Das Rennen um die 97. „Oscars“ präsentierte sich vor der Verleihung am 2. März 2025 so offen wie selten. Mit dem als Thriller aufgebauten Papstwahl-Drama „Konklave“, dem Architekten-Epos „Der Brutalist“ und der Independent-Dramödie „Anora“ um eine US-Stripperin und einen russischen Oligarchensohn hatten sich mehrere Filme gleichberechtigt in Stellung gebracht. Bei der Gala wurden die Preise insgesamt unter den nominierten Werken verteilt, am Ende gab es aber doch einen eindeutigen Sieger.
Sie träumen vom Höchsten und wollen wenigstens einen Moment lang glauben dürfen, dass Wirklichkeit wird, worauf sie so lange hingearbeitet haben. Wenn es bei aller Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Motiv der favorisierten Filme bei der 97. „Oscar“-Gala gab, dann war es dieses. Träume sind es, die innerhalb des an sich so nüchtern und streng wirkenden Aufgebots von Kardinälen in „Konklave“ diejenigen hervorstechen lassen, die hoffen, mit ihrer Stimme bei der Wahl des Papstes die beste Entscheidung für die katholische Kirche inmitten des Konflikts zwischen Tradition und Moderne und angesichts globaler Herausforderungen herbeizuführen. Träume befähigen den Architekten László Tóth in „Der Brutalist“, noch immer an seinen revolutionären Ideen für Bauten festzuhalten, nachdem er knapp dem Holocaust entronnen ist, auf Jahre von seiner Frau getrennt wurde und in den USA mit unterschwelligerem, aber nicht weniger zersetzendem Antisemitismus konfrontiert wird. Und Träume bringen die junge Stripperin in „Anora“ dazu, sich trotz des schlechten Rufs ihres Gewerbes nicht den Glauben an Selbstwert, Talent und Attraktivität nehmen zu lassen und Vertrauen in die Beziehung mit einem vergnügungssüchtigen russischen Oligarchensohn zu setzen. Träume allesamt, die sich nicht immer vollständig oder auch gar nicht erfüllen mögen, aber als Persönlichkeitsattribute der Hauptfiguren für die Wirkung dieser Filme von entscheidender Bedeutung sind.
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„Anora“ ist der strahlende Sieger
Was „Anora“ innerhalb dieser Gruppe etwas abhebt, ist das stetig spürbare Gefühl, dass alles hart Erarbeitete auch wieder verloren oder weggenommen werden kann. Eine Überzeugung, die sich nicht nur auf die Angst angesichts einer verunsichernden Weltlage, sondern sehr konkret auch auf die spezifischen Erfahrungen im Film- beziehungsweise allgemein Showgeschäft beziehen lässt.
Es liegt nahe, in den Anstrengungen, Triumphen und Enttäuschungen der jungen, ihr Bestes gebenden und zutiefst an ihren Aufstieg glaubenden Sexarbeiterin Ani in Sean Bakers Film auch viel von den harten Kämpfen wiederzufinden, die auch etliche künstlerisch Tätige durchgemacht haben.
Die Anschlussfähigkeit eines für US-Verhältnisse mit bescheidenen 6 Millionen Dollar realisierten Außenseiterfilms wie „Anora“ bei den glamourösen „Academy Awards“ erwies sich jedenfalls als leichter als im Vorfeld angenommen. Mit sechs Nominierungen war der Film ins Rennen gegangen, was ihn hinter den 13 Nennungen für das französische Musical-Melodram „Emilia Pérez“, den je zehn für das Epos „Der Brutalist“ und das Märchen-Musical „Wicked“ sowie den je acht für die Bob-Dylan-Biographie „Like a Complete Unknown“ und für den Papstwahl-Thriller „Konklave“ eher auf einen hinteren Platz abzuschieben schien. Am Ende der 97. „Oscar“-Verleihung am 2. März 2025 stand „Anora“ allerdings als strahlender Sieger fest. Neben dem „Oscar“ für den besten Film gewann Sean Baker die drei Preise für Regie, Originaldrehbuch und Montage, hinzu kam eine Auszeichnung für Hauptdarstellerin Mikey Madison. Ein unerwartet deutlicher Durchmarsch bei den wichtigsten US-Filmpreisen, nachdem die „Awards Season“ das Rennen lange relativ offengehalten hatte.
Ein Hoch aufs Kino als einzigartiger Ort des Erlebens
Dabei ist „Anora“ im Grunde gar nicht so weit entfernt vom letztjährigen – unbestrittenen und weithin absehbaren – „Oscar“-Triumphator „Oppenheimer“, wie es angesichts der offensichtlichen Unterschiede (6 Millionen Budget gegenüber 100, ein erklärter Independent-Regisseur wie Sean Baker gegenüber einem Blockbuster-Macher wie Christopher Nolan) scheinen sollte. So beschworen Baker und seine Produzenten Alec Coco und Samantha Quan bei der Entgegennahme der Preise das Kino als einzigartigen Ort des Erlebens mit nicht weniger Begeisterung, als dies im letzten Jahr Nolan und seine Frau und Mitproduzentin Emma Thomas getan hatten. „Erzählt die Geschichten, die ihr erzählen wollt, ihr werdet es nicht bereuen!“, sprach Samantha Quan Nachwuchsfilmemachern Mut zu Risiko und Durchhaltevermögen zu. Ein positiver Schluss zu einem Abend, der durchaus auch andere Töne gekannt hatte.
