Filmessay | Italien/Frankreich 1998 | 78 Minuten

Regie: Nanni Moretti

Nanni Moretti begleitet sein eigenes Leben mit der Kamera und inszeniert sich vor ihr selbst: Er bündelt private und politische Ereignisse der letzten Jahre zu einem radikal subjektiven Tagebuch, das zugleich persönliche und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegelt und deren Korrespondenz offenlegt. Ins Zentrum der Reflexionen rückt dabei die Geburt seines Kindes, dessen Zukunft er aus den Geschehnissen der Gegenwart abzuleiten versucht. "Aprile" ist weder Spiel- noch Dokumentarfilm, sondern ein Essay, das mit einem eigenen, unverwechselbaren Stil aus Wortkaskaden und metaphorischen Bildern die Verstrickungen, Nöte und Ausbruchsversuche eines Intellektuellen darstellt, der sich unablässig an der Wirklichkeit reibt. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
APRILE
Produktionsland
Italien/Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Sacher Film/Bac Films/Le Studio Canal +/La Sept Cinéma/Rai/Canal +
Regie
Nanni Moretti
Buch
Nanni Moretti
Kamera
Giuseppe Lanci
Musik
Perez Prado · u.a.
Schnitt
Angelo Nicolini
Darsteller
Nanni Moretti · Silvio Orlando · Silvia Nono · Pietro Moretti · Agata Apicella Moretti
Länge
78 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Filmessay
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Diskussion
Am 28. März 1994 stellte Nanni Moretti eine Kamera ins Wohnzimmer seiner Mutter und filmte sich und die alte Dame bei der Fernsehübertragung der Wahlergebnisse. Damals gewann die Rechtskoalition unter Silvio Berlusconi, und angesichts des jovial lächelnden Siegers rauchte Moretti den ersten Joint seines Lebens. Was aus diesen Szenen werden würde, wußte der Regisseur damals noch nicht genau. Jetzt stehen sie am Beginn seines neuen Films und geben dessen Ton an: In „Aprile“ bündelt Moretti intime und politische Ereignisse der letzten Jahre zu einem radikal subjektiven Tagebuch, das zugleich private und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegelt. Moretti untersucht, wie sich das politische Klima seines Landes auf sein eigenes Befinden niederschlägt; er findet nicht nur Bilder für die vielbeschworene Korrespondenz von Sein und Bewußtsein, sondern auch von Sein und Herz oder Magen. Zugleich beschreibt er die Verschiebungen von Interessenslagen: Als ihm ein Kind geboren wird, ist ihm das zunächst wichtiger als alles politische Engagement – was nicht verhindert, daß die gesellschaftliche Entwicklung schon wenig später wieder seine Gedanken okkupiert: Wie wird es der nächsten Generation in dieser von Krisen geschüttelten Welt ergehen?

„Aprile“ ist weder Spiel- noch Dokumentarfilm; die Mischform, die Moretti schon für „Liebes Tagebuch“ (fd 30 867) gefunden hatte, läßt sich am ehesten als Essay definieren. Dem entspricht auch der unterhaltsame, pointierte Kommentar, mit dem der Regisseur die Szenen aus dem Off begleitet. Moretti konterkariert ironisch seine eigene Selbstinszenierung, ohne jemals vergessen zu lassen, daß sein Kamerablick immer etwas mit Selbsttherapie zu tun hat: Es geht ihm um das Ausleuchten einer Sinnkrise, den produktiven Umgang mit psychischen Lähmungserscheinungen. Das Interesse, das „Aprile“ unter italienischen Intellektuellen hervorrief, deutet darauf hin, daß diese Sinnkrise durchaus keine Marotte des Regisseurs ist, sondern weite Teile seiner Generation erfaßt. Moretti scheint sich und den anderen Betroffenen mitteilen zu wollen, daß es keinen Weg heraus aus diesem Dilemma gibt, sondern nur ein Leben in und mit ihm.

