Sweetheart (1992)

Krimi | Frankreich 1992 | 107 Minuten

Regie: Michel Deville

Ein französischer Kriminalbeamter wird auf einen Finanzjongleur angesetzt, der seine illegalen Geschäfte von Zürich aus betreibt. Die beiden Männer liefern sich einen verbissenen Kampf, müssen jedoch feststellen, daß sie von einem Drahtzieher im Hintergrund mißbraucht worden sind. Ein formal eigenwillig inszenierter Kriminalfilm über das freie Spiel der Kräfte und den Mißbrauch von Menschen und Gefühlen in einer gefühlsarmen Welt. Ein Film, der getragen wird von guten Darstellern, hervorragenden Dialogen und einer brillanten Struktur. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
TOUTES PEINES CONFONDUES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Eléfilm/C.E.C./Rhone-alpes/FR 3/Générale d'Images/Canal +/Soficas Sofiarp/Investimage 3
Regie
Michel Deville
Buch
Rosalinde Deville
Kamera
Bernard Lutic
Musik
Dmitri Schostakowitsch
Schnitt
Raymonde Guyot
Darsteller
Patrick Bruel (Christophe Vade) · Jacques Dutronc (Antoine Gardella) · Mathilda May (Jeanne) · Vernon Dobtcheff (Thurston) · Bruce Myers (Scandurat)
Länge
107 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Krimi | Literaturverfilmung

Diskussion
Ein grauenhaftes Verbrechen in den Savoyer Alpen, doch die jugendlichen Verbrecher haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Getöteten waren die Eltern des Finanzhais Gardella, und der weiß Mittel und Wege, hat die Verbindungen, um Rache zu nehmen. So kommt Inspektor Vade ins Spiel. Der Interpol-Mann Turston vermittelt den Kontakt zu Gardella, der nutzt Vades Spuren, hält sich jedoch nicht an die Abmachungen; es gibt Opfer - Unschuldige und Schuldige.

Turston hat damit ein Spiel in Gang gesetzt, in dessen Verlauf sich alle Beteiligten belauern und belügen, in dem jeder nur an den eigenen Vorteil denkt. Die kriminellen Machenschaften Gardellas sollen aufgedeckt werden, und Vade scheint der geeignete Mann für diese Aufgabe. Ist er doch dem Finanzjongleur wesensverwandt, treibt auch ihn eine unterschwellige Spielleidenschaft und - er hat noch die Scharte vom ersten Aufeinandertreffen auszugleichen.

Obwohl man vorgibt, das Turnier gleichsam mit offenem Visier auszutragen, wird hinter der freundlich-geschäftigen Fassade mit allen schmutzigen Tricks gekämpft. Beide Männer versuchen, die Schwachstellen des anderen zu nutzen. Gardella bringt Laura, eine weltgewandte Lebedame ins Spiel, die Vade die Zeit am Zürcher See versüßen soll. Der kontert damit, daß ihm Jeanne, Gardellas Frau, viel besser gefalle, provoziert den Gegner unbewußt mit der einzig verwundbaren Stelle in seinem Leben, denn bei aller Härte scheint er Jeanne aufrichtig zu lieben; sie ist die einzige Person, für die er selbstlos Opfer zu bringen bereit ist.

Die Begegnungen zwischen Vade und Jeanne verlaufen zunächst abwartend; wobei ihre Zurückhaltung durch die Angst begründet ist, nicht um ihrer selbst willen beachtet zu werden, sondern nur Mittel zu dem Zweck, Gardellas Imperium auszuhebeln - ein Spielsteinchen wie so viele andere auch. Doch dann stehlen sich erotische Komponenten in die Beziehung. Jeanne faßt Vertrauen, offenbart ihr Leben, gibt Gardellas Bedeutung preis.

Gardellas Imperium wankt zwar, aber es fällt nicht. Einige unsichere Figuren werden geopfert, doch dann steigen beide Männer hinter das Geheimnis Jeannes, und plötzlich müssen alle Entwicklungen mit anderen Augen gesehen werden. Während Vades Beschützerinstinkte, gepaart mit einer gehörigen Portion Verliebtheit, ihren Höhepunkt erreichen, und er sich ohne jede Deckung dem Widersacher stellt, zieht Gardella bereits die letzten Konsequenzen aus einem verlorenen Spiel. Als fairer Verlierer erweist er sich allerdings nicht.

Ein weiterer Mord und eine weitere Autofahrt beenden den Film. Ein ebenso genialer wie menschenverachtender Drahtzieher findet sein Ende.

Michel Devilles Film modifiziert die klassischen Topoi des "film noir" für die Bedürfnisse des modernen europäischen Kinos, indem er sich mit Zürich als Hauptort der Handlung einen internationalen Finanz- und Geldwaschplatz aussucht. Korrupte Schweizer Polizisten bevölkern den Film ebenso wie italienische Dealer, französische Geschäftemacher, scheinbar staatenlose Leibwächter oder englische Interpol-Beamte: Kino der grenzüberschreitenden Regionen, wobei die Einbeziehung der Alpenregion Savoyens dem Film einen besonderen Reiz verleiht. Maßgeblichen Anteil daran hat Kameramann Max Pantera, der jeden Schauplatz in ein anderes, ihm angemessenes Licht taucht. Der Morgendämmerung in den Bergen haftet das Geheimnis des heraufbrechenden Tages an, die Paßstraßen strahlen in stiller menschenleerer Schönheit, das Licht am Zürcher See wirkt unwirklich gedämpft, liefert einen sanften Kontrast zum Zweikampf der Kontrahenten, die Innenräume sehen eher düster aus - bieten Unterschlupf, keine Heimstatt.

