© cineworx (Publikumspreis für "Quir" von Nicola Bellucci)

60. Solothurner Filmtage: Im Blick des anderen

Notizen zu den 60. Solothurner Filmtagen vom 22. bis 29. Januar 2025, bei denen vor allem die Arbeiten junger Filmschaffender überraschten

Aktualisiert am
28.02.2025 - 17:13:08
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Vom 22. bis 29. Januar fanden die 60. Solothurner Filmtage statt. Sie überraschten mit einer Retrospektive zum Juragebiet als filmischer Landschaft, widmeten sich der Attraktion biografischer Filme und boten 24 Weltpremieren. Vorherrschende Themen waren Familien- und Lebensgeschichten, Vergangenheitsbewältigung und (Zukunfts-)Träume. In Erinnerung bleiben vor allem die Arbeiten junger Filmschaffender, die sich durch ihre originelle Gestaltung auszeichnen.



Ihn interessierten, sagte Regisseur Piet Baumgartner vor der Vorführung von „Bagger Drama“ in Solothurn, „Menschen, Maschinen und Gefühle“. Er hat damit ziemlich präzise umschrieben, wobei es in seinem wenige Tage davor auch beim Festival Max Ophüls Preis in Saarbrücken mehrfach ausgezeichneten Film geht. Er hat aber ausgelassen, was diesen vor allem auszeichnet, nämlich Baumgartners Flair für das sich in Bild und Ton manifestierende Rhythmische: die wie Tänze choreografierten und von Musik unterlegten Auftritte von Baggern sowie diverse Momente, in denen nicht Menschen, sondern Maschinen, Geräte und von diesen verursachte Geräusche im Mittelpunkt stehen. Nebst den Baggern etwa ein Roboterstaubsauger, ein Elektroroller, ein brandneues Elektroauto, ein automatisch verstellbares Pult und ein Spitalbett, bei dem sich Kopf- und Fußteil per Knopfdruck bewegen lassen.

Geschildert wird in „Bagger Drama“ der Einfluss, den der Unfalltod einer Neunzehnjährigen auf ihre Familie – Mutter, Vater, Bruder – hat. Erzählt wird elliptisch und in Zeitsprüngen von Jahren, im Fokus steht die fehlende Auseinandersetzung der Familienmitglieder miteinander beziehungsweise die emotional aufgeladenen Momente, in denen diese nicht mehr zu vermeiden ist und eskaliert. Rettung gibt es für die Familie, die im Berner Seeland ein Baggerunternehmen betreibt, nicht, wohl aber eine Zukunft, von der niemand weiß, was sie bringen wird.


Kriegerische und politische Auseinandersetzungen

„Bagger Drama“ wurde in Solothurn in der lange Dokumentar- und Spielfilme beinhaltenden Sektion „Panorama“ gezeigt. Er stand zudem mit fünf weiteren Werken in der Auswahl für den „Prix de Soleure“, der an einen „herausragenden Film mit gesellschaftskritischem Thema“ verliehen wird. Abgesehen von Baumgartners Film, der sich als einziger mit der Zerrüttung einer Schweizer Mittelstandsfamilie auseinandersetzt, entpuppte sich diese Auswahl als erstaunlich homogen. Den Hintergrund aller fünf Filme – unter ihnen etwa „Dom“ von Svetlana Radina und Laurent Stoop und Damaris Lüthis „Unter Mangobäumen“ – bilden kriegerische Auseinandersetzungen, gesellschaftliche Unruhen und politische Umwälzungen. Im Zentrum stehen Menschen, die Widerstand leisten und opponieren, durch Kriege und gewalttätige Auseinandersetzung traumatisiert und in die Flucht getrieben werden. Selbst Léa Pools „Hôtel Silence“, in dem ein lebensüberdrüssiger Kanadier in einem kriegsversehrten europäischen Land wieder zum Sinn des Lebens findet, dreht sich letztlich mehr um die Kriegstraumata als die Versehrtheit des Protagonisten.

"Hotel Silence" von Lea Pool (Les Films Opale)
"Hotel Silence" von Lea Pool (© Les Films Opale)

Mit dem „Prix de Soleure“ ausgezeichnet wurde Maja Tschumis Langzeitdokumentation „Immortals“, die assoziativ montiert Eindrücke der irakischen Oktoberrevolution von 2019 vermittelt. Im Mittelpunkt stehen der junge Filmemacher Khalili, der mitten während der Ereignisse die Macht seiner Kamera im Kampf gegen das Regime entdeckt, und die willensstarke Milo, die sich außerhalb ihres Zuhauses als Mann ausgibt und dabei neue Freiheiten entdeckt, in Bagdad für sich aber immer weniger eine Zukunft sieht. Tschumis Film zeichnet sich aus durch eine faszinierende nichtlineare Erzählweise, in der dokumentarische Aufnahmen, fiktive und zum Teil nachgestellte Szenen unmittelbar ineinander übergehen.


