Geschichten hinter Wänden

Drama | Japan 1965 | 70 Minuten

Regie: Kôji Wakamatsu

Im Japan der Nachkriegszeit leben einsame, unglückliche oder gleichgültige Menschen in einem tristen Wohnblock. Eine Ehefrau betrügt ihren Mann mit einem Jugendfreund, ein Mann beobachtet seine Nachbarn mit dem Fernrohr, schließlich entlädt sich die allgemeine Frustration in einem Amoklauf. Das in ruhiger Bildsprache erzählte Drama sorgte bei seiner Uraufführung für einen Skandal, heute beeindruckt es als Sittenbild nicht nur Japans, sondern auch der westlich geprägten Nachkriegsgesellschaften. Poesie und Verismus verbinden sich zu einer Reflexion über die spätexistenzialistische Zeitstimmung der 1960er-Jahre. - Ab 18.
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Filmdaten

Originaltitel
KABE NO NAKA NO HIMEGOTO
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
1965
Produktionsfirma
Kôji Wakamatsu
Regie
Kôji Wakamatsu
Buch
Yoshiaki Otani · Kôji Wakamatsu
Kamera
Hideo Ito
Musik
Noboru Nishiyama · J. Miyata
Darsteller
Hiroko Fujino · Mikio Terajima · Kazuko Kano · Yoichi Yasukawa · Michito Suzuki
Länge
70 Minuten
Kinostart
17.03.2005
Fsk
ab 18; nf
Pädagogische Empfehlung
- Ab 18.
Genre
Drama

