Filme über den Holocaust werden intensiv diskutiert. Auch an „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer hat sich die Kritik entzündet, dass er das wirkliche Verstehen behindere, weil ein fiktionalisierter Zugriff zwangsläufig der Illusionskultur zuarbeite. Doch diese Position verkennt die Notwendigkeit, auch von dem zu erzählen, das sich der Darstellbarkeit entzieht. Ein Plädoyer für Offenheit gegenüber Versuchen, das Unrepräsentierbare zu repräsentieren.
In seinem Essay „Das Verschwinden von Auschwitz“ hat sich Patrick Holzapfel auf filmdienst.de mit der fiktionalisierten
Vergegenwärtigung des Holocaust am Beispiel von Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ beschäftigt. In seinen Augen befördern Filme wie „The
Zone of Interest“ eine Erinnerungskultur, die „das wirkliche Verstehen geradezu
verhindert“. Echte Erinnerung verschwände, so Holzapfel, hinter einer sich
ausdehnenden Illusionskultur. Hinter dieser Position stecken zwei
bemerkenswerte Vorannahmen: dass nämlich „The Zone of Interest“ wie alle
anderen fiktionalen Holocaust-Filme sei, und dass es zweitens ein richtiges,
wirkliches Verstehen gäbe. Das sind zwei Annahmen, über die es sich lohnt, intensiver
nachzudenken.
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Fangen wir mir der ersten Aussage an, dass der Film wie alle anderen fiktionalen Holocaust-Filme sei. Damit wird eine generelle Kritik an entsprechenden fiktionalen Repräsentationsversuchen im Spielfilm formuliert. Das ist zunächst legitim, denn jede spielfilmartige Fiktionalisierung schließt eine Verengung des Blicks ein, eine Individuation auf Einzelschicksale, eine emotionale (und moralische) Strategie, um den Zuschauer zu (be-)rühren. Diese Kritik entspringt dem berechtigten (und gesunden) Misstrauen, das man im Grunde jeder fiktionalen oder verdichteten Nacherzählung von Wirklichkeit entgegenbringen sollte.
Trotzdem ist es bis heute keiner empirisch-naturwissenschaftlichen noch einer hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Disziplin gelungen, die Frage eindeutig zu beantworten, ob fiktionalisiertes, also emotional-dramaturgisches Einfühlen das Verstehen geschichtlicher Prozesse eher verbessert oder verschlechtert. In der Funktion und Wirkung von Erzählung scheint es eine Unklarheit zu geben. Worin liegt diese Unklarheit begründet?
Der französische Philosoph Paul Ricoeur hat dem Phänomen der Erzählung sein dreibändiges Werk „Zeit und Erzählung“ gewidmet. Darin argumentiert er, dass Erzählen der menschlich-intellektuelle Versuch ist, die Erfahrung von Wirklichkeit und damit auch die Historie in einen sinnhaften Zusammenhang zu stellen. Die Erzählung ist nicht die Wirklichkeit, sie kann es gar nicht sein, sie ist nur der mitunter verzweifelte Versuch, der Erfahrung einen Sinn abzutrotzen und diesen dann mit anderen zu teilen. Die Spannung zwischen Erzählung und Wirklichkeit bleibt für immer bestehen und ist unüberbrückbar.
Aus dieser Differenz ergeben sich erst die immer neuen Versuche, Geschichte(n) zu erzählen. Ohne sie wären alle Bewältigungsversuche letztlich obsolet. Die Wirklichkeit läge dann klar und widerspruchsfrei vor uns. Dispute und erzählerische Erklärungsversuche wären damit überflüssig.
Aber legitimiert diese Einsicht jede beliebige erzählerische Form für die Darstellung geschichtlicher Ereignisse? Wenn man sich den „History“-Boom der 2000er-Jahre, wie er etwa mit dem Namen von Guido Knopp verbunden ist, oder den ebenso bemerkenswerten dokumentarischen Serien-Boom der letzten Jahre anschaut, dann führt das fast zwangsläufig zur Frage, ob diese Erzählstrategien (auch moralisch) legitim sind und welchen kognitiven Mehrwert sie erzeugen.
