© Letterboxd (Logo & Screenshot)

Spielwiese des freien Denkens übers Kino

Die Online-Plattform Letterboxd: Eine Verteidigung

Veröffentlicht am
30. Oktober 2024
Diskussion

Kürzlich publizierten wir einen Essay zur boomenden Plattform Letterboxd, in der sich Autor Patrick Holzapfel kritisch mit deren Auswirkungen auf die Diskurse der Filmkritik auseinandersetzte. Lukas Foerster, selbst Nutzer der Seite, auf der Filme bewertet, kommentiert und in Listen verarbeitet werden, hält dagegen: Auch wenn diverse Einwände gerechtfertigt sind, ist Letterboxd derzeit einer der spannendsten Orte im Netz, um über Filme zu schreiben und zu lesen.


Woher der Begriff „Letterboxed“ kommt, ist mittlerweile fast schon Mediengeschichte: Letterboxing geschieht mit einem in einem Breitbildformat aufgenommenen Film, wenn er auf einem inzwischen altmodischen Bildschirm im 4:3-Format ausgestrahlt wird und dabei oben und unten, um die Seitenverhältnisse des Originalfilms zu bewahren, horizontale schwarze Balken den Bildraum begrenzen. Es handelt sich mithin um einen Fachbegriff der etwas nerdigeren Art; umso mehr, als das Letterboxing in der aktuellen Medienlandschaft keine allzu große Rolle mehr spielt, da die allermeisten Fernseh- und Computerbildschirme bereits das Breitbildformat 16:9 haben. Die komplementäre Praxis des „Pillowboxing“, bei dem ein im alten Standardformat 1.375:1 aufgenommener Film auf einem aktuellen Bildschirm rechts und links um vertikale Balken ergänzt wird, dürfte inzwischen deutlich relevanter sein.


Umarmung der Nerdkultur

Wenn eine der derzeit wichtigsten filmbezogenen Websites sich „letterboxd“ nennt, stellt also bereits die Namenswahl eine Umarmung der Nerdkultur dar. Letterboxd möchte offensichtlich – ein Besuch der Seite bestärkt einen schnell in der Annahme – mehr sein als nur ein weiteres Schaufenster für die den Weltmarkt und die meisten anderen Filmwebsites beherrschenden Hollywoodhits der Stunde. Zu kurz kommen die jeweils aktuellen Blockbuster auf der Seite zwar keineswegs, doch der Anspruch der Seite ist offenkundig ein anderer: Sie geht zum einen von einem Begriff von Kino aus, der in der Theorie die gesamte Filmgeschichte beinhaltet; zum anderen und vor allem spricht sie ihre Besucher nicht primär als Filmfans an, sondern als Produzenten und Konsumenten von „user generated content“: Letterboxd ist ein auf Bewegtbilder spezialisiertes soziales Netzwerk und als solches außerordentlich erfolgreich.

Patrick Holzapfel hat im Filmdienst Letterboxd zuletzt einen Essay gewidmet, der sich der Website differenziert nähert, letztlich jedoch ein skeptisches Fazit zieht. Zwar erkennt Holzapfel an, dass Letterboxd das Kino "aus dem verstaubten Muff einer Kunst der Vergangenheit" befreit und vor allem von jungen und sehr jungen Filmfans genutzt wird. Gleichwohl ist er der Ansicht, dass die Website die Unterscheidung zwischen Kritik und Marketing absichtsvoll unterläuft und dass Sinn und Zweck der Unternehmung letztlich in der „Generierung einer riesigen Datenmenge“ bestehen, „die sich in Kapital übertragen lässt".

Das Plattform-Angebot (© Letterboxd)
Das Plattform-Angebot (© Letterboxd)

Ich möchte im Folgenden teils mit, teils gegen Holzapfel eine etwas andere Perspektive auf Letterboxd entwerfen, die weniger die kaum zu leugnenden problematischen Aspekte der Website als ihr in meinen Augen gleichwohl außerordentliches Potenzial als eines neu entstandenen Medium fürs Schreiben über Film ins Zentrum rückt. Ich tue das explizit als Nutzer der Seite: Ich bin selbst auf Letterboxed unterwegs und zwar sowohl aktiv als auch passiv, als Schreibender und als Leser.


