- | Portugal/Frankreich/Deutschland/Litauen 1996 | 98 Minuten

Regie: Sarunas Bartas

Der Film führt nach Sibirien, zu einem asiatischen Nomadenvolk, das von Stalin zur Seßhaftigkeit gezwungen wurde. Ohne jeden Dialog, aber mit einem eindrucksvollen Klangteppich, entwirft er ein Endzeit-Panorama: eine elende, schäbige, würdelose Zivilisation, in der gesoffen und geprügelt wird. Der Häßlichkeit setzt Bartas Bilder von der strengen Schönheit der Natur entgegen und öffnet Räume für vielfältige philosophische Assoziationen. Ein atmosphärischer Film in vorwiegend langen Totalen, der sich allen Konventionen des modischen Erzählkinos verschließt. (O.m.d.U.; Fernsehtitel: "Wir sind wenige") - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FEW OF US
Produktionsland
Portugal/Frankreich/Deutschland/Litauen
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Madragoa Filmes/Gemini/WDR/Studio "Kinema" Vilnius
Regie
Sarunas Bartas
Buch
Sarunas Bartas
Kamera
Sarunas Bartas
Schnitt
Mingaile Murmulaitiene
Darsteller
Katerina Golubeva · Sergei Tulayev · Piotr Kishteev · Minoru Hideshima · Yulia Inozemtseva
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Sarunas Bartas' erster Spielfilm "Drei Tage" ("Trys Dienos", 1991) trug zunächst den Arbeitstitel "Wenn die Sonne untergeht" - symbolischer Ausdruck eines Programms, das sich der 1964 geborene Regisseur für sein gesamtes künstlerisches Schaffen gewählt zu haben scheint. Mit diesem Debüt war er in das Universum einer Stadt, das triste Ambiente ihrer Bahnhöfe, kaputten Mietshäuser und Keller eingetaucht; vier junge Menschen verbrachten hier ein paar Stunden der Hoffnung auf Liebe, die in Angst und Bitterkeit mündet. Bartas' zweite, 1994 entstandene Arbeit "Korridor" (fd 31 813) nahm sich dann des Innenlebens eines verfallenen Hauses an: Ein dunkler, schmutziger, resignativer Film wie eine apokalyptische Vision. Beide Werke verzichten auf konventionelle Erzählstrukturen, leben von atmosphärischen Andeutungen, einer weitgehenden Abwesenheit von Sprache. Die Szenographie und der radikale Stil wiesen darauf hin, welche künstlerischen Wahlverwandten sich Bartas suchte: natürlich Andrej Tarkowskij als Urvater der cinéastischen Kontemplation, aber auch Andrej Sokurow oder Béla Tarr. Auch Fred Kelemen ist inzwischen in jenen Kreis zivilisationskritischer europäischer Grübler eingetreten.

Bartas' neuer, dritter Film heißt "Few of us". Mit ihm verläßt er die städtischen Katakomben, bricht auf zu neuen Horizonten. Die ersten Bilder signalisieren diese Bewegung: eine Landschaft, die von einem fahrenden Zug durchschnitten wird: eine Brücke über einen Fluß; ein Hubschrauber, der in eine Waldschneise fliegt wie in ein sagenumwobenes, fremdes Land. Wie immer bei Bartas strahlt die Gegend auch diesmal keine Heimeligkeit aus: Es ist Winter, Schnee und Eis bedecken die Ufer des Flusses. Eine junge Frau mit ernstem, traurigem Gesicht und leerem Blick ist als einzige Passagierin des Helikopters auszumachen; wenig später rutscht sie von einem Steinhügel talabwärts. Irgendwann kommt sie in ein Dorf, sitzt in der Holzhütte eines alten Mannes, der zuvor mit seinen Rentieren durch die karge Baumlandschaft gezogen war und vom Äußeren ein wenig an Akira Kurosawas Taigajäger in "Uzala der Kirgise" (fd 20 029) erinnert. Welche Beziehung die beiden Menschen zueinander haben, bleibt allerdings unklar; sie rauchen schweigend miteinander, essen vom selben Kanten Brot. Worauf sie warten, wer sie sind, wird nicht erklärt - "Few of us" verzichtet auf jeglichen Text. So läßt der Film Raum für Assoziationen in viele Richtungen.