Man muss sich tatsächlich immer wieder über einen Kompass und ein Urteilsvermögen verständigen, um zu entscheiden, was eine richtigere oder bessere Annäherung an die Wirklichkeit ist. Das gilt gerade angesichts der Repräsentationsformen in Fernseh-, Streaming- und Filmformaten, in denen das Grauen des Holocaust, aber auch Krieg und Zerstörung im Allgemeinen sehr oft auch in einem Unterhaltungskontext stehen. Susan Sontag hat das in ihrem berühmten Essay „Das Leiden anderer betrachten“ so beschrieben: „If it bleeds, it leads (Blut zieht immer) … Bei jedem Unheil, das ins Bild kommt, verspürt der Zuschauer Mitleid oder Empörung, Sensationskitzel oder Zustimmung.“
Jahr für Jahr entstehen so ständig neue Sendungen und Formate, die nach gewissen Schemata funktionieren, oft auch mit fiktionalen Re-Enactment-Elementen, und die in das einmünden, was Patrick Holzapfel zu Recht als eine Art „Diskurskarussell“ und „Illusionskultur“ beschrieben hat: Die immergleichen Bilder gerinnen zu Klischees, die sich nur noch auf sich selbst beziehen und keinen Durchblick mehr auf die kaum verstehbare, schwer einzuordnende Wirklichkeit zulassen.
Insbesondere in Fernsehformat wird zumeist eine Kommentar- und Expertenebene eingezogen, die das eigene Nachvollziehen überflüssig macht, weil die Erzählung bereits in zugängliche Sinnhäppchen vorgefertigt ist. In den Fernsehredaktionen nennt man das häufig „den Zuschauer abholen“. Eine Überforderung angesichts des nicht eingeordneten Grauens soll vermieden werden.
Doch wie geht man mit der Aporie der Erzählung(en) um? Ist alles fiktionale Erzählen verführerische Konstruktion und damit zu verwerfen? Oder holt eine Erzählung nicht vielmehr Unbegreifliches in die Sphäre des menschlichen Verstehens?
Branko Lustig und „Schindlers Liste“
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an die Recherchen zu einem Film über Branko Lustig, den Produzenten von „Schindlers Liste“. Er betonte immer wieder, wie wichtig ihm dieses Projekt war und welche große Bedeutung er ihm zuschrieb. Er selbst hat als Jude Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt und sah in dieser hochemotionalen Verfilmung ein beredtes Zeugnis der NS-Barbarei. Er war fest davon überzeugt, dass „Schindlers Liste“ eine mindestens ebenso große Wirkung wie der Geschichtsunterricht in der Schule oder Berichte von Zeitzeugen entfaltet hat.
Muss man ihm eine Selbsttäuschung unterstellen? Kann er die antiaufklärerischen Wirkungen seines eigenen Spielfilms nicht abschätzen? Ich würde das bezweifeln. Man muss seine Perspektive ernst nehmen. Für ihn hatte der Film eine kathartische, sogar vermächtnishafte Wirkung und vertiefte noch einmal die weltweite Auseinandersetzung mit dem Holocaust; ähnlich wie vordem etwa die US-amerikanische Serie „Holocaust“. Bis heute berichten Lehrer und Schulkino-Initiatoren von der wichtigen Auseinandersetzung, die „Schindlers Liste“ immer noch auslöst.
Man kann diese Auseinandersetzung oberflächlich oder rührselig nennen, aber sie bietet eben doch einen Zugang zur Zeit des Nationalsozialismus. Selbst wenn man die Diagnose teilt, dass ein Spielfilm die historische Realität niemals vollständig wiedergeben kann, so bleibt die sinnliche Annäherung durch das audiovisuelle Erleben des Films, so verengt und medialisiert es auch sein mag. Auch wenn es weiterhin richtig ist, dass man Filme nicht riechen oder anfassen und nicht in sie hineingehen kann. Der Gestank über dem KZ Auschwitz kann also nur indirekt, durch Filmhandlungen, evoziert werden.