Zwangsstörung oder Medienkompetenz?

Holzapfels Text ist, noch einmal, keineswegs ein polemischer Rundumschlag. Und viele der Kritikpunkte, die er gegen die zumindest in manchen Ecken der Filmbranche grassierende Letterboxd-Euphorie anführt, haben zweifellos Hand und Fuß. In der Tat finden auf Letterboxd tiefschürfende Analysen meist weniger Zuspruch als griffige "oneliner", also Bonmonts, die, nur zum Beispiel, Christopher Nolans "Tenet" mit den Worten "the way christopher nolan looks at time is how quentin tarantino looks at feet" ("Christopher Nolan behandelt Zeit, wie Quentin Tarantino Füße behandelt" - die Anspielung bezieht sich auf Tarantinos vermeintlich fetischistisches Verhältnis zu Frauenfüßen) zusammenfassen. Zudem lässt sich kaum leugnen, dass Letterboxd Verhaltensweisen positiv verstärkt, die an Zwangsstörungen erinnern und dem Narzissmusspektrum zuzuordnen sind: Die Möglichkeit, alles aufzulisten, das man gesehen hat, schlägt nur allzu schnell in den inneren Zwang um, so viel wie möglich zu sehen, um es dann auch auflisten zu können. Ob aus dieser Tatsache bereits, wie Holzapfel es nahelegt, genuin identitätsbildende Effekte entstehen, ob Letterboxd-Nutzer sich also in der Tat über die Filme, die sie sehen, in irgendeinem relevanten Sinn definieren, steht auf einem anderen Blatt. Man könnte ja auch von Medienkompetenz sprechen, beziehungsweise von der gesteigerten Fähigkeit der Kompartmentarisierung. Filmen wird einerseits der Platz zugewiesen, den sie faktisch in der modernen Lebenswelt einnehmen: als eine unter vielen möglichen popkulturellen Interessenssphären. Andererseits lässt die Seite, gerade auch mit Blick auf Konkurrenzunternehmungen wie Rotten Tomatoes (siehe unten), durchaus Raum für die Artikulation individueller Erfahrung.

Listen-Lust (© Letterboxd)
Listen-Lust (© Letterboxd)

Man könnte weitere Kritikpunkte ergänzen. Zum Beispiel den Überhang an moralischer im Vergleich zu ästhetischer Kritik, den Drift hin zum moralischen Absolutismus gerade in Bezug auf politische Reizthemen, der verlässlich "likes" en masse produziert. Die gefühlte linksliberale Hegemonie auf Letterboxd verschleiert dieses Problem derzeit noch teilweise (man muss ja nicht unbedingt Filme anklicken, die sich, sagen wir, mit dem Nahostkonflikt beschäftigen) - es steht zu befürchten, dass der derzeitige rapide Nutzeranstieg der Seite in dieser Hinsicht nicht gut bekommen wird. Auch erweist sich die Kommentarfunktion unter den geposteten Kritiken und Listen zumeist als wenig hilfreich, teils auch als frustrierend. Zwar sorgt in der Tat, wie Holzapfel anmerkt, die konsequente Löschung wüster Beschimpfungen dafür, dass man sich in diesen Kommentarsträngen im Allgemeinen wohler fühlt als in einschlägigen facebook- oder x-Wutbürgerthreads; aber ein Forum für tiefergehende Auseinandersetzungen oder auch den Austausch von Expertenwissen entsteht auf Letterboxd nur in Ausnahmefällen. Zu sehr ist die kommunikative Infrastruktur der Seite auf die bloße Akkumulation von Meinungen und Affekten zugeschnitten.


