Die Niklashauser Fart

Experimentalfilm | BR Deutschland 1970 | 86 Minuten

Regie: Rainer Werner Fassbinder

Anhand des historischen Falls von Hans Böhm, eines im 15. Jahrhundert aktiven fränkischen Laienpredigers, der behauptete, das Wort der Mutter Gottes zu verkünden, eine Massenbewegung auslöste und 1476 öffentlich verbrannt wurde, untersucht Fassbinder das Scheitern von revolutionären Erhebungen. Sein Film erweist sich als eine an Brecht und Godard geschulte, höchst eklektizistische Collage, die gezielt mit Brüchen und Einschüben arbeitet und ein wichtiges Dokument der künstlerischen Emanzipation Fassbinders darstellt, der sich auf formale wie inhaltliche Orientierungssuche begibt. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
BR Deutschland
Produktionsjahr
1970
Produktionsfirma
Janus/WDR
Regie
Rainer Werner Fassbinder · Michael Fengler
Buch
Rainer Werner Fassbinder · Michael Fengler
Kamera
Dietrich Lohmann
Musik
Amon Düül II · Peer Raben
Schnitt
Thea Eymèsz · Franz Walsch
Darsteller
Michael König (Hans Böhm) · Michael Gordon (Antonio) · Rainer Werner Fassbinder (Schwarzer Mönch) · Hanna Schygulla (Johanna) · Margit Carstensen (Margarethe)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Experimentalfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Kinowelt/Arthaus (FF, Mono dt.)
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Diskussion
Pünktlich zum 60. Geburtstag des nachhaltigsten deutschen Nachkriegsregisseurs vollbringen die Fassbinder Foundation und der Basis Film Verleih die Großtat, vier bislang kaum bekannte Filme des Meisters mit neuen Kopien in die Kinos zu bringen: „Rio das Mortes“, „Whity“, „Pioniere in Ingolstadt“ und „Niklashauser Fart“. Alle Filme entstanden 1970, dem produktivsten Jahr Fassbinders überhaupt. Neben den nun wieder veröffentlichten Filmen drehte Fassbinder im selben Jahr noch „Der amerikanische Soldat“, „Warnung vor einer heiligen Nutte“ sowie die fürs Fernsehen eingerichtete Theaterinszenierung „Das Kaffeehaus“ (nach Goldoni) – also mehr als sechs abendfüllende Spielfilme! Im Rückblick scheint dieser fast wahnhafte Arbeitsdrang durchaus erklärbar: Nach den formal reduzierten Filmen der ganz frühen Phase („Liebe ist kälter als der Tod“, „Katzelmacher“, „Götter der Pest“ und „Warum läuft Herr R. Amok?“) befand sich Fassbinder im Zustand eines fiebrigen Interims – er sondierte offenbar, in welche Richtung seine Entwicklung überhaupt gehen könnte, in formaler, inhaltlicher und auch politischer Hinsicht. Und er probierte die verschiedenen Varianten umgehend an konkreten Filmen aus, wandte sich abwechselnd Gangsterfilm, Western, Melodrama und Komödie zu. „Die Niklashauser Fart“ kommt in dieser Reihung die Funktion eines Thesenfilms zu. Gerade durch seine immensen Widersprüche und Brüche wirkt er heute noch sehr lebendig und erscheint zugleich wie ein Missing Link innerhalb der Werkbiografie Fassbinders. Der Film basiert auf tatsächlichen Ereignissen: 1476 behauptete der fränkische Hirte und Musiker Hans Böhm (im Volksmund „Pfeifferhannes“ genannt), ihm sei die Muttergottes erschienen und hätte Anweisungen erteilt, die er an die Menschen weiterzugeben habe. Erstaunlich konkrete soziale und politische Forderungen waren dies, die schnell populär wurden. Binnen kurzer Zeit schwoll die Schar seiner Anhänger auf fast 50.000 an, die in der so genannten Niklashäuser Wallfahrt vor die Tore der Bischofsstadt Würzburg zogen. Der in den Laienpredigten des Hans Böhm oft heftig angegriffene Bischof sandte Reiter aus, ließ seinen Widersacher verhaften und am 15. Juli 1476 in Würzburg öffentlich verbrennen. Ursprünglich wollten Fassbinder und Michael Fengler den Stoff konventionell als Historiendrama verfilmen, in dem sich bestenfalls gewisse Analogien zur gescheiterten 68er-Revolte finden ließen; zum Glück entschieden sie sich anders. „Die Niklashauser Fart“ ist ein höchst eklektizistischer Film geworden, ein Patchwork aus Kostümen und Kulissen verschiedener Jahrhunderte, eine Collage aus Parolen und Psalmen, aus