Auch der Film „Son of Saul“ von László Nemes wird in den Kreis der kritikwürdigen Holocaust-Verfilmungen einbezogen. Dieser Film versuche auf fragwürdige Weise, die Schwierigkeiten der Repräsentation einer Lagerrealität zu umgehen, indem er diese Realität größtenteils in der Unschärfe belässt und nur auf den Protagonisten fokussiert. Diese Strategie ist interessant und löst ihrerseits viele Fragen aus, doch man kann sie nicht in einen Topf mit Glazers akustischer Strategie werfen. Denn es gibt einen wesentlichen, kategorialen Unterschied zwischen bildlicher und akustischer Repräsentation.
Differenzierungen behalten
Der Versuch, das KZ und die Gewalt nicht visuell, sondern rein auditiv darzustellen, stellt sehr wohl einen bemerkenswerten Unterschied dar. Denn wenn dieser Unterschied eingeebnet wird, wären viele weitere Differenzierungen obsolet. Allein schon innerhalb des Visuellen lassen sich ja so viele Signifikationsmöglichkeiten identifizieren, dass man eine ganze Ontologie des Bildes einfügen müsste, um ihm gerecht zu werden. Sicher ist, dass das Visuelle im Gegensatz zum Auditiven erheblich direkter, schockhafter und unmittelbarer wirkt. Dass es bei Katastrophen, Unglücken und Verbrechen zumeist nur Schaulustige und Gaffer gibt und keine Zuhörer und Lauscher, dass Kriegsfotografien eine erheblich stärkere Wirkung haben als Kriegsgeräusche, dass jugendliche Straftäter ihre Taten filmen (und posten) und nicht nur als Soundclip aufzeichnen, sind dafür deutliche Anzeichen.
Auch die auditive Ebene selbst ist weiter differenzierungsfähig. Die Arbeit, die in die Gestaltung der Soundebene von „The Zone of Interest“ geflossen ist, kann man nur dann als überflüssig brandmarken, wenn man sie mit allen anderen (auch den visuellen) Zeichenprozessen in einen Topf wirft und alle zusammen als verfälschende Repräsentation ablehnt. Doch auch beim differenzierten Hören tun sich Ebenen und Öffnungen auf, die eine Reflexion über die gestalteten Situationen zulassen. Es geht um die konkrete Verknüpfung eines häuslichen Alltags mit einer Dauerbeschallung, die den bereits bekannten Kontrast – gutbürgerliches Nazi-Familienleben versus bestialischer „Berufsalltag“ – neu durchdekliniert und auf Reflexionsniveau bringt. In dem Essay von Holzapfel heißt es dazu: „Dass man das Grauen hört, aber nicht sieht, bewirkt ein körperliches Unwohlsein.“ Dadurch würden auch Schuldgefühle geweckt, aber es bliebe unklar, zu welchem Zweck. „Wäre es nicht sinnvoller, man würde aus dem unbeschreiblichen Grauen lernen, um sich frühzeitig gegen die Mechanismen zu wehren, die es ermöglichen?“
Doch was genau löst dieses Lernen aus? Gibt es dafür einen Leitfaden? Welche Zugänge, Konkretisierungen, Abstraktionen oder Situationen bewirken ein „richtiges“ Lernen? Sind es KZ-Memorials oder das Holocaust-Denkmal in Berlin? Sind es die Leerräume im Libeskind-Anbau des Jüdischen Museums in Berlin oder Augenzeugenberichte ehemaliger Lagerinsassen? Ist es der sachliche, gefilmte Bericht der Überlebenden oder eher ihr tränenersticktes Schweigen? Lässt sich das überhaupt begrifflich klären? Wohl kaum, denn sonst würde man diese Praktiken ja schon lange anwenden.