Der interessanteste Ort im Netz, um über Filme zu schreiben

Dass Letterboxd letztes Jahr de facto von einer kanadischen Holding übernommen wurde und sich seither, worauf Holzapfel zurecht verweist, zumindest auf der Startseite der inhaltliche Schwerpunkt verlagert – weg von "user generated content" hin zu tatsächlich weitgehend marktkonformen redaktionellen Beiträgen – lässt schließlich in der Tat Böses ahnen. Vielleicht wird man bald einen Abgesang auf Letterboxd schreiben müssen, als einen weiteren gescheiterten Versuch, die Potentiale des Internets für eine neue, demokratischere Form der Filmpublizistik zu nutzen.

Aber noch ist es, glaube ich, nicht so weit. Noch ist Letterboxd, mit einigem Abstand, der interessanteste Ort im Netz (und wahrscheinlich: nicht nur dort), an dem derzeit über Film geschrieben wird. Denn das ist, soviel gilt es zunächst festzuhalten, nach wie vor die zentrale Attraktion der Seite, vermutlich noch vor ihrer Funktionalität als Gedächtnisstütze hinsichtlich vergangener eigener Kinobesuche: Sie regt dazu an, Texte über Filme zu lesen und selbst zu verfassen. Wäre Letterboxd tatsächlich in erster Linie ein Medium der Mnemotechnik und der Listenproduktion, hätte die Seite kaum die Dominanz innerhalb der Filmkultur erlangen können, die ihr derzeit zuzukommen scheint.

Tatsächlich würde ich Letterboxd auch noch in seiner aktuellen Form gegen einige der Vorwürfe, die Holzapfel vorbringt, verteidigen. Das betrifft zum Beispiel das Verhältnis der Plattform zum Marketing. Selbstverständlich versucht die Filmindustrie, aus der Popularität der Seite Profit zu schlagen - sie wäre schön blöd, wenn sie dies unterlassen würde. Werbung versucht stets, die Menschen da abzuholen, wo sie stehen. Aber der Umkehrschluss, dass überall, wo Werbung stattfindet, alles in ihrem Bann steht, ist, scheint mir, dennoch nicht allzu hilfreich.


Dezentrale Struktur gegen Marktinteressen

Zumindest lässt sich mit einigem Recht die These bezweifeln, dass ausgerechnet Letterboxd eine Goldgrube für die Filmvermarktung darstelle. Blicken wir doch einmal zurück in die noch gar nicht so ferne Vergangenheit, als die Printmedien die Presselandschaft beherrschten: Verleiher und Presseagenten hatten damals die Möglichkeit, mit einigen wenigen Anrufen bei den verantwortlichen Redakteuren der großen Tageszeitungen die Berichterstattung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Naiv, wer glaubt, sie hätten von dieser Möglichkeit niemals Gebrauch gemacht oder wären verlässlich an den betonharten journalistischen Standards der alten Qualitätsmedien gescheitert. Der dezentrale Publikationsmodus von Letterboxd verhindert derartig direkte Einflussnahmen weitgehend. Den Presseagenten, die mit der Aufgabe betraut sind, die "Klarnamen" und Kontaktdaten populärer Letterboxd-Accounts herauszufinden und die entsprechenden Nutzer anschließend zu kontaktieren, kann man nur viel Geduld und Frustrationstoleranz wünschen. Sie werden beides brauchen.

Die dezentrale Struktur aus vielen User-Accounts mit Listen, Reviews etc. sträubt sich gegen Marktvereinnahmung (© Letterboxd)
Die dezentrale Struktur aus vielen User-Accounts sträubt sich gegen Marktinteressen (© Letterboxd)