Unbeschwertere „Visioni“

Als unbeschwerter und heiterer entpuppten sich die zwei Spielfilme und fünf Dokumentarfilme, die als erstes oder zweites Werk einer Regieperson für die Auszeichnung „Visioni“ nominiert waren. Sie trugen Titel wie „Vracht“, „Osteria all’undici“ und „Milchzähne“, handelten von jugendlichen Träumen, psychischer und physischer Befindlichkeit oder erzählten dystopisch von einer weltabgekapselten Gesellschaft, die in einem Wald lebt, an Hexen und Geister glaubt und alles von außen Kommende ablehnt. Visuell herausgestochen unter den sieben Filmen sind „Norma Dorma“ von Lorenz Suter und Eleonora Camizzis „Bilder im Kopf“. Suters Film dreht sich um eine junge Frau, die sich nach dem Verschwinden ihres Lebenspartners immer stärker in ihren Träumen und den tieferen Ebenen ihres Bewusstseins verliert, in „Bilder im Kopf“ stellt die Regisseurin ihrem als schizophren diagnostizierten Vater Fragen, die sie ihm bisher zu stellen sich nicht getraute.

Vater und Tochter in "Bilder im Kopf" (am Limit)
Vater und Tochter in "Bilder im Kopf" (© am Limit)

Suter stellt in „Norma Dorma“ der in Zürich spielenden Realität die landschaftlich sensationellen und zunehmend rosa eingefärbten Bilder von Normas auf dem Julierpass verorteter Seelenlandschaft gegenüber; Eleonora und ihr Vater begegnen sich weiß eingekleidet in einem in Weiß gehaltenen Raum, an dessen einer Wand ein Fenster den Blick aufs Meer freigibt. Beide Filme kennzeichnet inhaltlich wie auch gestalterisch der Mut zum Außergewöhnlichen und somit einer persönlichen Handschrift. Den Preis „Visioni“ mit nach Hause nehmen durfte Eleonora Camizzi, deren Film die Jury nicht nur durch seine ausgefeilte Ästhetik beeindruckte, sondern auch durch Nähe der Figuren und die Ehrlichkeit der Erzählung.


Zwischen Filmlandschaft und Publikum

Niccolò Castelli hat die „Visioni“ vor drei Jahren ins Leben gerufen mit dem Ziel, Produzierenden einen Anreiz zu geben, junge Filmemachende von Beginn ihrer Karriere weg zu begleiten. Die Förderung des Nachwuchses, das Vernetzen über Generationen und Sprachgrenzen hinweg, die Vermittlung filmischen Wissens und der Austausch zwischen Filmemachenden und Publikum sind dem künstlerischen Leiter von Solothurn auch in seinem dritten Jahr ein großes Anliegen. In einem anlässlich des Jubiläums anberaumten längeren Gespräch mit dem „Filmbulletin“ erklärte er, dass er sich „als Übersetzer zwischen der Filmlandschaft und dem Publikum“ verstehe und es in Solothurn „keine roten Teppiche, Absperrwände und Foto-Walls“ braucht, sondern im Zentrum der Filmtage die Filme und die Auseinandersetzung damit stehen soll.

Niccolò Castelli ist beim Festival selber sehr präsent, erwähnt aber bei jeder Gelegenheit, dass das Gelingen des Festivals nicht sein alleiniges Verdienst sei, sondern das des gesamten, Teams. Er ist im Auftritt bescheiden und nahbar, auch fürs Publikum. Er steht manchmal in einem Kinosaal, kündigt Filmvorstellungen an und moderiert die danach stattfindenden Gespräche. Er taucht an den unterschiedlichsten Veranstaltungsorten auf und findet fast immer ein paar Minuten, um zwischendurch mit jemandem ein paar Worte zu wechseln. Vor allem aber sitzt er jeden Vormittag um 10.15 Uhr eine Stunde lang im Saal des Restaurants „Kreuz“ und moderiert die Gesprächsreihe „Fare Cinema“, in der ausgehend vom Programm mit Filmemachenden, Mitgliedern des Programmteams und dem Publikum diverse Aspekte des Schweizer Filmschaffens diskutiert werden. In den diesjährigen Gesprächen aufgegriffen wurde etwa das Reden über Geld in Schweizer Filmen, das Casting als Kunst der Familiengründung und unter der Überschrift „Memento“ das auslösende Moment und Funktionieren des Sich-Erinnerns in biografischen Dokumentationen.


