben. Nun kommt „Azzurro“: sein zweiter Film, sentimental, altmodisch, unverbesserlich humanistisch und doch nicht verlogen oder rührselig. Dessen Hautfigur Giuseppe De Metrio hat 30 Jahre seines Lebens in der Schweiz geschuftet, damit es seiner Familie, die er in Italien zurückließ, einmal besser gehe. Jetzt ist er zwar in die gelobte Heimat zurückgekehrt, doch seinen Lebensabend kann er nicht genießen. Er ist ein herzkranker Witwer mit Haus am Meer, der zwar nicht schlecht lebt, aber doch nicht genug besitzt, um seiner blinden Enkelin Carla eine teure Augenoperation bezahlen zu können. Ein Herzinfarkt wird für Giuseppe zum Signal: Kurzentschlossen reist er mit Carla in Richtung Genf. Dort lebt sein alter Patron, bei dem er noch ein Versprechen offen hat. Damals, als Monsieur Broyer seinem Vorarbeiter Giuseppe die Erfindung eines Bodenbelages für ein Trinkgeld abgekauft und daraus ein Vermögen machte, hatte Broyer ihm versprochen, dass er immer für ihn da seine werde. Wie ist es denn sei in der Schweiz, will Carla auf der Reise wissen. Ein gastfreundliches Land, in dem alles sauber ist, die Menschen pünktlich sind und alles wie am Schnürchen klappt, schwärmt Giuseppe. Doch als sie endlich dort angekommen sind, fressen Telefon und Taxi das wenige Geld in Windeseile auf; wo es einst „Plat de jour” gab, herrschen nun deprimierender Mief und Fast Food ; und die Baufirma Broyer steht kurz vor dem Konkurs. So schön wie in Giuseppes Erinnerungen war die Schweiz zwar nie, doch so schäbig wie in der Gegenwart wohl auch nicht. Und Monsieur Broyer, der rettende Engel? Der übt im Nervensanatorium Spielzeugschlachten und verdrängt im Offiziersrock die glorreiche Vergangenheit, während seine Frau Elizabeth einsam vor sich hin altert und sich sein einziger Sohn Pascal mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält. Im dem Moment, in dem ihm Broyers mit absurd großartiger Geste das inzwischen wertlose Patent überreicht, ist Giuseppes vollkommen desillusioniert. Doch wie immer im Märchen wächst dort, wo großes Unglück herrscht, auch eine unverwüstliche Hoffnung – was in diesem Fall bedeutet, dass Freundschaft mehr wert ist als leere Worte und nostalgische Erinnerungen. Wer Märchen nicht mag und im Kino partout Realistik erwartet oder Tränen für ein Zeichen sentimentaler Schwäche hält, der sei vor „Azzurro“ gewarnt, weil dieser Film Gefühle weckt. Wer hingegen Vittorio de Sica und Frank Capra immer noch für große Regisseure hält, der wird Rabaglia für dieses liebenswürdige und vitale Lebenszeichen eines humanistischen Kinos dankbar sein. Zuzuschreiben ist dies einem Drehbuch und einer Regie, die wesentlich vielschichtiger sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Carlas Augenoperation dient lediglich als Katalysator für eine vielschichtige Parabel. Das eigentliche Zentrum ist Giuseppe, der von Paolo Villaggio grandios und berührend zugleich verkörpert wird. Ihm müssen endlich die Augen aufgehen für seine eigene Lebensgeschichte, eine Geschichte verpasster Chancen. In Italien konnte er nicht leben, weil er in der Schweiz Geld verdienen musste. So sind ihm Sohn und Tochter fremd geblieben; verwandt zwar, aber nicht vertraut. In der Schweiz dagegen erlaubte er es sich nicht, zu leben, weil nur die Heimat zählte, ein Phantom in der Ferne, dem er alles opferte, auch die Liebe und seine Würde als Arbeiter und Mensch. Dass dennoch eine tiefe Verbindung besteht zwischen Italien und der Schweiz, verdrängte Giuseppe immer als peinliche Tragik, als beschämendes Geheimnis; erst durch Carla entdeckt er einen Weg, seine beiden verpassten Leben miteinander auszusöhnen. Wie es sich für ein gutes Märchen gehört, ist „Azzurro“ reich an Metaphern und Symbolen, aber auf eher unauffällige Art. Die eigentliche Stärke des Films liegt genau in jenen Geschichten, von denen er scheinbar nur nebenbei erzählt. Beispielsweise von der Not eines Gastarbeiters dessen Leiden an der Heimatlosigkeit meist unsichtbar, oft sogar unspürbar bleibt, was ihn erst recht zum idealen Objekt der Ausbeutung werden lässt. Dass dieses Märchen mit skizzenhafter Andeutung, lakonischem Humor und gelegentlich auch scharfem Witz erzählt wird, macht es erst erträglich, auch wenn es, wie man seit Capra weiß, irgendwann automatisch die Tränen in die Augen treibt. Mit dem Film verhält es sich wie mit dem titelgebenden Schlager „Azzurro“: ein sentimentaler Schmachtfetzen zwar, aber halt doch herzzerreißend schön und irgendwie wahrhaftig.
Kommentar verfassen

Kommentieren