Dokumentarfilm über die tibetische Medizin, in dem der Leibarzt des Dalai Lama und andere Ärzte bei ihrer Arbeit begleitet und die außergewöhnlichen Heilerfolge in der Kraft jahrtausendealter Arzneimittelrezepte aufgedeckt werden. Faszinierende, unaufdringliche Annäherung an eine fremde Lebens- und Denkweise, die das drückende politische Schicksal der Tibeter in Erinnerung ruft und durch eine beeindruckende filmische Sensibilität Brücken in die buddhistische Welt schlägt.
- Ab 12.
Das Wissen vom Heilen
Dokumentarfilm | Schweiz 1996 | 90 Minuten
Regie: Franz Reichle
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Filmdaten
- Originaltitel
- DAS WISSEN VOM HEILEN
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 1996
- Produktionsfirma
- T & C/DRS/Kulturfonds Suissimage/Teleclub
- Regie
- Franz Reichle
- Buch
- Franz Reichle
- Kamera
- Pio Corradi
- Schnitt
- Myriam Flury · Franz Reichle
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 12.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Ein ungewöhnlicher Titel für einen ungewöhnlichen Film. Daß es sich dabei schlicht um den Namen des Grundlagenwerkes der tibetischen Medizin aus dem 12. Jahrhundert handelt, das ein buddhistischer Mönch eingangs bedächtig aus bunten Tüchern wickelt, hat der Verleih klugerweise für sich behalten. Man muß weder eingefleischter Rationalist noch ein großer Skeptiker sein, um Exkursionen in die Heilkunst vom Dach der Welt als exotische Kuriosität links liegen zu lassen. Der poetische Klang der Worte hingegen weckt Assoziationen, die weder an "Psyrembel" noch an das "Gesundheitsmagazin Praxis" erinnern und auf einen ungewöhnlichen Dokumentarfilm neugierig machen, in dessen Zentrum die Begegnung mit einer anderen Kultur steht.Als Fanz Reichle während eines langjährigen Aufenthaltes in Ostsibirien erstmals mit den außergewöhnlichen Heilerfolgen des Mönch-Arztes Chimit-Dorzhi konfrontiert wurde, dachte er an Magie und übernatürliche Kräfte, so sehr grenzten die Wirkungen ans Wunderbare. Je mehr der Schweizer sich aber mit den sanften Methoden und Arzneien beschäftigte, desto deutlicher erkannte er, daß die tibetische Medizin "keine Volksmedizin, sondern eine wissenschaftliche Schulmedizin mit über zweitausend Jahren Entwicklung und Erfahrung" ist. Von dieser eingehenden Auseinandersetzung mit der medizinischen und anthropologischen Tradition Tibets profitiert auch der Zuschauer, der Reichles Weg in geraffter Form nacherlebt. Der Film beginnt mit dem sonor-durchdringenden Klang buddhistischer Blasinstrumente und dem rhythmischen Geklapper der Gebetsmühlen. Der Leibarzt des Dalai Lama, Tenzin Choedrak, untersucht eine alte Frau, verordnet Hitzebehandlung, ertastet einen Meridianpunkt und brennt darauf ein Art Räucherkegel ab. Die Worte, die dabei gemurmelt werden, klingen nach Gebet oder Ritual. Nur der fast zärtliche Gestus, mit dem der Arzt eingehend den Puls der Kranken befühlt, und die gleichermaßen konzentrierte wie entspannte Atmosphäre bewahren vor dem Verdacht, dies sei nicht mehr als Hokuspokus. Auch die Ultraschall-Aufnahmen einer von Metastasen befallenen Niere, die mittels einer aus vielen Kräutern, Wurzeln und Spurenelementen zusammengesetzten Arznei wieder gesund wurde oder die Behandlung einer querschnittsgelähmten Frau vermögen die Ressentiments nicht zu zerstreuen. Erst als ein Schweizer Bergbauer davon berichtet, wie