Gegen solche Argumente werden häufig die Algorithmen ins Feld geführt, die, so die Annahme, einen deutlich zielgenaueren Zugriff auf Konsumentenentscheidungen ermöglichen. Ich bin mir da nicht so sicher. Auch Letterboxd hat ja, lässt sich zum Beispiel einwenden, offensichtlich nicht verhindern können, dass in den letzten Jahren "datenoptimierte" Franchisefilme reihenweise Millionenverluste an den Kinokassen eingefahren haben, und auch nicht, dass der Streamingboom ins Stocken geraten ist. Selbst die wirtschaftliche Zukunft des Onlinegiganten Netflix, dem Aushängeschild datenbasierter Filmkultur, ist, wiewohl sich die Firma von ihrer zwischenzeitlichen Schwächephase wieder erholt zu haben scheint, keineswegs gesichert. Analysen der gegenwärtigen Medienwelt neigen oftmals dazu, die Macht, beziehungsweise die Reichweite der Algorithmen zu überschätzen. Oder, genauer, sie unterschätzen eine zentrale Eigenschaft der neuen automatisierten Schrittmacher der Medienbranche: ihre Instabilität.


Vielfalt statt Mittelwert

Im engeren Bereich der Onlinemedien wiederum lohnt ein Vergleich mit dem vermutlich größten Letterboxd-Konkurrenten in der aktuellen Webpublizistik: mit dem Filmkritik-Akkumulator Rotten Tomatoes. Einer Seite, die sich in der Tat komplett jenem Kurzschluss von Kritik und Marketing verschreibt, den Holzapfel bei Letterboxd verortet. Bei Rotten Tomatoes wird Kritik auf ein binäres Geschmacksurteil verkürzt und den Filmen anschließend ein Durchschnittswert zugeordnet, der sie "vergleichbar" macht, ohne dass man so recht sagen könnte, worauf sich dieser Vergleich bezieht. Der "Rotten Tomatoes Score" ist in der Tat wie dafür gemacht, umstandslos in Werbekampagnen integriert zu werden. Anders als im Fall der "blurbs", also Exzerpten aus Filmkritiken, die zu Werbezwecken zum Beispiel auf Filmpostern platziert werden, abstrahiert der "RT-Score" noch vom letzten Überrest der jeweils einzigartigen Begegnung eines Individuums mit einem Film.

Auf Letterboxd nun findet sich gerade kein Äquivalent des RT-Scores. "Durchschnittswerte" der Bewertung der einzelnen Filme durch die Benutzer werden zwar erhoben, sie dominieren die Einträge der jeweiligen Filme auf der Website jedoch keineswegs. Stattdessen kann ich mich auf der Letterboxd-Page eines Films auf einen Blick darüber informieren, welche meiner virtuellen Bekannten denselben ganz toll, und welche ihn komplett fürchterlich finden. Zumindest bei Filmen mit einer gewissen Sichtbarkeit existieren tatsächlich fast stets beide Extreme nebeneinander, zuzüglich aller Schattierungen zwischendrin. Und oftmals lassen sich zumindest kursorische Begründungen der jeweiligen Werturteile mit einem Klick nachlesen. Wird ein Film tatsächlich einmal von wirklich allen gehasst oder geliebt, ist das, ich glaube nicht nur in meinen Augen, erst einmal verdächtig, regt fast schon automatisch zum Widerspruch an. In den Blick gerät also nicht Übereinstimmung und Mittelwerte, sondern, ganz im Gegenteil, die Vielfalt verschiedener Bewertungen und Perspektiven. In diesem Sinne läuft die Unterscheidung zwischen Rotten Tomatoes und Letterboxd auf eine zwischen begriffslosem Konsens und zumindest theoretisch begründungspflichtiger Differenz hinaus. Wenn derzeit, was zumindest mein Eindruck ist, Letterboxd auch auf Kosten von Rotten Tomatoes an Sichtbarkeit gewinnt, scheint mir das nicht die schlechteste Entwicklung zu sein.


