Drama | Japan/USA/Deutschland/Frankreich 1997 | 99 Minuten

Regie: Wayne Wang

Ein englischer Journalist, der seit 15 Jahren in Hongkong lebt, versucht im Jahr 1997, kurz vor der Übernahme der Stadt durch Rotchina, die Befindlichkeit ihrer Bewohner mittels seiner Videokamera zu ergründen. Doch er stößt dabei nur auf unbequeme Wahrheiten oder auf Lügen: Die junge Chinesin, die er seit Jahren unglücklich liebt, verbirgt ihre wahre Geschichte ebenso vor ihm wie eine junge Frau, die er auf der Straße anspricht. Gefühle werden verschleiert oder verdrängt, in Hongkong zählt nur das Geschäft, das auch auf Kosten der Freiheit weiter betrieben wird. So stellt der Regisseur, der selbst Amerikaner chinesischer Herkunft ist, das Hongkong der Gegenwart dar. Der improvisatorische Stil von Kamera und Darstellung verdeutlichen den Zustand der Orientierungslosigkeit; neben drastischen metaphorischen Szenen stehen solche voller Zärtlichkeit, die aber nur flüchtig bleiben können. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CHINESE BOX
Produktionsland
Japan/USA/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
BAC Film/WW Prod./NDF/Canal +
Regie
Wayne Wang
Buch
Jean-Claude Carrière · Larry Gross
Kamera
Vilko Filac
Musik
Graeme Revell
Schnitt
Christopher Tellefsen
Darsteller
Jeremy Irons (John) · Gong Li (Vivian) · Maggie Cheung (Jean) · Rubén Blades (Jim) · Michael Hui (Chang)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Seit jeher zeigt Wayne Wang, Amerikaner chinesischer Herkunft, in seinen Filmen eine breite Palette dessen, was Einwanderer in einer fremden Kultur alles erleben können, vorzugsweise Chinesen in Amerika. Oft fließt Komik in seine Geschichten ein, doch letztlich erweist sich das Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen eher als Neben- denn als Miteinander. In hinreißend leichtgängiger Weise hat Wang zuletzt in seiner Paul-Auster-Verfilmung „Smoke“ (fd 31 577) Komik und Tragik, das Epische und das Episodische des multikulturellen Daseins in Brooklyn zueinandergeführt. „Chinese Box“ ist nicht weniger schillernd besetzt als „Smoke“ und ebenso spannend – doch ungleich trauriger. Der Fremde ist in diesem Fall ein Engländer namens John, und seine neue Heimat ist Hongkong, das kurz vor der Übernahme durch Rotchina steht. Obwohl John hier bereits 15 Jahre als Journalist verbracht hat, gilt er für die Einheimischen noch immer als „fremder Teufel“. Nie verläßt er die kleine, schäbige Wohnung ohne seine Video-Handkamera: zum einen, um der Flüchtigkeit der Stadt seine eigenen Bilder entgegenzuhalten, zum anderen, um einzufangen, was die Chinesen in dieser historischen Stunde bewegt. Aber anstelle von Antworten stößt er nur auf unbequeme Wahrheiten – oder Lügen. Vivian, die Exil-Chinesin, die er seit Jahren unglücklich liebt, liebt nicht nur einen anderen – einen Geschäftsmann, der sie angesichts ihrer Heiratswünsche immer wieder vertröstet – , sie stellt sich auch als ehemalige Edel-Prostituierte heraus. Eine andere junge Frau, die er auf der Straße anspricht, weil sie ihm interessant erscheint, tischt ihm ein Märchen anstelle einer Lebensgeschichte auf. John verliert zusehends den Überblick und die Kontrolle, erst recht, als ihm der Arzt nur noch ein halbes Jahr zu leben gibt – etwa so lange, wie Hongkong noch britisch sein wird.

„Hongkong ist Pompeji“, sagt John einmal zu seinem Freund Jim, einem Herumtreiber, der sich bei ihm eingenistet hat. So wie einst die Pompeijaner im Übermaß untergingen, noch bevor der Vesuv sie zudeckte, so zerfleischen sich demnach die Bewohner Hongkongs selbst, auch ohne das Zutun Pekings. Immer wieder sind Szenen lebendig gekochter und zerschnittener Fische zu sehen, ein Hund auf einem Laufrad – und Chinesen, die vor allem in Ruhe ihren Geschäften nachgehen wollen, um jeden Preis, selbst um den ihrer Freiheit. Neben derart drastischen Bildern zeigt Wang auch Szenen voller Traurigkeit und Zuneigung – die aber so flüchtig bleiben wie alles, was in Hongkong nichts mit Geschäften zu tun hat. Die Orientierungslosigkeit findet bei Wang ihren Ausdruck in einem improvisatorischen Stil, den Emir Kusturicas ehemaliger Lichtsetzer Vilko Filac mittels fast ausschließlichen Gebrauchs der Handkamera erreichte und der sich auch auf das Spiel der Darsteller übertrug. Die „Komplexität der Gefühle“ angesichts des historischen Umbruchs in der Stadt wollte Wang zeigen, an Hand der vier Individuen, um die sich sein Film dreht. Zusammen mit den Drehbuchautoren Jean-Claude Carrière – seit Jahrzehnten eine feste Größe im europäischen Kino – und Larry Gross, der mehrere Filme für Walter Hill geschrieben hat, entwarf er eher einzelne, vielsagende Szenen als eine lineare Story; als Inspiration dienten eine Kurzgeschichte von Rachel Ingalls sowie eine Anekdote, die Carrière einst mit einem liebestrunkenen Luis Buñuel erlebt hat. Da wird man erst mit überraschenden Darstellungen des Lebens in der Metropole konfrontiert und im nächsten Moment mit dem Gefühlsausbruch eines der Protagonisten. Wangs besondere Kunst ist es, die allgemeine Verwirrung der Gefühle sowie die Auflösung der bisherigen sozialen und politischen Verhältnisse in Beziehung zueinander zu setzen, die Abhängigkeit der Lebensumstände des einzelnen von großen politischen Entscheidungen spürbar zu machen. Der Umbruch fordert seine Opfer, gerade unter denjenigen, die ihn lieber ignorieren würden.
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