ihm titbetische Medikamente die Herzkranzgefäße "durchgeputzt" haben, obwohl ihn die Ärzte vor zehn Jahren zuvor als unheilbar zum Sterben nach Hause schickten, läßt auch resistente Westler aufhorchen. Die wachsende Spannung verdichtet sich schließlich zur Haltung der Offenheit, wenn Wissenschaftler aus Wien und Jersusalem von ihren Ergebnissen berichten, die bei der Erforschung der Rezepturen und Heilkräuter aus Tibet zutage treten. Demnach beruht die verblüffende Wirkung dieser Medikamente auf ihrer Fähigkeit, auch einem chronisch erkrankten Organismus jene Impulse zu vermitteln, die seine Selbstheilungskräfte aktivieren, ohne schädigende Nebenwirkungen zu zeitigen.Die naturwissenschaftlichen Erklärungen verlieren jedoch an Wichtigkeit, je länger man Reichles kunstvoll montierten Aufnahmen folgt, die ohne jede verbale Kommentierung nicht nur eine Ahnung vom komplexen System der tibetischen Medizin vermitteln, sondern auch die bedrängende Situation der chinesischen Okkupation des Landes und seiner verheerenden Folgen in Erinnerung rufen. Nach der Niederwerfung des Aufstandes 1959, als der Dalai Lama ins nordindische Exil nach Dharamsala floh, vernichteten die Chinesen alle medizinischen Hochschulen; acht Jahre später vollendete die Kulturrevolution das Zerstörungswerk, indem die Ärzte getötet und ihre medizinischen Schriften verbrannt wurden. Heute leben nur noch zwölf alte Gelehrte, die das vor allem auf Erfahrung und lebenslangem Lernen beruhende Wissen weitergeben können. Für die eminente Bedrohung der tibetischen Kultur und Medizin hat Reichle ein gespenstisches, zugleich aber sehr poetisches Bild gefunden, in dem sich seine filmische Herangehensweise spiegelt: Immer wieder huscht der Lichtkegel einer Taschenlampe über riesige Gemälde, sogenannte Medizin-Thangkas, auf denen im 17. Jahrhundert die Kenntnisse aus Embryologie, Anatomie und Physiologie, der ganze medizinische Heilkanon, illustriert wurde. Für wenige Augenblicke blitzen in der Dunkelheit farbenprächtige Miniaturen auf, wunderschöne Stilisierungen, die einst als einprägsame Eselsbrücken dienten, jetzt aber vom Vergessen bedroht sind: ein unermeßlicher Schatz, den es im Interesse der Menschheit vor dem Untergang zu retten gälte.Was den Film darüber hinaus zu einem packenden und lehrreichen Beispiel dokumentarischen Arbeitens macht, ist die Umkehrung seiner ursprünglichen Intention. Reichles Interesse galt anfangs der spirituellen Beheimatung der tibetischen Medizin im Buddhismus. Die Verbindung von körperlicher und geistiger Gesundheit, das Verständnis des Menschen als ein ins kosmische Ganze eingebundenes Wesen schien ihm nur auf der Grundlage des Buddhismus möglich zu sein. Dann aber erklärt ihm Tenzin Gyatso, der XIV. Dalai Lama, mit freundlich-tiefer Stimme in die Kamera, daß beides durchaus auch unabhängig voneinander bestehen könne, ja daß er eine Verbindung des Heilwissens mit westlichem Denken ausdrücklich begrüße. Die weltzugewandte Gestalt des geistigen Oberhaupts der Tibeter vermittelt in ihrer sympathischen, ganz und gar Undoktrinären Art, was Reichles Film insgesamt durchzieht: eine Haltung gelassener Ruhe, die bei aller Entschiedenheit für die eigene Sache offen bleibt für neue Erfahrungen und den Dialog mit dem fremden Anderen als spannende und anstrengende Herausforderung begreift.
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