Diesem unwirklich erscheinenden Lichtspiel entspricht die Struktur des Films, dessen Geschichte sich zwar gradlinig entwickelt, dessen Handlung sich jedoch durch eine Vielzahl von Perspektivwechseln und eine Aneinanderreihung kleiner Episoden erst mosaikartig zusammensetzen muß. Erst die Gesamtschau ergibt das düstere Bild einer überaus feindselig gestimmten Welt, in der Allianzen bestenfalls vorübergehende Organisationsformen des Überlebens sind, jedoch keine Person und Abmachung Sicherheit verspricht. Dabei sind die Motive der eigenen Vorteilnahme durchaus unterschiedlich, mitunter sogar ehrbar zu nennen, doch "Sweetheart" zeigt, daß jeder Verbündete zugleich auch ein Verräter sein kann, daß Loyalität wenig hilft in Spielen, bei denen Bauernopfer an der Tagesordnung sind. Deville erzählt dies in einem überaus lakonisch-abgeklärten Tonfall, wobei die präzisen, bissigen Dialoge, die keinen Anspruch auf die Authentizität des gesprochenen Wortes erheben, sondern sich als literarisches Konstrukt zu erkennen geben, überaus hilfreich sind.

Ähnlich artifiziell und dabei ökonomisch sind die Struktur des Films und seine Bildsprache angelegt. Die Andeutung genügt Deville, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Der erste Doppelmord wird gar nicht im Bild gezeigt, er findet bereits im Vorfeld des Films, im Vorspann und bloß auf der Tonspur statt. Überhaupt wird der Zuschauer kaum Augen-, bestenfalls Ohrenzeuge der Verbrechen. Eine Information wird durch Folter erpreßt, die Kamera verweilt vor der Hütte; Leute springen über die Klinge, man erfährt dies nur in Andeutungen; als Sargnagel für Gardellas Untergang dient kein handfester Beweis, sondern ein Tonbandmitschnitt eines zufällig aufgeschnappten Telefonats.

Nahezu genial erweist sich Deville in der Einbeziehung eines - neben der Filmsprache - weiteren international anerkannten Zeichensystems: er nutzt Verkehrsschilder, die er für wenige Sekunden in die Handlung einmontiert, um deren Verlauf vorwegzunehmen, um den Zuschauer einzustimmen. Gangster verfolgen Gangster auf einer nächtlichen Paßstraße, die Schilder für Steinschlag, Engpaß und Rastplatz nehmen den schlechten Ausgang dieser Episode voraus; als das erste Auto auf einem Rastplatz hält, ist die Geschichte eigentlich schon erzählt. Auch ein weiteres Opfer wird ähnlich lakonisch angedeutet. Vom Killer gestellt, verschwindet ein Handlanger hinter einer Tür mit einem roten Einbahnstraßen-Schild. Besonders düster ist in diesem Zusammenhang der Schicksal der Freundin des Opfers. Erst vor wenigen Minuten hat sie sich auf seine Seite geschlagen, nun muß sie die Zeche bezahlen, ohne überhaupt zu wissen, worum es geht.

Obwohl ganz Kriminalhandlung, wenn auch die Grenzen des Genres sprengend, erzählt Deville einmal mehr eine erotische Geschichte. Er tut dies mit den Mitteln der filmischen Überhöhung, doch er zeichnet diese Szenen so wundervoll, das man wünscht, die Wirklichkeit wäre von ähnlich erotischer Poesie erfüllt. Jeanne verletzt sich beim Baden den Fuß. Der scheinbar zufällig anwesende Vade betrachtet die Wunde, dann leckt er das Blut fort und blickt Jeanne in die Augen. Der Inspektor hat Blut geleckt, noch glaubt er, die Nähe zu Jeanne für seine Zwecke nutzen zu können, er weiß nicht, das er bereits verliebt ist; das wird weitere zweckdienliche Schritte erschweren - die Ratio wird durch Emotionen infiziert. Und Jeanne, hilflos, ausgeliefert dem Geschehen, das sie angeblich nicht durchschaut, begreift in diesem Augenblick - wenn auch nur intuitiv - ihre Chance. Das Spiel nimmt eine entscheidende Wende, die Karten werden zwar nicht neu verteilt, ändern aber ihren Wert. Wie häufig, enthält sich Deville jeder moralischen Wertung. Das Leben stellt sich als etwas dar, was sich jenseits moralischer Normen abspielt, und wer Moral ins Spiel einbringt, der hat von vornherein die schlechteren Karten. Das wird sicherlich nicht jedermann gefallen, man mag das Positive vermissen, doch als Denkansatz ist "Sweetheart" sicherlich einer der ernstzunehmendsten Filme der Sommersaison, zumal er formal in einer Art dargeboten wird, die derzeit keinen Vergleich zu scheuen braucht.
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