Wie präsentiert sich Nanni Moretti? Als zerstreuten, unablässig schwadronierenden Intellektuellen, der wie ein Besessener in die ihn umgebende Realität eintaucht. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, fällt schwer; an einem Thema festzuhalten, erweist sich als unmöglich. Der Aufforderung eines französischen Journalisten, er solle einen Dokumentarfilm über gesellschaftliche Entwicklungen drehen, gleichsam als Gedächtnis der Nation, findet Moretti zwar hervorragend und fängt auch sofort damit an, aber bis zum Schneidetisch führen dann nur noch Umwege. Zwölf Monate später arbeitet er an einem Spielfilm, einem grotesken 50er-Jahre-Musical. Doch schon am ersten Drehtag verkündet der Regisseur selbst das Aus: Er glaubt zu wissen, daß er den Film niemals schaffen würde. Ein Lebenswerk scheint auch die Sammlung von Zeitungsausschnitten zu sein, zu allen möglichen Themen, die ihn ständig wütend machten. Ein zwanghafter Trieb, dem er am Schluß des Films abschwört – er fährt mit seiner Vespa durch die Stadt und wirft die Artikel in hohem Bogen weg. Der radikale Akt hatte seinen Grund. Kurz zuvor hatte ihm ein Freund an Hand eines Bandmaßes vorgeführt, wieviel Leben er noch vor sich haben könnte: ein verdammt kurzes Stück. Ins Zentrum aller Aufmerksamkeit rückt die Geburt des Kindes, die im April stattfindet (was dem Film den Titel gab). Auch hier erweist sich Moretti als jene quirlige Nervensäge, die stets am Rande des Chaos tänzelt: Am Küchentisch wird das große Namen-Rätsel veranstaltet, das Schuhsortiment für Babys avanciert für Minuten zur zentralen Daseinsfrage. Vom Gang des Krankenhauses schließlich telefoniert er pausenlos mit Verwandten und Bekannten, denen er jedes Detail der Geburt mitteilt, weil er selbst vor Aufregung bersten würde, wenn er schweigen müßte. Dann braust der glückliche Vater auf der Vespa davon, und Freunde gratulieren ihm aus einem Auto heraus, bezogen allerdings auf den Wahlsieg der Linken – während er die Arme hochreißt und vor allem seinen Sohn meint. Das ist zweifellos die schönste Szene des Films: Hier befindet sich der Held, und sei es nur für Augenblicke, im ungetrübten Glückszustand.

Monate zuvor hatte Moretti seine hochschwangere Frau Silvia mit ins Kino genommen: Das Kind, so sein Plan, solle sich schon im Buch der Mutter an gute Bildqualität und an perfekten Klang gewöhnen. Das Ergebnis wirkt allerdings frustrierend; Was habe er dem Embryo für einen Schwachsinn zugemutet, fragt sich der werdende Vater nach der Vorstellung von Kathryn Bigelows „Strange Days“ (fd 31 767). Der selbstironische Gestus dieser Sequenz korrespondiert mit jener latenten Verunsicherung, die Moretti mit dem ganzen Film an die Zuschauer weitergibt: In welches Universum wird eigentlich das Kind geboren? Wie nah sind uns Schrecken und Chaos? Hat die Realität nicht längst die cineastischen Menetekel eingeholt? Was zum Beispiel wird sein, wenn sich die Autonomiebestrebungen norditalienischer Politiker durchsetzen, die im Film die „Unabhängigkeit von Padanien“ verkünden? Und welcher Zukunft steuern wir entgegen, wenn plötzlich eine Welt in den eigenen Alltag einbricht, die man fern wähnte und gern aus den Gedanken verbannte? Zu den Bildern des Schiffes, das im Frühjahr 1997 Tausende bettelarmer Albaner an die italienische Küste brachte, fällt selbst Moretti kein Wort mehr ein, nur ein trauriges Klaviermotiv – der stillste, nachdenklichste Moretti in „Aprile“. Überhaupt sind es vor allem Bilder, die sich, zu Metaphern geronnen, in der Erinnerung festhaken: Die dokumentare Aufnahme einer antifaschistischen Demonstration, bei der nichts weiter zu sehen ist als Regenschirme; der Held, der seinen Körper in Bahnen mit aufgeklebten Zeitungsausschnitten einwickelt; oder die Vision eines Auftritts im Londoner Hyde Park, unter lauter seltsamen Rednern, die alle von Obsessionen getrieben sind. Zu den witzigsten Einfällen Morettis gehört eine Sequenz, in der man zunächst nur sein Gesicht sieht; aus seinem Mund kommen Wortfetzen, die sich zu abstrusen Sätzen formen. Nach einem Schnitt entlarvt sich der vermeintliche Schwachsinn: Der Regisseur steht vor einem Zeitungskiosk und nennt die Titel aller Zeitschriften, die er vor sich erblickt. Aus einer Fülle solcher spielerischen, oft skurrilen und grotesken Partikel setzt sich ein Film zusammen, der nichts geringeres spiegeln will als die moderne Welt: „Aprile“ läßt uns teilhaben an der Krise eines Mannes – und unseres Planeten. Ganz privat und hochpolitisch.
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