Vergiß nicht, daß du sterben mußt

Drama | Frankreich 1995 | 118 Minuten

Regie: Xavier Beauvois

Ein Student der Kunstgeschichte wird durch die Diagnose, daß er HIV-positiv ist, aus der Bahn geworfen. Er läßt sich treiben und führt ein exzessives, selbstzerstörerisches Leben, bis er in Italien mit seinen früheren Lebensinhalten konfrontiert wird. Ein diskussionswerter Film, der aber in seinen gesellschaftlichen Bezügen in Schieflage gerät und durch seine vielen Symbole und manche eher abgenutzte Assoziationen übers Ziel hinausschießt. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
N'OUBLIE PAS QUE TU VAS MOURIR
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Why Not Prod./AFCL/La Sept Cinéma/Péripheria
Regie
Xavier Beauvois
Buch
Xavier Beauvois · Anne-Marie Sauzeau · Emmanuel Salinger · Zoubir Tligui
Kamera
Caroline Champetier · Julie Hirsch · Laurent Hincelin
Musik
John Cale
Schnitt
Agnès Guillemot
Darsteller
Xavier Beauvois (Benoît) · Roschdy Zem (Omar) · Chiara Mastroianni (Claudia) · Bulle Ogier (Benoîts Mutter) · Emmanuel Salinger
Länge
118 Minuten
Kinostart
-
Genre
Drama
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Diskussion
Benoît, Student der Kunstgeschichte, arbeitet an seiner Doktorarbeit und knüpft erste berufliche Kontakte, als er unerwartet zum Militärdienst einberufen wird. Ohne in Frankreich die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung zu haben, heckt er mit seinen Freunden Pläne aus, wie er dem Wehrdienst entrinnen kann. Gegen den anfänglichen Widerstand seiner Eltern beschließt er, einen Psychiater zu Rate zu ziehen, um dann vollgepumpt mit Psychopharmaka zur Musterung zu erscheinen und, als die Militärs sein depressives Verhalten für eine Simulation halten, sogar einen Selbstmordversuch vorzutäuschen. Bei den medizinischen Untersuchungen stellt sich heraus, daß er HIV-positiv ist: ein Schock mit unumkehrbaren Folgen, der ihn völlig aus der Bahn wirft. Apathisch läßt er sich von einem Tag zum nächsten treiben, scheut jegliche Auseinandersetzung mit der tödlichen Krankheit, so daß er weder in der Lage ist, fachlichen Beistand zu suchen noch sich in seiner Verzweiflung jemandem mitzuteilen. Als er wegen eines Bagatelldelikts in Verwahrung genommen wird und in der Polizeihaft den drogenabhängigen Omar – lebensecht verkörpert von Roschdy Zem („Haben (oder nicht)“, fd 32 323) – kennenlernt, gerät er in ein ihm fremdes soziales Milieu, versucht sich als Drogenkurier und macht seine ersten homosexuellen Erfahrungen. Benoît begreift allmählich, daß er niemals derselbe sein wird wie früher. Vergleichbar den romantischen Helden, die ihn in seinem bisherigen Leben fasziniert haben, stürzt er sich in einen exaltierten Sinnestaumel, berauscht von Drogen- und Sexexzessen inmitten von Menschen, die sozialen Randgruppen angehören und ihrer trostlosen Existenz zu entfliehen versuchen. Omar, in diesen Gefilden bestens bewandert, wird zu seinem Führer auf einer Initiationsreise voll Selbstvergessenheit und Selbstverneinung, einer Höllenfahrt durch einen Tunnel des Schreckens. Am Ende steht kontrapunktisch ein Trip in das lichte Renaissance-Italien, zu jenen Kunstwerken, die einmal Benoîts Lebensinhalt waren, und wo er Claudia begegnet, die in ihm Hoffnung auf ein neues Leben weckt.

Als der junge Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Xavier Beauvois nach seinem vielbeachteten Spielfilmdebüt „Nord“ (1992) für „N’oublie pas que tu vas mourir“ in Cannes 1995 den Preis der Jury erhielt, führte man diese Entscheidung auf die konjunkturelle Pointe des Films zurück. Denn der konflikt- und lebensscheue Benoît, der Claudia in dem Moment zurückläßt, als die Offenlegung seiner determinierten Lebenslage nicht mehr hinauszuzögern ist, meldet sich als Söldner zum Sterben an die Front im bosnischen Bürgerkrieg. Ein ebenso überraschender wie spekulativer Schluß, der eine Parallele zwischen der AIDS-Seuche und dem massenhaften Sterben in der ausweglosen Kriegssituation des Jahres 1995 nahelegt. Bosnien erscheint hier als ein zeitgenössischer Indikator für eine Todessehnsucht, die sich bereits im Titel des Films, einer Paraphrase des katholischen Memento mori, andeutet. Beauvois’ direkter Bezug auf die zeitgeschichtlichen Desaster unseres Fin de siècle folgt aber einem Sammelsurium abgenutzter Assoziationen, die neben der allzu offensichtlich bemühten Todes- und Vanitas-Symbolik vor allem die romantische Ästhetik strapazieren, wenn Benoîts Verzweiflungstat in Anspielung auf das Leben und Werk des freiheitsliebenden und ausschweifenden Aristokraten Byron mit dessen Kampf und Tod im Dienste griechischer Befreiungsbewegung in Verbindung gebracht wird. Dieser Vergleich hinkt nicht nur, weil der Krieg in Bosnien so unübersichtlich war, daß die Frage, um wessen Unabhängigkeit dort eigentlich gekämpft wurde, kaum zu beantworten ist, sondern auch, weil Benoît im Krieg gegen die moslemischen Bosnier auf der kroatischen Seite fällt, so daß in Anlehnung an den zitierten Kampf der Griechen gegen die Osmanen der alte Okzident-Orient-Gegensatz fröhliche Urständ feiert. Mit Baudelaire huldigt Beauvois aber nicht nur der Ansicht, daß die Romantik den Tod erotisiert, sondern frönt wie das große Vorbild einem krassen, bis an die Schmerzensgrenze gehenden Realismus, der ebenso die Drogen- und AIDS-Problematik augenscheinlich macht wie auch die Randexistenz maghrebinischer Einwanderer, die ihr Glück in gesellschaftlichen Freiräumen suchen, um so mehr betroffen von den üblichen Sanktionen. Es ist dies ein bei den Nachwuchsregisseuren Frankreichs wiederkehrendes Motiv, das auch bei Beauvois die Qualität zeitkritischer Diagnostik erreicht, obwohl er bei aller dramaturgischen Konsequenz des finalen Freitodes sein AIDS-Sujet letztlich auf dem Altar einer diffusen Weltschmerz-Poetik opfert.
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