Die Attraktion biografischer Filme

Dem biografischen Film kam bei den 60. Solothurner Filmtagen besondere Aufmerksamkeit zu. Beginnend mit Thomas Haemmerlis Eröffnungsfilm um einen Schweizer Immobilien-Tycoon und Kunstsammler („Die Hinterlassenschaft des Bruno Stefanini“) waren allein schon im „Panorama“-Programm etliche Biopics zu entdecken. Darüber hinaus hat man 2025 auch das internationale Fokus-Programm biografischen Filmen gewidmet. Es trug den kecken Titel „Alles Bio/100% bio“ und versuchte in einer Auswahl von acht Werken zu ermitteln, woher die ungemeine Attraktion von Filmen, die eigentlich nichts anderes tun, als das Leben anderer Menschen zu beleuchten, kommt.

Provokativ: "Der Soldat Monika" von Paul Poet (Freibeuter Film)
Provokativ: "Der Soldat Monika" von Paul Poet (© Freibeuter Film)

Nebst Andreas Dresens „Gundermann“ zu sehen waren im „Fokus“-Programm André Schäfers „Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann“, in dem die Biografie des Schriftstellers und die von ihm geschaffene Romanfigur Felix Krulls in faszinierender Weise ineinander übergehen, und Paul Poets Doku-Porträt „Der Soldat Monika“ über die Transaktivistin, Elitesoldatin und von Rechtsextremisten gefeierte Schriftstellerin Monika Donner.

Das eigentliche Solothurner Jubiläumsprogramm aber war die Retrospektive „Imaginaires du Jura“, die auf die sich vom Schweizer Mittelland bis nach Frankreich erstreckende Landschaft des Jura-Gebirgszuges als filmischer Ort fokussierte. Im Laufe von elf Jahrzehnten entstanden gemäß den Kuratoren im Jura über 200 kurze und lange Filme. Der älteste in der Retrospektive gezeigte Jura-Film war der 1936 von der Cinégram SA realisierte „Plongeons“, die bekanntesten Franz Schnyders „Gilberte de Courgenay“ (1941), Alain Tanners „No Man’s Land“ (1985) und Greg Zglinskis „Tout un hiver sans feu“ (2004). Zu den jüngsten Jura-Filmen gehören Franck Duboscs schwarze Komödie „Un ours dans le Jura“ und Louise Courvoisiers feinfühliges Coming-of-Age- und Käserei-Drama „Vingt Dieux“.

Parallel zur Retrospektive zeigte das Kunstmuseum Solothurn eine sehenswerte Ausstellung über den Jura als topografische Protagonistin der Kunst. Begleitend zu Ausstellung und Filmretrospektive ist eine als „Drehbuch“ gestaltete Sondernummer des Reisemagazins „Transhelvetica“ erschienen, die unter der Überschrift „Jurassic Road“ die diversen im Jura gelegenen Drehorte und Wege dahin beschreibt.


Publikumspreis für das Porträt "Quir"

Die 60. Solothurner Filmtage sind am 29. Januar mit der „Soirée de clôture“ und der Verleihung des „Prix de Soleure“ und des Publikumspreises zu Ende gegangen. Die Auswahl der acht für den Publikumspreis nominierten Filme präsentierte sich ausnehmend vielfältig und unterhaltsam. Sie beinhaltete unter anderem Kerstin Poltes Bombenentschärfungsdrama „Blindgänger“, Maria Nicolliers von Genf nach Taiwan führendes Brüderdrama „Road’s End in Taiwan“ und Simon Baumanns Familienporträt „Wir Erben“, das der Frage nachgeht, inwiefern die Träume der Eltern diejenige der Kinder sein müssen. Den „Prix du Public“ gewonnen hat Nicola Bellucci mit „Quir“, einem mitreißend feinfühligen, sehr humanen und zugleich humorvollen Dokuporträt über ein Schwulenpaar, das in Palermo ein Lederwarengeschäft betreibt, welches gleichzeitig Treffpunkt der lokalen LGBTQI+-Community ist.

Alle treffen sich bei & "Quir" (soap factory)
Alle treffen sich bei Massimo & Gino: "Quir" (© cineworx)

Die erste, noch geschätzte Bilanz des Festivals fällt mit über 65.000 verzeichneten Eintritten leicht höher als 2024 aus und ist somit erfreulich. Überhaupt dürften die 60. Solothurner Filmtage, die nicht nur mit einem sorgfältig kuratierten und abwechslungsreichen Programm überzeugten, sondern im Unterschied zu anderen Jahren nicht in eisiger Winterskälte, sondern bei fast schon frühlingshaftem Wetter stattfanden, sich als eine der schönsten und angenehmsten in Erinnerung schreiben. Und das ist sowohl das Verdienst des künstlerischen Leiters Niccolò Castelli und der operativen Leiterin Monica Rosenberg als auch des ganzen restlichen Teams der Soloturner Filmtage.

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