Der Krieger und die Kaiserin

Drama | Deutschland 2000 | 135 Minuten

Regie: Tom Tykwer

Bei einem Verkehrsunfall wird eine junge Krankenschwester, die in einer psychiatrischen Anstalt arbeitet, von einem mysteriösen Mann gerettet, der danach spurlos verschwindet. Nach ihrer Genesung macht sie sich auf die Suche nach dem Fremden, der selbst an den Folgen eines schweren Schicksalsschlags leidet und gemeinsam mit seinem älteren Bruder einen Banküberfall plant. Märchenhaftes Drama, in dessen betörendem Bilderfluss Raum und Zeit mehrfach aufgehoben werden. Spiel, Illusion und magische Momente erweisen sich dabei als autonome Größen im Koordinationssystem von Zufall und Schicksal. Eine faszinierende filmische Entdeckung der Langsamkeit, die in der urbanen Architektur Wuppertals ein reizvolles Sinnbild entdeckt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
X Filme Creative Pool
Regie
Tom Tykwer
Buch
Tom Tykwer
Kamera
Frank Griebe
Musik
Tom Tykwer · Johnny Klimek · Reinhold Heil
Schnitt
Mathilde Bonnefoy
Darsteller
Franka Potente (Sissi) · Benno Fürmann (Bodo) · Joachim Król (Walter) · Lars Rudolph (Steini) · Melchior Beslon (Otto)
Länge
135 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Liebesfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die umfangreiche Special Edition (2 DVDs) beinhaltet u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs, des Kameramanns und der Cutterin Mathilde Bonnefoy, ein Feature mit nicht verwendeten Szenen, mehrere Dokumentationen zum Film generell und zu Teilaspekten, ein Storyboard/Film-Vergleich sowie einen DVD-Rom-Part mit dem kompletten Drehbuch.

Verleih DVD
Warner (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt., DTS dt.)
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Diskussion
Einmal mehr betreibt Tom Tykwer ein Spiel mit der Zeit, begibt sich auf die magische Suche nach dem Geheimnis und den Prinzipien des Schicksals, das die Menschen zusammen bringt und ihrem Leben jene entscheidende Wende gibt, die da Liebe heißt. Die Komponenten sind erneut die Zeit und der Zufall, der doch eigentlich nur eine fiktive Größe ist und den es gar nicht gibt, weil letztlich nichts wirklich zufällig geschieht. Wenn die Menschen vom Zufall sprechen, dann drücken sie damit lediglich ihre Ungläubigkeit aus - und ihre mangelnde Bereitschaft, ihr Schicksal anzunehmen und zu verstehen. War „Lola rennt“ (fd 33 256) die rasant entwickelte Spekulation über drei Möglichkeiten, die sich aus ein und derselben Grundkonstellation ergeben, so ist „Der Krieger und die Kaiserin“ zwar eine nicht minder inspirierende Versuchsanordnung in Sachen Leben und Liebe, aus der aber nur noch ein einziger (Aus-)Weg erwächst – und dies mit einer äußerst faszinierenden radikalen Konsequenz, wie sie vielleicht nur in der gedanklichen und visuellen Konstruktion des Kinos möglich ist. Dabei vermittelt sich dank der Suggestion aus Bildern und Klängen ein solch hohes Maß an (philosophischer) Wahrheit, dass die Grenzen zwischen Utopie und „wirklichem“ Zustand völlig irrelevant werden. Ganze 50 Minuten länger als „Lola rennt“ ist dieser neue Film Tykwers, und bereits dieses rein äußerliche Kriterium verweist auf einen ganz anderen narrativen Rhythmus; tatsächlich ist „Der Krieger und die Kaiserin“ eine Art Entdeckung der Langsamkeit, ja der Trägheit des Seins, aus der die beiden Titelgestalten aus ganz unterschiedlichen Gründen emportauchen, um sich selbst und den jeweils anderen zu finden und zu verstehen. Wie zwei Kometen auf ein und derselben Umlaufbahn bewegen sich Sissi, die „Kaiserin“, und Bodo, der „Krieger“ auf einander zu, um den Kosmos ihres Daseins nach ihrer Begegnung neu zu ordnen.