So ließ Adrien Brody, der für seine emotionale Tour de Force in „Der Brutalist“ als bester Hauptdarsteller prämiert wurde, in seiner Dankesrede auch die Unsicherheitsgefühle in seiner Karriere anklingen. Brody war 2003 als bis heute jüngster Schauspieler für seine akribisch erarbeitete Darbietung im Holocaust-Drama „Der Pianist“ geehrt worden, hatte sich in den zwei Jahrzehnten danach aber schwergetan, Rollen von vergleichbarem Anspruch zu finden, und immer wieder auch längere Durststrecken erlebt. Dementsprechend fiel seine Reaktion auf den zweiten „Oscar“ etwas ambivalent aus und umfasste eher die Hoffnung, in den nächsten Jahren an diese Ehre anknüpfen zu können, als ungebrochenen Optimismus.
Damit brachte er eine nachdenkliche Note in die Kür der Darsteller, die auch drei andere verdiente Gewinner fand. Die 25-jährige Mikey Madison gewann für ihre beherzte Interpretation der Titelrolle von „Anora“, Kieran Culkin krönte sein mit der Serie „Succession“ ab 2018 gestartetes Comeback mit der Nebendarsteller-Auszeichnung für „A Real Pain“, Zoe Saldana nahm den Preis als Nebendarstellerin für „Emilia Pérez“ entgegen.
Ihre emotionalen Äußerungen gehörten zu den denkwürdigen Augenblicken der einmal mehr gefährlich auf die Vierstunden-Marke zugehenden Gala, in der sich ansonsten Sean Baker auch durch seine präzise zu den Themen passenden Dankesreden als gute Wahl für seine „Oscar“-Gewinne erwies: Als Drehbuchautor würdigte er die Bereitschaft echter Sexarbeiterinnen, ihre Erlebnisse mit ihm zu teilen, als Editor hob er den wichtigen Anteil seiner Montage an seinem Film hervor, als Regisseur warnte er vor dem rapiden Schwinden der Kinosäle. In der Dramaturgie des Abends war Baker damit ein verlässlicher Pfeiler, der vor allem im ersten und letzten Teil der Show zur Geltung kam. So war die relativ frühe Verleihung der Drehbuchpreise eine letztlich glückliche Entscheidung der Showproduzenten, da sie „Anora“ bereits als Faktor etablierte, mit dem Preis an „Konklave“ für das beste adaptierte Drehbuch aber auch noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden möglich schien. Da „Konklave“ in den zwei Wochen vor der „Oscar“-Verleihung bei den britischen Filmpreisen noch die Nase vorn gehabt hatte und auch den Ensemble-Preis bei den „Screen Actors Guild Awards“ gewonnen hatte, war der Film des deutschen Regisseurs Edward Berger lange ein Mitfavorit gewesen.
Nach dem Sieg von „Anora“ in der Schnitt-Kategorie kurz darauf hatte die Aufmerksamkeit der Gala sich allerdings zuerst auf andere Filme verlagert. Die schon in früheren Jahren zu findende Absicht der „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“, ihre Preise zu streuen, trug auch 2025 zur Abwechslung der Show bei. Unter den Konkurrenten um den „besten Film des Jahres“ gingen lediglich die Romanverfilmung „Nickel Boys“ und „Like a Complete Unknown“ leer aus. „Der Brutalist“ wurde neben der Auszeichnung für Adrien Brody auch für Kamera und Musik geehrt, „Dune: Teil 2“ gewann für Ton und Spezialeffekte, „Wicked“ für Produktionsdesign und Kostüme, „The Substance“ für Make-up & Hairstyling, „Emilia Pérez“ neben der Ehrung von Zoe Saldana auch für den besten Song.
Damit konnte sich neben den Filmkomponisten Camille und Clément Ducol auch Regisseur Jacques Audiard als Song-Mitautor in die „Oscar“-Annalen einschreiben, während ihm die Auszeichnung für den besten internationalen Film verwehrt blieb. Diese ging an „Für immer hier“ über die Wunden der brasilianischen Militärdiktatur, womit Frankreich erneut den ersten Gewinn dieser Kategorie seit über dreißig Jahren verpasste, ebenso wie der für Deutschland ins Rennen geschickte Film „Die Saat des Heiligen Feigenbaums“ des Iraners Mohammad Rasoulof. Da „Für immer hier“ allerdings gleichfalls auch in der Hauptkategorie zu den zehn Kandidaten gehört hatte, kam auch diese Auszeichnung zumindest nicht völlig unerwartet.
