"Freiheit ist etwas zu Kostbares, um in Büchern begraben zu werden. Die Menschen sollten sie hochhalten, jeden Tag ihres Lebens, und sagen: 'Ich habe die Freiheit zu denken und zu sprechen.' Meine Vorfahren konnten das nicht. Ich kann es. Und meine Kinder werden es können." James Stewart sagt das als frischgebackener Senator vom Lande, der in Washington nichts als Korruption antrifft, in Frank Capras "Mr. Smith geht nach Washington" (1939). Ein Zitat und ein Film, die einem ins Gedächtnis kommen, wenn man Kevin Costner in Oliver Stones "JFK" sieht. Obwohl ein halbes Jahrhundert die beiden Filme trennt, obwohl sich das Angesicht der Welt in dieser Zeit vehement verändert hat, kämpft doch auch in diesem Film ein Mann den Kampf gegen eine Übermacht der Korruption und versucht, die Ideale einer Nation zu beschwören, die den Optimismus nicht aufgibt, obwohl sie ihre Unschuld seit langem schon verloren hat.Die Ermordung seines Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963 vermag Amerika nicht aus seinem Bewußtsein zu löschen. Der Tod ihres Helden hat dieser Nation einen Schock versetzt, der die Generationen überdauert. Kennedy steht für die Amerikaner noch heute als Synonym für Ehrlichkeit, Jugend und Erfolg. Nach seinem gewaltsamen Tod ging es mit der einst so stolzen Nation nur noch bergab. Aus Oliver Stones Film kommen die Amerikaner wie aus einer Trauerfeier. Sie haben gerade ihren Präsidenten und ihre Hoffnungen zum zweiten Mal begraben.Es ist nicht so sehr die bohrende Methode, mit der Stone Kennedys Sterben von der Einfahrt in Dallas bis auf den Autopsietisch über und über wiederholt und mit dem Skalpell seines analytischen Schnitts seziert, die das amerikanische Publikum betroffen macht, sondern es ist die überwältigende Menge von Widersprüchen, Fehlleistungen, Verschwörungen und Unterschlagungen, die er vor dem Zuschauer ausbreitet. Sein Jim Garrison, von dem Kenner behaupten, er sei ein stark idealisiertes Abbild des wirklichen Staatsanwalts von New Orleans, trägt in der Darstellung durch Kevin Costner viele Züge des furchtlosen Streiters für Ideale und Gerechtigkeit, wie ihn Frank Capra einst gezeichnet hat. Der wesentlichste Unterschied ist, daß er den Kampf, den er führt, nicht gewinnt, und daß er vielleicht sogar von Anfang an ahnt, daß er ihn nicht gewinnen kann.Involviert wurde Garrison eigentlich nur dadurch, daß Lee Harvey Oswald den Sommer vor der Kennedy-Ermordung in New Orleans verbracht hatte, offenbar für eine linksgerichtete Untergrundorganisation arbeitend. Aus dem zunächst routinehaften Ermittlungsverfahren wird jedoch ein Fall ungeheuren Ausmaßes, als Garrison in den Berichten der Warren-Kommission eine Vielzahl von Ungereimtheiten und Widersprüchen entdeckt, denen er nachzuspüren beginnt. Mit seinem Team von Mitarbeitern konzentriert er sich auf die Fäden, die nach New Orleans laufen, vor allem auf den angesehenen Geschäftsmann Clay Shaw. Die Anklage, die er schließlich erhebt, ist aber viel mehr als nur eine Beschuldigung Shaws, an einem Komplott zur Ermordung Kennedys beteiligt gewesen zu sein, es ist eine Anklage gegen alle hohen Organe des Staates, gegen die amerikanische Großindustrie, die Banken, das FBI und die CIA, sogar gegen Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson. Kennedy mußte sterben, so seine These, weil er das Rüstungswettrennen abbrechen und Amerikas Engagement in Vietnam beenden wollte.Ob man Garrisons Rückschlüssen, wie der Film sie vorträgt, folgen mag oder nicht, ist von geringer Bedeutung. Was den Film beunruhigend macht, ist die Überzeugungskraft seiner Infragestellung jener bis heute offiziellen Version, daß Lee Harvey Oswald der Alleintäter war. 600 Bücher sind in den Vereinigten Staaten über die Ereignisse jenes 22. November 1963 geschrieben worden, die alle ihre Zweifel an den offiziellen Ergebnissen formuliert haben, doch kein Autor hat bisher mit so viel Nachdruck und Emphase gegen das Faktum polemisiert, daß die Untersuchungsergebnisse bis zum Jahre 2029 unter Verschluß bleiben werden. Stones Film ist vollgepackt mit Dialogen, Kommentaren und Mußmaßungen über die Ereignisse, seine (und Garrisons) Argumentation allmählich aus der Vielzahl von Informationen aufbauend. Ihm zu folgen, ist anstrengend, aber auch spannend, weil "JFK" der naheliegenden Gefahr entgeht, unter der Last seiner Texte zu ersticken. Ausgehend von der in den Dimensionen der großen Kinoleinwand ungewohnten Repetition des Dokumentarmaterials über Kennedys Ermordung, bedient sich Stone sehr bald eines Kunstgriffs, der an Costa-Gavras auch inhaltlich verwandten Film "Z"
(fd 16 529) erinnert: er läßt Realität in quasidokumentarischer Art nachspielen. Doch ungleich ähnlichen Dramatisierungen realer Ereignisse, wie sie das amerikanische Fernsehen tagtäglich bereithält, interpoliert er Nachgestelltes permanent und in oft sekundenschnellem Schnitt mit realem Material und mit der eigentlichen "Filmhandlung", den Ermittlungen Jim Garrisons. Daraus entsteht - trotz der ablenkenden, auffallend konventionellen Szenen aus Garrisons Privatleben - ein ungeheuer engagierendes, aber auch nicht ganz unanfechtbares Geflecht, das Emotion und Verstand des Zuschauers unaufhörlich beschäftigt. Die Gefahr dieser Art Kino ist das Risiko, daß der Zuschauer vergißt, im Kino zu sein, und sehr bald alles als Dokumentation ansieht, obwohl vieles davon das Werk des Regisseurs ist. Doch genau das hat Stone mit ziemlicher Sicherheit einkalkuliert. Er will mit diesem Film die Gemüter erregen, die aufgestauten Empfindungen seines Publikums zum Protest kanalisieren, zum Prostest gegen die Apathie einer Nation, die unter ihrer Vergangenheit leidet, aber dennoch kein politisches Bewußtsein entwickelt. Dieses Ziel haben die meisten seiner Filme verfolgt, ob "Platoon"
(fd 26 111), "Wall Street"
(fd 26 649) oder "Geboren am 4. Juli"
(fd 28 167). Sie alle vermittelten das gleiche Engagement, die gleiche Wut, die gleiche bohrende Insistenz, doch "JFK" fügt alledem eine entscheidende Qualität hinzu, den Idealismus eines vollblütigen Reporters, der nicht ruht, bis er seinen Punkt gemacht hat.