Rock-Rhythmen und Chorälen. Hans Böhm erscheint meist entrückt, ganz beseelt von seiner vermeintlichen Mission. In seinem unmittelbaren personellen Umfeld spaltet sich das Sendungsbewusstsein bereits in viele Einzelinteressen auf, erfährt Interpretationen und Umkehrungen. Böhms Begleiterin Johanna versucht, ihn ins irdische Leben zurückzuholen, will eine „normale“ Partnerschaft, nimmt aber dann ihre Rolle an. Für die wohlhabende Bürgerin Margarethe, die ihr Haus dem Führungsstab der Rebellen öffnet, mischen sich Momente starke sexueller Verzückung ins soziale Engagement. Am merkwürdigsten fällt jene Rolle aus, die sich Fassbinder selbst geschrieben hat. Er gibt den „Schwarzen Mönch“, einen sich in seiner modernen Alltagskleidung deplaziert zwischen den historischen Ausstattungselementen bewegender Grübler, der das Geschehen teils inspiriert, teils es kommentiert oder sogar stört. In dieser Figur formuliert sich das an Bertolt Brecht geschulte Gestaltungsprinzip des Films. Indem Fassbinder die Funktion des Chors aus dem attischen Drama übernimmt, Thesen wiederholt und in Frage stellt, verweist er immer wieder auf das Laboratorium, innerhalb dessen sich die Handlung vollzieht. Denn selbstverständlich geht es hier nicht um die authentische Heraufbeschwörung einer versunkenen Epoche oder die Identifikation mit den darin agierenden Figuren, sondern um das Hier und Jetzt. Fassbinder gibt, um mit Walter Benjamin in Bezug auf Brecht zu sprechen, „also nicht Zustände wieder, er entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustände vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Abläufen“ („Versuche über Brecht“). So bleibt wohl auch die Unterbrechung das auffälligste der in „Die Niklashauser Fart“ angewandten Stilmittel. Durch die äußerst genaue, schwebende Kameraarbeit Dietrich Lohmanns und die durchweg prätentiöse Kunstsprache wird eine Basis geschaffen, die dafür sorgt, dass der Film eine gewisse formale Geschlossenheit bewahrt. Fassbinder unterbricht selbst noch die Unterbrechung, fügt unvermittelt Einschübe aus anderen Realitätsebenen hinzu. Sehr schön ist beispielsweise eine aus dem Nichts einmontierte, relativ lange Improvisationsszene mit der Münchner Avantgarde-Band „Amon Düül II“; oder jene Sequenz, in der Fassbinder plötzlich nicht mehr der „Schwarze Mönch“ ist, sondern nur noch Fassbinder, der Filmemacher, der mit Hanna Schygulla einen Monolog einübt, den man wenige Minuten später in stark stilisierter Form auf der Leinwand zu sehen und zu hören bekommt. Hier legt der Film seine elementaren Mittel bloß, gibt Blicke in Schnürboden und Hinterbühne frei. Auch dies ist eine zweckgebundene Täuschung innerhalb der Täuschung, denn als (durch den Prozess geschulter) Zuschauer weiß man längst um den Inszenierungscharakter auch dieser Szene. Ein weiteres Mittel der Perspektiv-Verschiebung und -Vervielfältigung besteht im massierten Einsatz von visuellen und textlichen Zitaten. Ein meist stummer Begleiter im unmittelbaren Umfeld des Propheten trägt den Namen Antonio, der der filmischen Revolutionsparabel „Antonio das Mortes“ (1968) des von Fassbinder verehrten Brasilianers Glauber Rocha entnommen wurde. Verlesen werden nicht nur Bibelstellen, sondern auch Sätze des Befreiungstheologen Camillo Torres oder des Black-Panther-Theoretikers Eldridge Cleaver. Hier ergibt sich ein Verweis zu Jean-Luc Godards „One plus One“ (1968), in dem bereits Texte von Cleaver proklamiert worden waren. Auch die Kreuzigung Hans Böhms auf einem Autofriedhof zitiert „One plus One“. Lohmanns langsame Plansequenzen in der Horizontalen erinnern nicht zufällig an die von Raoul Coutard in „Week End“ (1967) oder später an die Armand Marcos in „Tout va bien“ (1972). Nie wieder war Fassbinder in seiner Arbeit Godard so nah wie in „Die Niklashauser Fart“, thematisch wie methodisch. Alles andere als ein Epigone, brauchte er diese temporäre Nähe, um sich durch sie zu seiner eigenen künstlerischen Identität durchzuarbeiten.
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