Mit "Sleepers" versucht Barry Levinson, zu seiner eigenen Jugend und zum Thema seines früheren Films "American Diner"
(fd 28 509) zurückzukehren. Zwar vertauscht er Baltimore gegen New Yorks "Hell's Kitchen", aber die zwischen Realistik und Nostalgie schwankende Betrachtungsweise ist dieselbe. Mit einem wesentlichen Unterschied. Wo in "American Diner" Humor und Charme noch einen Platz hatten, macht sich in "Sleepers" bedeutungsschwangere Tiefsinnigkeit breit, für die der Prolog des Films gleich den Ton angibt: "This is a fine story about friendship that runs deeper than blood."Mit der "wahren Geschichte" ist das so eine Sache. Schon der zugrundeliegende Roman von Lorenzo Carcaterra hatte seine Schwierigkeiten damit. New Yorker Staatsanwählte und Journalisten sprachen ihm jeden Wahrheitsgehalt ab, allerdings mit dem Ergebnis, daß die emphatisch geführte Diskussion das Buch binnen weniger Wochen zum Bestseller machte. Für den Film tut es kaum etwas zur Sache, ob Carcaterra die Wahrheit berichtet oder seine Story erfunden hat - nur glaubwürdig müßte sie sein, und das ist sie in Levinsons emotionaler Verfilmung leider überhaupt nicht. Der Film, der auch nicht zu einem einheitlichen Stil findet, zerfällt in zwei total verschiedene Teile. Der erste erzählt die Geschichte von vier Jungen, die während der 60er Jahre in einem Milieu aurwachsen, das Gut und Böse zu einer für die jugendliche Auffassungsgabe untrennbaren Mischung amalgamiert hat. Zwischen den Extremen eines aus ihren Kreisen stammenden verständnisvollen katholischen Pfarrers und eines hinter den Kulissen den Mob bewegenden Restaurantbesitzers mit dem vielsagenden Spitznamen King Benny erleben sie tagaus tagein die ganze Widersprüchlickeit des harten Assimilationsdaseins einer ethnisch vielfältigen Gruppe zusammengewürfelter Einwanderer.Obwohl die Melancholie der Erinnerungen oft den Blick verschleiert, gehören diese Passagen zum Besten, was der Film zu bieten hat. Wie sich die Heranwachsenden in ihrer Umgebung einrichten, wie sie mit jugendlicher Unbekümmertheit auf die positiven wie auf die negativen Herausforderungen reagieren, das ist psychologisch präzis und filmisch attraktiv beschrieben. Daß die Jungen eines Tages in ihrem Ungestüm zu weit gehen und unbeabsichtigt einen Menschen ins Krankenhaus bringen, entwickelt sich durchaus noch logisch aus ihrer Psyche und den sie umgebenden Verhältnissen.Doch hier machen sich die später überhandnehmenden Anzeichen einer schwerhändigen Interpretation des Geschehens als schicksalhafte Verkettung bemerkbar. Der Zuschauer, darauf vorbereitet, mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen, findet die jungen Helden denn auch bald in einer jener sadistischen Institutionen wieder, die unzutreffend Besserungsanstalten genannt wurden ("Sleepers" ist Slang für die Insassen solcher Anstalten). Prompt werden die halben Kinder Opfer sexueller Vergewaltigung, bei der sich besonders einer der Aufseher hervortut. Als zwei der Geschundenen, die nach ihrer Entlassung ins kriminelle Fahrwasser geraten, viele Jahre später ihren Peiniger zufällig wiedertreffen, bereiten sie ihm ein qualvolles Ende.Damit beginnt der zweite Teil des Films, der die Straßen von "Hell's Kitchen" mit dem Gerichtssaal vertauscht. Die jungen Helden des Films sind inzwischen erwachsen. Zwei von ihnen haben, wie gesagt, den Boden unter den Füßen verloren und gelten als gewissenlose Killer, der dritte ist Jurist und Assistent des Staatsanwalts, während der vierte die journalistische Laufbahn eingeschlagen hat. Mit der Anklage der beiden, die den gemeinsamen Peiniger umgebracht haben, finden sich die Rechtschaffenen zu einem Komplott zusammen, das nicht mehr der Rache an dem Schuldigen dienen kann (denn der ist ja schon tot), sondern das gewissermaßen eine Racheaktion an der Gesellschaft darstellt, die solches zugelassen hat. War "Sleepers" bis dahin eine Elegie auf die verlorene Unschuld, so wird der Film Jetzt zu einer "amerikanischen Tragödie", in der die moderne Gesellschaft auf die Anklagebank gehievt wird.Auch diese Perspektive könnte ihre Berechtigung besitzen, wäre nicht das angezettelte Komplott: von so hanebüchener Unglaubhaftigkeit, daß darüber jede humanistische Tendenz zur absurden Konstruktion verkommt. Der Assistent des Staatsanwalts verschafft sich die Anklagevertretung, nur um den Prozeß gegen seine ehemaligen Jugendfreunde zu verlieren. Er heuert einen alkohol - und drogensüchtigen Rechtsanwalt heimlich als Verteidiger an, der beim Kreuzverhör der Zeugen die ihm zudiktierten Fragen vom Blatt abliest. Einer der Wärter aus der Besserungsanstalt bricht im Zeugenstand planmäßig zusammen, und der Pfarrer aus dem Viertel der Jungen ringt sich nach innerem Kampf zu einem Meineid durch, der den Angeklagten ein Alibi liefert.Vor allem gegen die Figur des meineidigen Priesters hat es in Amerika heftige Proteste gegeben. Doch in einem Umfeld von solch abstruser Phantaszik lassen sich weder der Pfarrer noch der ganze Prozeß ernstnehmen. Dem angeblich eine wahre Begebenheit erzählenden Autor ist zur Untermauerung seines gesellschaftlichen Unbehagens leider nichts anderes als eine Groschengeschichte eingefallen, die im Film auch noch dadurch an Interesse verliert, daß die erwachsenen Stars, die nun die Rollen übernehmen müssen, allesamt blasser agieren als ihre jugendlichen Kollegen zuvor. Will man schon die moralische Elle anlegen, so wiegt gewiß am schwersten, daß man es hier abermals (nach "Die Jury", fd 32 198) mit einem Film zu tun hat, der alle Gefühle des Publikums für den Freispruch von zweifelsfrei Schuldigen mobilisiert.