Diskussion
Ein nicht mehr ganz junges Paar liegt im Bett. Die beiden, die offenbar nicht verheiratet sind, reden miteinander; durch ihr Gespräch ziehen sich Verweise auf ihre Opposition zum westlich-kapitalistischen System der japanischen Nachkriegsgesellschaft, zeigt sich vor allem aber die melancholische Trauer um die private Vergangenheit des Paares und um Versäumnisse, die nicht wieder gut zu machen sind. An der Wand des Zimmers hängt ein Porträt von Joseph Stalin. Der Mann ist offenbar ein Strahlenverletzter, und weil er nackt ist, sieht man seine schwärende Strahlenwunde umso deutlicher. Die folgende Szene zeigt das Paar beim Sex und überblendet auf Bilder aus Hiroshima und von Atomexplosionen. Mit Koji Wakamatsus „Geschichten hinter Wänden“ bringt der Münchner „Cinemathek“-Filmverleih einen Klassiker des japanischen Nachkriegskinos neu heraus. Die spannende Rezeptionsgeschichte des Films ist dabei ein Kapitel für sich. 1965 eröffnete „Geschichten hinter Wänden“ (Erstbesprechung: fd 14 486) den Wettbewerb der „Berlinale“ und sorgte umgehend für einen heftigen Skandal. Seinerzeit sah man den Film, ganz im Gegensatz zum „Berlinale“-Auswahlkommitee, selbst in weiten Teilen der Filmkritik als „spekulativen Sex-Schocker“ und ließ sich kaum auf die gegenwartskritischen Aspekte des Werks ein. Der Film startete zwar 1966, wurde aber indiziert und insofern nur unter dem Aspekt sexueller Tabubrüche und den bekannten „Sex in Japan“-Klischees gesehen. Offenbar war die bundesdeutsche Gesellschaft 20 Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre vor dem Beginn der Kulturrevolte von 1968 sowie der ihr folgenden „Sexuellen Revolution“ für Wakamatsus Kombination aus freizügigem Sex, linker Politik und Sozialkritik noch nicht reif – oder aber, ganz in Gegenteil, gerade allzu reif für das provokative Potenzial des Films, ähnlich wie das gleichfalls von Faschismus, Kriegsniederlage, Wirtschaftsboom und US-amerikanischer Besatzung geprägte und massiv veränderte Japan. Als herausfordernd wirkt im Rückblick weniger die – aus damaliger Perspektive vielleicht sehr offene, aus heutiger Sicht eher schamhafte und zurückhaltende – Darstellung der Sexualität als vielmehr die unverklärende Darstellung des depressiven Alltags der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr innewohnenden latenten Gewalt. „Geschichten hinter Wänden“ verschränkt öffentliche und private Geschichte, bietet ein Sittenbild des modernen Lebens in Japan im Schatten von Hiroshima und Kaltem Krieg – und damit indirekt des Lebens in den technisch fortgeschrittenen, moralisch und politisch mit diversen inneren Widersprüchen kämpfenden Gesellschaften des Westens. Vor der erwähnten Eingangsszene informiert ein ausführlicher Vorspann im Stil einer (pseudo-)dokumentarischen Sozialreportage über „Japan – heute“. Dieser verweist auf die Anonymität der Trabantenstädte einer verwalteten Welt, auf „wachsende Unzufriedenheit“ und „die Gefahr einer sozialen Krise“. Der folgende Film zeige, so heißt es, das „Leben in den Wohnmaschinen, die heute das Gesicht der Städte in aller Welt prägen“. Den Titel erklären Garcia-Lorca-Zitate: „Es gibt Dinge, die hinter Wänden eingesperrt sind und die sich nicht ändern können, weil niemand sie hört. Aber wenn sie plötzlich herauskämen und schrien, so würden sie das All erfüllen.“ Der eigentliche Film spielt dann vollständig in einem modernen, vielstöckigen Vorortswohnblock. Dort lebt die alternde Ehefrau des Anfangs, die sich über ihre unglückliche Ehe und allgemeine Frustration durch das Verhältnis mit ihrem Jugendfreund tröstet – beide leiden unter dem Verlust ihrer Ideale. Die anderen Wohnungen sind mit Einsamen und Gleichgültigen bevölkert. Allgegenwärtig sind eine depressive Grundstimmung, die Hoffungslosigkeit der Älteren und die soziale Kontrolle, unter der vor allem die jüngere Generation leidet. Das einzige, was für diese Gesellschaft zu zählen scheint, ist Geldverdienen und Karriere. Das zeigt sich besonders am Fall einer Familie, deren Sohn sich auf die Aufnahmeprüfung an der Universität vorbereitet, und auf dessen zukünftige Karriere sich alle Hoffnungen seiner Eltern richten. Doch statt zu lernen, verbringt er immer mehr Zeit damit, dass er Hausnachbarn durch ein Fernrohr beobachtet und versucht, die Geschichten hinter den Wänden zu erkunden. Am Ende entlädt sich der aufgestaute Frust zumindest einer Figur in Form eines blutigen Amoklaufs. Eher zufällig entstanden, verwandelt dieser sich am Schluss in eine Meldung in der Zeitung und wird dadurch wieder allgemein. Zuvor wird man Zeuge von Skizzen des Alltags, Momentaufnahmen aus Tristesse, Entfremdung und Ausweglosigkeit, die in ihrer Nüchternheit, Lakonie und depressiven Grundatmosphäre der spätexistenzialistischen Zeitstimmung der 1960er-Jahre entsprechen und mitunter an den Antonioni von „Liebe 1962“ (fd 11 503), „Die mit der Liebe spielen“ (fd 9960) und „Die Nacht“ (fd 10 291) erinnern – freilich erreichen sie visuell nur selten dessen Präzision. Die Bilder sind dokumentarischer gehalten, nehmen zwischendurch selbst die Position des Voyeurs ein. Zugleich erzählt der Regisseur über weite Strecken dezent, in klarer, ruhiger Bildsprache. Wie er seine Sicht auf die jüngere Geschichte seines Landes ins Symbolhafte überführt, erweckt Bewunderung. Trotz dokumentarischer Nüchternheit imitiert er nie die dokumentarische Haltung, verbindet glänzend Poesie und Verismus. Der hierzulande fast unbekannte Regisseur Koji Wakamatsu, Jahrgang 1936, gehört zu den wichtigen Independents der japanischen Filmgeschichte. Seit 1963 hat er ein Werk von 99 Regiearbeiten geschaffen. Sie kreisen oft um das vereinsamte Leben der Nachkriegswelt, zeigen Ausgeschlossene, die die Welt, die sie verachtet, mit Gewalt bekämpfen. So erscheint „Geschichten hinter Wänden“ als zu Unrecht übersehener Klassiker des japanischen 1960er-Jahre-Kinos, zu dessen Wiederentdeckung sich jetzt die überfällige Chance eröffnet – ein sehenswerter und trotz des zeitlichen Abstands, der die heutige Zeit von der Situation im Jahr 1965 trennt, aktueller Film.
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