Das Problem der Entprofessionalisierung der Filmkritik

Freilich passt die - ob nun gefühlte oder reale - Verschiebung von Rotten Tomatoes zu Letterboxd gleichzeitig gut zur sicherlich korrekten Diagnose einer fortscheitenden Entprofessionalisierung der Filmkritik. Schließlich sammelte Rotten Tomatoes zumindest früher mehrheitlich Kritiken, deren Autoren für ihre Texte bezahlt wurden, während Letterboxd-Autoren mehrheitlich unentgeldlich schreiben. Allerdings kann man - spätestens hier entfernt sich meine Argumentation von Holzapfels Essay, der das keineswegs behauptet - Letterboxd kaum für diese Entwicklung verantwortlich machen. So leid es mir tut: Die Millionen junger User, die Letterboxd in den letzten Jahren für sich entdeckt haben, sind keineswegs Millionen verhinderter filmdienst-Leser oder gar FAZ-Abonnenten. Wer auf der Suche nach neuen Geschäftsmodellen für einen Journalismus ist, den Leute berufsmäßig betreiben können, der tut gut daran, nicht dem ohnehin fragwürdigen Ideal der Lohnschreiberei gegen Zeilengeld nachzutrauern. Alternative Praktiken wie die "direkte" Bindung der Leser an Autoren etwa via der Einbindung von patreon in Letterboxd-Accounts mögen nicht der Weisheit letzter Schluss sein - kleine Hoffnungsschimmer in einer krisengebeutelten Branche sind sie allemal.

So oder so: Die Zukunft des professionellen Filmjournalismus ist Letterboxd mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Auch die weitergehende Fundamentalkritik an einem Plattformkapitalismus, der Nutzer zunächst mit Partizipations- und Vernetzungsversprechen lockt, sie anschließend mit dem ausgeklügelten Verstärkungssystem der "like"- und "follower"-Zahlen bei der Stange hält und schließlich per Verdatung monetarisiert, ist auf das Geschäftsmodell der Website zweifellos anwendbar.

Eine solche Kritik berührt jedoch nicht die Frage, wie die Letterboxd-Texte als Texte zu bewerten sind. Damit möchte ich abschließend den Versuch unternehmen, Letterboxd medienhistorisch ein wenig anders zu verorten - nicht so sehr als eine quasi aus dem Nichts entstandene Alternative zur traditionellen Filmkritik, sondern als Teil und Fortführung einer schon länger bestehenden Tradition des nichtprofessionellen Schreibens über Film.

Diese Tradition des nichtprofessionellen Schreibens ist keineswegs auf die freilich gleichfalls oft in ihrer Komplexität unterschätzte Schwärmerei in Fanzines reduzierbar, sondern umfasst, von flüchtigen Tagebucheinträgen bis zu monographieschweren Buchprojekten jenseits der Vermarktbarkeit, eine weite Spannbreite an Schreibformen; und sie ist mit ziemlicher Sicherheit genauso alt wie das Kino selbst. Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass legendäre Filmzeitschriften wie die Cahiers du cinema oder die deutsche filmkritik gerade zu ihren intellektuellen Hochzeiten, wenn überhaupt, höchstens äußerst bescheidene Honorare gezahlt haben. Bestimmte Formen des Schreibens über Film sind, so scheint es, nicht so ohne weiteres monetarisierbar. Schuld daran trägt nicht die inhärente Böswilligkeit des Kapitalismus, sondern die kommunikative Struktur der Texte selbst. Zumindest so viel lässt sich festhalten: So sehr es zu begrüßen ist, wenn Filmkritiker für ihre Texte ordentlich bezahlt werden, so arm wäre die Geschichte der Filmpublizistik ohne die reichhaltige Tradition des nichtprofessionellen, also unbezahlten, Schreibens über Film.

Um ein bisschen konkreter zu werden: Es liegt in meinen Augen nahe, Letterboxd als ein Nachfolgemedium der Filmblogs zu betrachten, die vor allem in den Nullerjahren an diversen Ecken und Enden des Internets aufgeblüht waren. Mit den Blogs wurde Filmfans, wie auch Enthusiasten in vielen anderen Themenbereichen, erstmals eine niederschwellige und zumindest theoretisch weltweit verfügbare Infrastruktur zur Verfügung gestellt, die eine diskursive und soziale Vernetzung jenseits isolierter Einzelprojekte ermöglichte. Blogs verschafften einer Vielzahl von Formen des mehrheitlich nichtprofessionellen Schreibens über Film eine zwar meist beschränkte, gleichwohl vorher unvorstellbar weitreichende Sichtbarkeit.

