Dokumentarfilm | Deutschland 1991 | 87 Minuten

Regie: Thomas Heise

Dokumentarfilm über vier junge Erwachsene aus der ehemaligen DDR, die als unangepaßte Jugendliche (1981) Schwierigkeiten mit Staat, Gesellschaft und Familien bekamen und in Alkohol und Drogen flüchteten. Ein teilweise erschütterndes Dokument verfahrener Lebenswege, das die Lieblosigkeit einer Gesellschaft anprangert, deren Alltag in krassem Gegensatz zum idealisierten Menschenbild stand. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
DEFA/NDR
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Sebastian Richter
Musik
Tilo Paulukat · Neil Young
Schnitt
Karin Schöning
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Eigentlich hätte der Film "Die Kinder der ersten sozialistischen Stadt" heißen und bereits 1981 fertiggestellt werden sollen. Damals suchte Thomas Heise die Freunde Mario, Tilo, Frank und Karsten in Eisenhüttenstadt (früher Stalinstadt) auf, um einen Film über Jugendliche in der DDR zu drehen. Doch das Projekt wurde aus Gründen der Staatsdisziplin gestoppt. Eigentlich verständlich aus Sicht der Oberen der DDR, denn Heise hatte seine Arbeit Randexistenzen im real existierenden Sozialismus, frustrierten, rebellischen, alkoholabhängigen Jugendlichen, gewidmet.

Zehn Jahre später - nach dem Fall der Mauer und der Wende - fragt der Dokumentarfilmer nach und dokumentiert einen Trümmerhaufen. Mario und Tilo sind - nach Entzug und Psychiatrie - tot, Selbstmord durch Erhängen; Frank, von Drogenerfahrungen geprägt, lebt irgendwie weiter und verzehrt sich vor Haß über den (Stasi-)Vater; nur Karsten hat es irgendwie geschafft, lebt eher zufrieden in Westdeutschland; er kommt kaum vor in Heises Film.

Immer wieder reflektiert Heise die Eindrücke von 1981, stellt Jugendliche ohne Zukunft vor, die sich in Alkohol und Drogen flüchten und verbotene West-Musik hören (die elegischen Balladen von Neil Young), um den Zwängen zu entfliehen. Er läßt Freunde, Geschwister und Eltern der vier Freunde zu Wort kommen, deren Leben so irreparabel auseinanderdriftete, und zeigt scheinbar unüberbrückbare Klüfte auf. Haß, Verachtung, Selbsthaß, Selbstverachtung, so kann der Teufelskreis beschrieben werden; gewiß kein Lobgesang auf das sozialistische Menschenbild, gewiß kein lebenswertes Leben. Als "Sklaven der Situation" bezeichnet Frank sich und seine Freunde und auf diesen Determinismus schwört Heise seinen Film ein. Tristess bestimmt das Bild, die Menschen berichten hilflos von der Vergangenheit, hängen verpaßten (Karriere-)Chancen nach; leere, verwahrloste Räume stehen für leere, verwahrloste Seelen.

Gerade weil sich Heise eines moralisierenden Kommentars enthält, stimmt sein Film traurig. Hier wird keine Wirklichkeit arrangiert, sondern werden die Umstände dokumentiert. Dabei entsteht (teils posthum) das Porträt vierer sensibler, verletzbarer Menschen, die selbst denken und nicht gedacht werden wollten. Vier Kinder der ersten sozialistischen Stadt, die als Jugendliche schon verloren waren und entweder die tragische Konsequenz zogen oder sich irgendwie mit einem verfahrenen Leben arrangierten.

Ein filmisch schlichtes, auf schäbigem Material aufgenommenes aufrüttelndes Dokument aus einem Teil Deutschlands, der zwar näher gerückt, aber dennoch fern geblieben ist. Ein quälendes Zeitdokument, das, an Einzelfällen festgemacht, auf die Spitze eines Eisbergs hinweist: Das Erbe der Geschichte wird eben erst nach und nach sichtbar. Die letzte Einstellung zeigt eine Schneelandschaft; Neil Young singt seinen traurigen Song "Mother Nature", Eiseskälte herrscht vor, das Leben scheint eingefroren.
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