Eine Gala in routinierter Form
Auch ansonsten war 2025 der Willen der „Academy“-Mitglieder spürbar, die mit den „Oscars“ identifizierte Filmauswahl zu erweitern. Mit dem lettischen Animationsfilm „Flow“ hatte die Animationskategorie so zum ersten Mal einen Gewinner, der nicht aus einem englischsprachigen Herkunftsland oder aus Japan stammte. Die Dialoglosigkeit von „Flow“ mag eine Rolle dabei gespielt haben, in jedem Fall aber ist dies eine überfällige Öffnung dieses Bereichs – in dem lange fast nur Pixar- oder Disney-Filme ausgezeichnet wurden – für internationale Spielarten der Animationskunst, deren Bedeutung in der Show auch angemessen zur Sprache kam. Insgesamt verlief die Gala in routinierter Form, wobei die Preise die Höhepunkte darstellten. Die erstmalige Moderation des Late-Night-Hosts Conan O’Brien enthielt wenig misslungene Gags, aber auch wenig inspirierte Höhenflüge, was an die Anfänge seines Kollegen Jimmy Kimmel erinnerte, der sich bei seinen vier Auftritten als „Oscar“-Gastgeber zwischen 2017 und 2024 auch erst langsam gesteigert hatte.
Schwächen besaß die Verleihung vor allem im Ungleichgewicht der Präsentationen, indem manche Kategorien in aller Knappheit abgehandelt wurden, während bei Kamera und Kostümen alle Nominierten jeweils einzeln von Schauspielstars der Filme vorgestellt wurden. Eine im Ansatz zu lobende individuelle Würdigung, die zur Länge der Show freilich das Ihre beitrug, ebenso wie einige wenig zwingende Showeinlagen: So setzte die „Oscar“-Gala eine Choreographie zu Ehren der „James-Bond“-Saga in Szene und erinnerte an den verstorbenen Filmkomponisten und Musikproduzenten Quincy Jones – allerdings nicht mit einem von dessen eigenen Songs, sondern mit einer Version von „Ease on Down the Road“ aus dem Musical „The Wiz“, für dessen Filmadaption von 1978 Jones die Musik bearbeitet hatte.
Mehr Zuversicht!
Auch der Einbezug der kürzlichen Brandkatastrophe von Los Angeles, bei der angesichts von tausenden verbrannten Häusern die Klagen gutgestellter Hollywood-Stars über ihre Verluste viel Kritik hervorgerufen hatte, geriet in der Gala etwas holprig. Der Auftritt einiger Feuerwehrleute auf der Showbühne hatte etwas Alibimäßiges, als hätten die Hinweise der Leiter der „Academy“ auf Spende-Möglichkeiten für Brandopfer nicht ausgereicht. Im Aufbau der Show zeigte sich doch wieder die tiefsitzende Unsicherheit, die in der Filmbranche bereits seit Jahren durch die aufeinanderfolgenden und parallelen Bedrohungen – Streaming-Dienste, YouTube- und TikTok-Konkurrenz, Corona-Pandemie – für furchtsame Reaktionen sorgt. Dabei könnte die Kinobranche ebenso gut mit Stolz und Zuversicht auf ihre Gegenwart und Zukunft blicken. Angesichts von einem Filmaufgebot, wie es sich nun bei der 97. „Oscar“-Verleihung präsentierte und seiner Macher, die weiterhin für das Kino brennen.
Die "Oscars" 2025 im Überblick
Film: „Anora“
Regie: Sean Baker für „Anora“
Hauptdarstellerin: Mikey Madison für „Anora“
Hauptdarsteller: Adrien Brody für „Der Brutalist“
Nebendarstellerin: Zoe Saldana für „Emilia Pérez“
Nebendarsteller: Kieran Culkin für „A Real Pain“
Originaldrehbuch: Sean Baker für „Anora“
Adaptiertes Drehbuch: Peter Straughan für „Konklave“
Kamera: Lol Crawley für „Der Brutalist“
Produktionsdesign: Nathan Crowley, Lee Sandales für „Wicked“
Kostüme: Paul Tazewell für „Wicked“
Schnitt: Sean Baker für „Anora“
Originalmusik: Daniel Blumberg für „Der Brutalist“
Originalsong: Camille, Clément Ducol, Jacques Audiard für „El Mal“ in „Emilia Pérez“
Ton: Gareth John, Richard King, Ron Bartlett, Doug Hemphill für „Dune: Teil 2“
Spezialeffekte: Paul Lambert, Stephen James, Rhys Salcombe, Gerd Nefzer für „Dune: Teil 2“
Make-up & Hairstyling: Pierre-Olivier Persin, Stéphanie Guillon, Marilyne Scarselli für „The Substance“
Animationsfilm: „Flow“
Dokumentarfilm: „No Other Land“
Kurzfilm (Live-Action): „I’m Not a Robot“
Kurzfilm (Dokumentarfilm): „The Only Girl in the Orchestra“
Kurzfilm (Animation): „In the Shadow of the Cypress“
Internationaler Film: „Für immer hier“