In der Theorie leisten die Blogs dies immer noch. In der Praxis sind die allermeisten - Patrick Holzapfels “Jugend ohne Film” zählt zu den bewundernswerten Ausnahmen und hat inzwischen sogar den Sprung in die Printwelt geschafft - inzwischen entweder abgeschaltet oder schon seit Jahren nicht mehr aktualisiert worden. Das Netz hat sich, die Geschichte ist inzwischen oft genug erzählt worden und soll hier keineswegs breit ausgewalzt werden, weiterentwickelt, soziale Medien wie facebook und dessen jüngere, hippere Geschwister haben der Blogosphäre weitgehend das Wasser abgegraben. Lange Zeit sah es so aus, als würde sich das nichtprofessionelle Schreiben über Film in die umzäunten Gartenlauben auf facebook zurückziehen oder im 280- (früher: 140-)Zeichen-Krakeele auf x untergehen.

Letterboxd nun kopiert zwar weitgehend die Vernetzungsstruktur von facebook und x, produziert aber gleichzeitig etwas, das die großen, “inhaltsblinden” sozialen Netzwerke aus Prinzip nicht produzieren: ein Archiv von Texten, die sich zumindest bis zu einem gewissen Grad von ihrem sozialen Zweck emanzipieren, die sich auf etwas außer sich selbst, eben auf Filme, beziehen und die, wie hemdsärmelig oder polemisch sie auch immer daherkommen mögen, implizit Geltungsansprüche vertreten, die denen der professionellen Filmkritik prinzipiell gleichgestellt sind.


Eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten

Wie eingangs erwähnt, bin ich selbst auf Letterboxed aktiv. Gleichzeitig war ich früher Filmblogger (und bin es sehr gelegentlich immer noch). Aus meiner subjektiven Perspektive sind diese beiden Modi des nichtprofessionellen Schreibens über Film eng miteinander verwandt. Freilich existieren Unterschiede; in mancher Hinsicht ist Letterboxd, scheint mir, ein Rückschritt, in anderer jedoch auch ein Fortschritt gegenüber der Blogosphäre.

Es ist, glaube ich, nicht nur meiner Web 2.0-Nostalgie anzulasten, dass ich mich auf Letterboxd kreativ - ja, das ist das richtige Wort: ein Letterboxd-Eintrag beginnt, wie jeder andere Text im Computerzeitalter, mit einem leeren Bildschirm, es liegt an mir, etwas daraus zu machen - eingeschränkt fühle. Es fällt mir, mit den immer noch nicht verstummten Fortschrittsversprechen der Digitalisierung im Ohr, schwer, einzusehen, weshalb das Internet mir heute nicht mehr, sondern weniger Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, weshalb es mir also auf Letterboxd, anders als auf einem Blog, nicht möglich ist, Texte mit Bildern zu kombinieren, weshalb selbst simple Formatierungen wie Kursivierung und Fettung nur umständlich händisch via html eingefügt werden können und so weiter.

Ähnliche Mechanismen der willkürlich anmutenden Beschränkung des prinzipiell technisch Möglichen finden sich auf allen wichtigen Social-Media-Plattformen (besonders bizarr: die geradezu absurde Beschränkung auf instagram, nur quadratische Bildformate zuzulassen). Zweifellos könnte man auch an dieser Stelle wieder in Richtung Fundamentalkritik abbiegen und, zum Beispiel, über vorformatiertes Denken in Zeiten des App-ifizierten Internets schimpfen. Versucht man hingegen, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist, lässt sich lediglich feststellen: Die meisten Letterboxd-Nutzer scheinen sich nicht daran zu stören, dass die Seite ihnen ein äußerst beschränktes Arsenal an Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt; oder jedenfalls stören sie sich daran nicht so sehr, dass sie den zusätzlichen Aufwand in Kauf nehmen würden, der mit der Einrichtung und Pflege eines Blogs verbunden ist. Das dann zudem von kaum jemand zur Kenntnis genommen werden würde.