Zum Beispiel in diese; Bartas drehte in einer nahezug unzugänglichen Gegend Sibiriens, die von den Tofalaren bewohnt wird, einem asiatischen Nomadenvolk, das unter der Knute Stalins 1930 gezwungen wurde, sich seßhaft zu machen. Der Stamm zählt heute nur noch 700 Menschen; der alte Mann gehört ebenso dazu wie ein paar jüngere Leute. Gerade die Jungen, so führt "Few of us" vor, kommen mit der befohlenen Seßhaftigkeit, ja überhaupt mit ihrem Dasein nicht zurecht; der Zwang, gleichsam "gegen ihre Gene" in einem Dorf ausharren zu müssen, Armut und Mißmut lassen sie in Alkohol und Gewalt flüchten. Sie sind es, die die fremde Frau in einer furchtbaren Nacht traktieren, sie bedrohen, schlagen und treten. Oder einfach nur dabei zuschauen, ohne einzugreifen, wie der Alte, der im Schlaf kurz die Augen öffnet. Man könnte den Film, sofern einem diese Hintergründe bekannt sind, also als Traktat über die andauernden moralischen Verheerungen deuten, die mit der stalinistischen Politik über das Land kamen.

Möglich ist aber auch eine andere, wesentlich weiter gefaßte Dimension der Deutung: "Few of us" als Essay über Natur und Mensch, das Schöne und das Häßliche schlechthin. Schön sind die knorrigen Bäume im Wind, der Sonnenaufgang über den Bergen, die Rentiere, das von allen Wettern gegerbte Anlitz des Greises. Häßlich ist das, was der Mensch aus der Welt gemacht hat: die elende, löcherige Dorfstraße, die verfallenen Hütten, die Ernährung aus Blechbüchsen, die Besäufnisse - schon in "Korridor" nutzte Bartas die Szenen eines Trinkgelages als Gleichnis für die Menschheit am Abgrund, für das Desaster der Zivilisation, die Endzeit. Alles ist schäbig, nichts hat mehr mit Würde zu tun. Auch das Bellen und Jaulen der Hunde, das fast über dem gesamten Film liegt, könnte als Klage der gepeinigten Kreatur interpretiert werden. Überhaupt ist der Klangteppich von einer eigentümlichen Dichte und Melancholie: das Rattern des Zuges, das Brummen des Hubschraubers, das Rauschen des Flusses, die Geräusche des Windes, dazu Sprachfetzen und, an wenigen exponierten Stellen, Momente einer klassischen, symphonischen Musik.

Magisch und mystisch wirkt neben einigen Naturaufnahmen jenes - an Tarkowskij gemahnende - Bild, in dem plötzlich in der Hütte des Greises, gesehen mit den Augen der jungen Frau, kleine bunte Bäume aus dem Holzfußboden wachsen, von Nebelschwaden umwallt. Schon in der nächsten Sequenz wird dieses Motiv als Vision, als Traum erkennbar: Nun ist der Boden wieder kahl, nur ein zerfleddertes Modemagazin liegt herum. Am Ende des Films stirbt dann einer der jungen Einheimischen, erschossen von einem anderen, ein plötzlicher Tod an den Ufern des Flusses. Die junge Frau kauert im Schnee, bis der Hubschrauber kommt. Die Rentiere ziehen weiter. Das letzte Bild schließlich, wie viele Szenen des Films eine lange, von unbewegter Kamera aufgenommene Totale: der Blick auf einen vereisten Berg und einen winzigen, einsamen, kahlen Baum.
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