Der zynische Körper

Experimentalfilm | Deutschland 1986/90 | 89 Minuten

Regie: Heinz Emigholz

Der Tod eines Freundes veranlaßt eine Gruppe von Künstlern, über ihre Arbeit, die Vergänglichkeit des Körpers sowie die Unvergänglichkeit der Architektur nachzudenken. Dabei vermischen sich Traum und Wirklichkeit, nehmen literarische Fantasien Gestalt an. Eine sehr persönliche, stilistisch oft nicht von Manierismen freie Auseinandersetzung mit Leben, Tod und Kunst vor dem Hintergrund von Homosexualität und AIDS. Emigholz kontrastiert den Raum und die Menschen in ihm; stellt Endlichkeit, Verfall und Sterblichkeit des menschlichen Körpers und die Größe und Dauer steinerner Landschaften in Natur und Kunst zur Diskussion. Formal rigoros, läßt sich der schwierige, aber sehr anregende Film in erster Linie assoziativ erschließen.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1986/90
Produktionsfirma
Pym Films
Regie
Heinz Emigholz
Buch
Heinz Emigholz
Kamera
Heinz Emigholz
Musik
Nikolaus Utermöhlen
Schnitt
Renate Merck
Darsteller
Klaus Behnken (Roy, der Lektor) · Eckhard Rhode (Carl, der Schriftsteller) · Wolfgang Müller (Fred, der Zeichner) · Kyle de Camp (Liza, die Fotografin) · Carola Regnier (Bela, die Übersetzerin)
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Genre
Experimentalfilm
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Diskussion
Carl, der Schriftsteller; die Fotografin Liza; der Architekt Jon; der Zeichner Fred; die Übersetzerin Bela: sie blättern in den Notizbüchern, die ihr verstorbener Freund, der Lektor Roy, Carl hinterlassen hat. Sie erinnern sich an ihr gemeinsames Leben, ihre Arbeit, Träume - und daran, wie einige von ihnen vor Roys Tod in die Kunst flüchten wollten und dort auch nur den Tod wiederfanden, denn das Leben und die Kunst sind genauso eins wie der Tod und die Kunst. Und da die Kunst Leben wie Tod ist, ist sie alles; und alles ist Kunst.

Eine genauere Darstellung der Handlung würde in einer Montageliste enden: der gesamte Film ist ein "patch work" aus Erinnerung, Träumen, Visionen; aus Fotos, Filmszenen und -schnippseln. Roy erwacht. Man folgt ihm eine Weile, er trifft sich mit Jon, sie kommen auf die Notizbücher zu sprechen. Schnitt. Man sieht die fünf Freunde, wie sie in den Aufzeichnungen lesen. Nun erst begreift man, daß man die Gedanken eines der fünf Freunde betrachtete. Von da an bewegt man sich ausschließlich in diesen Realitäten. Aufmerksamkeit ist geboten: Der Mensch, in dessen Welt man reist, wechselt schnell, Erinnerungen werden ineinander verschachtelt, und von der Erinnerung zum Traum ist es nur ein Schnitt oder Schwenk. Und dann sind da noch all die Szenen, die nur noch in der Welt des Regisseurs einen Sinn ergeben und dadurch den Film kenntlich machen als auf Zelluloid gebannten Ausdruck eines Menschen. Diese Kunst steht denn auch im Zentrum des Films: Alle Protagonisten haben mit Kunst zu tun; Rob, der Lederkerl aus den Phantasien Carls und Freds, der die Hauptperson in einem Roman Carls werden soll, ist deren extremste Ausformung: eine Kunstfigur. Der Lederkerl als stärkster Kontrast zu den anderen Normalen; er, der sie verunsichert und ihre Gedanken besetzt, ein kollektives Angstbild, dem die Männer nachlaufen. Alle können Rob begegnen - alle sind Kunstfiguren in der Welt Emigholz'.

Kunst ist auch der Fluchtpunkt vor dem Tod: Manifestation eines Menschen; eine Idee, die ein Menschenleben überdauert. Als Roy im Sterben liegt, begeben sich Carl, Jon und Liza auf eine Reise über Köln und die Pyrenäen nach Barcelona. Liza fotografiert den Kölner Dom und Gaudis Sagrada Familia. Zwei Bauwerke, zwei Konzepte von Architektur: der Dom wirkt mit seinen Pfeilern und Querstreben, den Baugerüsten und Betoninjektionen wie ein menschlicher Körper, krank und schwach, grau im Prozeß des Verfalls. Und dann das Werk Gaudis, geformt nach den Kraftlinien der Natur. Dazwischen noch Pyramide-Le-Perthus, eine postmoderne Geschmacklosigkeit von Riccardo Bofili an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien.

Der Tod läßt die Reisenden nicht los; während der Betrachtung einer anderen Arbeit Gaudis erreicht sie die Nachricht von Roys Tod. Der Tod ist der alles beherrschende Moment des Films: am Anfang und am Ende sieht man eine stilisierte Kaninchen-Retina in Erinnerung an ein Experiment Willy Kühnes, der ein Kaninchen just in jenem Augenblick schlachtete, als es aus dem Fenster blickte. Dieser letzte Augenblick, ein Fensterkreuz, brannte sich in seine Retina ein. Leben - Kunst: Alles ist vorbestimmt. Menschen und Gegenstände haben die gleiche Wertigkeit, Film ist hier das In-Beziehung-Setzen dieser Körper. Der Film besteht folglich fast ausschließlich aus vollendet durchkomponierten Stehkadem, jeder ein Augenblick, Kunstwerk für sich, Teil eines großen Kunstwerks namens Leben. Farbe gibt es nur in den Innenaufnahmen, nur da kann man sie völlig kontrollieren; draußen ist alles grau. Dieser Rigorosität verdankt der Film einige seiner dichtesten Momente: ein Schwarzer bricht Weißes aus; schwarzer Asphalt wird über eine primär grüne Torte gegossen, der Tod bricht über das Leben herein, und alles ist Schein.
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