An der Öffentlichkeit wachsen

Denn der wiederum subjektiv größte Vorteil von Letterboxd besteht zweifellos darin, dass die Texte, die ich dort veröffentliche, tatsächlich gelesen werden. Nicht alle, sicher, und nur wenige von mehr als einer Handvoll von Leuten; aber es gibt sie, merke ich auf Letterboxd sehr schnell, viel schneller als früher beim Bloggen, eben doch irgendwo da draußen: die Leser. Sie reagieren auf meine Texte, und sei es nur in Form gelegentlicher “likes”. Und diese Leser sind keineswegs ausschließlich Leute, die ich aus dem echten Leben oder zumindest aus anderen filmbezogenen Ecken des Internets kenne. Es gibt auf Letterboxd eine Art von Öffentlichkeit, die sich auf andere, direkte Weise bemerkbar macht, als sie sich für die Autoren von Blogs, oder erst recht für nichtprofessionelle Schreiber über Film vor dem Internet, bemerkbar gemacht hatte.

Eben darin dürfte ein wichtiger Grund für den Erfolg der Seite liegen: Sie verschafft, vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Filmpublizistik, dem nichtprofessionellen Schreiben über Film eine Form der sozusagen intuitiven Öffentlichkeit, die unmittelbar auf das Selbstverständnis der Schreibenden zurückwirkt. Auch dies kann, um ein letztes Mal einen naheliegenden Einwand vorwegzunehmen, wieder kulturpessimistisch beschrieben werden als Einladung zu einem “Fischen nach likes”, zu einer reflexhaft-populistischen Schreibpraxis, für die sich auf Letterboxd mehr als genug Beispiele finden.

Nur ist schlechte Filmkritik mit Sicherheit keine Erfindung von Letterboxd. Im besten und gar nicht mal so seltenen Fall resultiert die beschriebene kommunikative Struktur der Seite in hochgradig idiosynkratischen Schreibweisen, die sich nicht - oft eine Gefahr ambitionierter Formen des nichtprofessionellen Schreibens über Film, und vielleicht ganz besonders beim Bloggen - in privaten Obskurantismen einigeln, sondern mit der Letterboxd-internen Öffentlichkeit interagieren und an ihr wachsen. Keineswegs stelle ich solche Überlegungen an, um Blogs schlecht zu machen. Vielmehr lässt sich festhalten: Blogs leisten manches, was Letterboxd nicht leistet. Und umgekehrt leistet Letterboxd manches, was Blogs nicht leisten. In einer idealen Welt würden beide Publikationsformen nebeneinander aufblühen und sich gegenseitig befruchten.


Gebt Letterboxd eine Chance!

Aber zumindest zurzeit leben wir nun einmal in der Welt von Letterboxd, nicht in der Welt der Blogs. Insofern, langer Rede kurzer Sinn: Gebt Letterboxd eine Chance! Zumindest, solange noch Hoffnung besteht, dass die Seite sich in eine interessante Richtung weiterentwickelt. Je mehr eigensinnige Autoren und neugierige Leser sich Letterboxd zuwenden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Betreiber den Wildwuchs des kreativen nichtprofessionellen Schreibens über Film auch weiterhin fördern, anstatt ihn zu beschneiden.


Vielleicht helfen ja ein paar Anklicktipps. Ein auch nur kursorischer Wegweiser zu den interessantesten Letterboxd-Accounts würde den Rahmen dieses Textes sprengen; pars pro toto sowie als allererste Einstiegshilfe seien nur vier besonders lohnende (englischsprachige) Accounts genannt: Filipe Furtado, Neil Bahadur und theironcupcake. Letterboxd durch diese (oder viele ähnliche) Tore zu betreten und die in der Tat zunehmend unerfreuliche Startseite links liegen zu lassen, heißt, die Plattform als das kennenzulernen, was sie zumindest derzeit auch noch ist: die erquicklichste und produktivste Spielwiese eines freien Denkens übers Kino in den Weiten des Internets.

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