Neil Jordans letzter Film "Miracle"
(fd 29 051) endete mit dem Bild freigelassener Zirkustiere auf einer Strandpromenade - Triumph der Phantasie über eine bedrückende Realität. "The Crying Game" beginnt auf einem Rummelplatz, und hier bricht die Realität auf trostlose Weise in die Welt der Illusionen ein. Die Zufallsbekanntschaft, von der sich der farbige Soldat Jody ein schnelles Abenteuer erhofft, ist alles andere als zufällig. Jude ist IRA-Kämpferin, der Köder, mit dem Jody in einen Hinterhalt gelockt wird.Szenenwechsel. Im Versteck der Terrorgruppe wird Jody unter anderem von Fergus bewacht, einem jungen Idealisten. Fergus durchbricht die kriegerische Logik der Teilnahmslosigkeit, befreit den Gefangenem von einem über den Kopf gezogenen Sack, nimmt ihn gegen Handgreiflichkeiten des Lockvogels Jude in Schutz und verbringt in den folgenden Tagen die meiste Zeit mit Jody. Während beide wissen, daß die britische Regierung einem Gefangenenaustausch nicht zustimmen und Jody von der Gruppe "hingerichtet" werden wird, entwickelt sich zwischen den Männern gegenseitige Sympathie. Der äußerlich grobschlächtige Jody erweist sich als intelligenter, feinfühliger Gesprächspartner. Mit der (in europäischen Filmen zuletzt sehr beliebten) Geschichte vom Frosch, der trotz aller Bedenken einen Skorpion übers Wasser trägt, von ihm gestochen wird und gemeinsam mit ihm untergeht - weil das Stechen eben die Natur des Skorpions ist - bringt er Fergus' inneres Dilemma auf den Punkt. Frosch oder Skorpion, geben oder nehmen, reden öder töten; der junge Ire hat seine eigene "Natur" noch nicht gefunden (während Jody ihn längst als "Frosch" identifiziert hat). Inzwischen verstreicht das Ultimatum der Entführer, und Fergus wird bestimmt, den Gefangenen zu erschießen. In der letzten Nacht bittet Jody ihn, nach seinem Tod seine Geliebte Dil aufzusuchen, deren Fotos er bei sich trägt.Am folgenden Morgen gelingt es Jody, seine Fesseln zu lösen und zu entkommen. Ehe Fergus sich entschließen kann, ihn zu erschießen oder laufen zu lassen, wird Jody von einem Panzerwagen der anrückenden Armee erfaßt und getötet. Der Unterschlupf der Terroristen wird zerstört, Fergus entkommt, setzt sich nach England ab und nimmt eine falsche Identität an. Tatsächlich gelingt es ihm, in Jodys Stammkneipe Dil ausfindig zu machen. Nach anfänglicher Distanziertheit erliegt er Dils verführerischem Charme und beginnt sich zu verlieben. Dils Wohnung ist gespickt mit Erinnerungen an den toten Jody, und gerade als Fergus seine Mischung aus Faszination und Schuldgefühlen endlich in den Griff bekommt, macht er an Dil eine völlig unerwartete Entdeckung, männliche Geschlechtsorgane nämlich. Fergus zieht sich von Dil zurück, verstört, aber nicht weniger verliebt als zuvor. In dieser Situation tauchen die totgeglaubte Jude und Maguire, Anführer des IRA-Kommandos, auf und versuchen, Fergus zum Attentat auf einen Richter zu zwingen. Da nun auch Dil in akuter Lebensgefahr ist, steht Fergus erneut vor einer schwierigen Entscheidung.Das irische Hurling sei dem englischen Cricket weit überlegen, argumentiert Fergus gegenüber Jody, weil es das schnellste Spiel der Welt sei. Für das "Spiel", in das Fergus verwickelt wird, ist er selbst immer einen Zug zu langsam und unentschlossen, mehr Spielfigur als aktiver Teilnehmer. Am Ende sitzt er freiwillig im Gefängnis für einen Mord, den Dil begangen hat - späte Sühne für Jodys Tod und ein bitteres Happy-End; denn endlich, reichlich spät, hat Fergus zu seiner "Natur" (der des "Frosches") gefunden. Dil wird auf seine Entlassung warten. Wenn zum unmittelbar folgenden Abspann der Country-Klassiker "Stand by your Man" erklingt, sollte man Regisseur Neil Jordan keinen Zynismus unterstellen, allenfalls eine Spur leichter Ironie."The Crying Garne" zeigt Jordan endlich wieder auf der Höhe seines Könnens. Wie einst Bob Hoskins in "Mona Lisa"
(fd 25 882) irrt Stephen Rea als Fergus vor allem im zweiten Teil des Films durch eine bedrohlich-faszinierende Welt, in der Schein und Sein gelegentlich weit auseinanderklaffen. Dunkelhäutige Schönheiten und rohe Schlägertypen, düstere Bars und undurchsichtige Blondinen in abenteuerlich engen Kleidern - Jordan bleibt der Ikonographie seiner besseren Filme treu. Und auch in "The Crying Game" spielt die Musik eine tragende Rolle: der gleichnamige Song ertönt gleich mehrmals, Dil singt ihn, als sie Fergus erstmals in der Bar begegnet. (Zur emotionalen Bedeutung der Songs in Jordans Filmen vgl. das Interview in fd 17/1991.)Wer nach dem ersten Teil einen dezidiert politischen Nordirland-Film erwartet, muß vom weiteren Verlauf der Story enttäuscht werden. Jordans politische Aussage bleibt so allgemein wie zutreffend: Nur wer seinem Gegenüber (bildlich gesprochen) einen Sack übers Gesicht zieht, ist in der Lage, ihn für die "gerechte Sache" zu töten oder ein "Terroristennest" dem Erdboden gleichzumachen. Jordans eigentliches Interesse aber gilt einmal mehr dem Reifungsprozeß eines innerlich kaum erwachsenen Mannes, seiner Konfrontation mit dem Unerwarteten, Abwegigen und dessen faszinierender Anziehungskraft. Dabei treibt er das Spiel mit Schein und Sein lustvoll auf die Spitze. Ausgerechnet Dil, äußerlich die perfekte "Fälschung", erscheint in ihrer emotionalen und sexuellen Identität authentischer und leidenschaftlicher als alle übrigen Figuren des Films. (In direktem Kontrast erweist sich die anfangs demonstrativ ausgestellte Weiblichkeit Judes im doppelten Sinn als leeres Versprechen, ihre ständig wechselnden Verkleidungen als Spiegel innerer Leere.)Es sei schwer, die Geheimnisse der menschlichen Seele zu erforschen, äußerst der Wirt in Jodys Stammkneipe. Neil Jordan ist es seit "Mona Lisa" nicht mehr gelungen, diese Geheimnisse in vergleichbar betörende Bilder und eine derart fesselnde (und in ihrer Zweiteilung recht gewagte) Story zu kleiden. Dabei profitiert der Film von hervorragenden Darstellerleistungen, die ihren Höhepunkt im Zusammenspiel von Stephen Rea (Fergus) und'Forest Whitaker (Jody) finden. Die Entdeckung des Menschen im Feind ist - wenigstens im Kino - ein beliebtes Motiv. Wie beide es hier unsentimental und bewegend auf die Leinwand bringen, ist eine Klasse für sich.