„Irgendwo da draußen wartet die Liebe“, lautet das Motto des Films, und dieses „da draußen“ suggeriert die Skepsis, ja die Angst gegenüber einer äußeren Welt, die Tykwers empfindsamen Gestalten physische wie seelische Wunden schlägt. „Kann man draußen glücklich werden?“, lautet eine Frage irgendwann im Film. Folgerichtig hat sich Simone, die von allen nur Sissi genannt wird, als Krankenschwester ihr Leben in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt in Wuppertal eingerichtet, wobei sie ihren Kolleginnen wie den überwiegend männlichen Patienten eine Art Lichtgestalt ist: sanft, duldsam und doch seltsam unbeholfen, fremd gegenüber sich und ihrem Leben, nimmt ihnen Sissi Arbeit und Sehnsüchte ab, selbstlos „dienend“ und doch immer mitten im Kraftzentrum stehend. Auf den Straßen Wuppertals wird sie Opfer eines Autounfalls: Ein monströser roter LKW überrollt sie, sie droht zu sterben. „Die Luft kam nicht wieder“, wird sich Sissi erinnern. „Dafür kam dieser Mann.“ Dieser Mann ist Bodo, den der schockierende Unfalltod seiner Frau, an dem er sich schuldig fühlt, aus der Bahn geworfen hat. Zu Beginn des Films scheint er sich von einer Autobahnbrücke stürzen zu wollen, doch einem enttäuschten Kind sagt er, dass er sich erst noch warm mache; er werde schon noch fliegen, demnächst. Das ist so dahin gesagt, eine Floskel, aber durchaus mit prophetischem Kern, wie sich zeigen wird. Auch an Sissis Unfall ist Bodo nicht schuldlos, jetzt aber wird er ihr Lebensretter in einer ebenso bizarren wie „intimen“ Szene unter dem LKW: Er schneidet ihr ein Loch in die Luftröhre, in das er einen simplen Plastikstrohhalm steckt und ihr so die Möglichkeit gibt, wieder zu atmen. 53 Tage später wird Sissi geheilt aus dem Krankenhaus entlassen; dass sie überlebt hat, hält der Arzt für ein Wunder, doch das eigentliche Wunder für sie ist Bodo, der nach seiner Rettungstat verschwunden ist. Beharrlich sucht ihn Sissi, taucht ebenso auf- wie eindringlich in sein Leben ein, das ihn auf die schiefe Bahn zu führen droht. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Walter will Bodo eine Bank ausrauben, was freilich weniger als krimineller Akt erscheint als verzweifelter letzter Versuch, ihrer beider Leben eine Wende zu geben. Ab sofort verzahnen sich die Ereignisse wie Glieder einer Kette; nichts scheint den fatalen Gang der Dinge aufhalten zu können – bis in fast auswegloser Situation Sissi Bodo an die Hand nimmt und mit ihm in die Tiefe springt.

Tykwer lässt dem Betrachter unendlich viel Zeit, während des scheinbar endlos in Zeitlupe zerdehnten Sprungs darüber nachzudenken, was denn wohl danach noch geschehen könnte. Bislang folgte man einem faszinierenden und betörenden Bilderfluss, in dem Raum und Zeit mehrfach aufgehoben, Töne, Klänge und Bilder wie die berühmten russischen Holzpuppen ineinander geschachtelt wurden. Manche schwebende Kamerafahrt mag dabei etwas zu viel des Guten gewesen sein, wie auch die mannigfaltigen Ereignisse zwischen Psychiatrie, Rififi-Coup und verdrängter Vergangenheit die Konstruktion zu überfrachten drohten – doch über all dem hinweg funktioniert Tykwers eklektischer Bildersog ausgesprochen gut und lädt zu einer filmischen Reise ein, die man ob ihrer Kunstfertigkeit ebenso wie ihrer metaphysischen Durchdringung nur bestaunen und bewundern kann. Bereits die Einleitung, wenn aus der Ferne ein Brief seinen schicksalhaften Weg bis zu Sissi nach Wuppertal findet, schlägt in ihren Bann (und erinnert, nicht nur handwerklich, an die Eröffnungsszene aus Fritz Langs unterschätztem Meisterwerk „Vor dem neuen Tag“, fd 2174); und wenn Sissi den Brief ihrer Freundin beantwortet und ihren Unfall quasi als Rückblende erzählt, dann taucht die Kamera mittels perfekter Digitaltricks in die labyrinthischen Windungen einer Muschel ein, um sich danach ganz Sissis subjektiver Wahrnehmung von Tönen, vor allem aber der absoluten Stille unterzuordnen. Spätestens in dieser virtuosen Sequenz erschließt sich das Programm des Films, erweisen sich Tykwers Motivkomplexe Spiel, Illusion und Magie als autonome Größen im Koordinatensystem aus Zufall und Schicksal. Fast schon genussvoll mag man sich da auf das magische Ende des Films einlassen, wenn sich die Kaiserin und der Krieger endgültig von ihren „Geistern“ lösen und Bodo sich wortwörtlich selbst gegenübertritt. Hat man bislang immer wieder an die filmischen Fabeln Krzysztof Kieslowskis denken müssen, grüßt hier Cocteaus „Orphée“ (fd 881): Wie dort hat auch hier der Zuschauer gemeinsam mit Sissi und Bodo ein Reich der Imagination und des Todes durchschritten, um am Ende eines faszinierenden labyrinthischen Spiels zu neuen Ufern aufzubrechen. Dass diese im Übrigen nicht hinter irgend einer gesichtslosen urbanen Klischeekulisse aufscheinen, bedeutet ein ganz besonderes Faszinosum: Tykwers „Baukunst“ der Gefühle fügt sich adäquat in die vielgestaltige Architektur der Stadt Wuppertal.
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