Holzapfel bemerkt selbst, dass das Lernen möglicherweise nicht möglich ist, „ohne zu spüren, dass diese Verbrechen von Menschen, also potenziell von jedem von uns, begangen werden könnten.“ Und führt weiter aus: „Gleichzeitig aber ist dies ja gerade die Perspektive, die zu moralischen Schwierigkeiten führt. Die Repräsentation des Holocaust führt aufgrund dieser Widersprüche in eine Sackgasse.“ Wenn man diese rigorose Haltung zu Ende denkt, bleibt als Fazit nur: Jeder filmische Repräsentationsversuch ist moralisch fragwürdig und vergebens, denn er endet zwangsläufig in dieser verfälschenden Sackgasse.
Das Unerzählbare erzählen
Was hier sichtbar wird, ist allerdings jene Aporie, in der Erzählungen immer schon gefangen sind, wie es Ricoeur in „Zeit und Erzählung“ herausgearbeitet hat. Es sind immer individuelle Perspektiven von Autoren, die wiederum filmische Perspektiven kreieren und damit eine singuläre Perspektive auf das Grauen werfen. Der Vorwurf gegen das Fiktionale lautet im Grunde: Warum erzählt die Geschichte nicht alles? Und richtig? Warum erzählt sie nicht das Unerzählbare?
Mit solchen Vorwürfen arbeitet man sich am erzählerischen Verstehen schlechthin ab. Sie erinnern entfernt an Adornos Verdikt, dass man nach dem Holocaust nicht mehr dichten dürfe (was Adorno im Übrigen später relativiert hat.) Alle Dichtung, alles Erdichten kann nur verfälschen und wird dem unermesslichen Grauen niemals gerecht. Überhaupt verbietet sich eine ästhetische Übertragung in ein goutierbares Kunstwerk.
Diese Verkürzung des Erzählens ist vielleicht auch der Grund, warum viele Überlebende zeitlebens nicht über den Holocaust sprechen wollten. Weil die Worte und Erzählungen niemals das wahre und vollständige Grauen abbilden können, sondern es nur positionierend und verfälschend zur Sprache bringen.
Die logische Konsequenz aus dem aber wäre, das
Erzählen ganz einzustellen. Das aber hilft nicht weiter, denn trotz aller
Kompromisse, aller dramatischen Perspektiven und Intentionen ist das Erzählen
und das erzählende Erinnern das zentrale Instrument, um Menschen zu
sensibilisieren und aufzuklären.
Ob das gelingt, hängt natürlich nie nur von einem Film allein ab; es hängt an einem Netz aus Aufklärung und Bildung. Filme stellen darin nur einen kleinen Teil dar; einen überzeugten Neo-Nazi wird auch „The Zone of Interest“ nicht bekehren. Auch dieser Film funktioniert nur, weil es ein kulturelles Vorwissen gibt. Das entscheidet darüber, ob und wie der Film „funktioniert“. Ob man ihm mit einer Übersättigung an Holocaust-Repräsentationen begegnet oder doch mit einer Neugier, die offen ist für die ästhetischen Strategien des Films.
Glazers erzählerische Mittel
Glazers ästhetische Strategien sind durchaus bemerkenswert und herausfordernd. Allein auf der Soundebene geschieht ja erheblich mehr als die Repräsentation des Lagers. Die Eröffnung des Films mutet beispielsweise ein dreiminütiges Schwarzbild zu, das mit einer eigenwilligen Komposition kombiniert wird. Man meint menschliche Stimmen zu hören, zwischen Klage und sakralem Gesang, auch verarbeitete Glockensounds, darunter sehr langsam abwärts gleitende Streicherglissandi. Das Ganze geht allmählich in ein harmonisches Synthi-Streicher-Idyll mit Vogelgezwitscher über, das die erste Szene am Fluss einleitet.
Das ist kein konventionelles, „narratives“ Vorspiel, sondern steht der Erwartung eines konventionellen Filmanfangs diametral entgegen und stimmt in besonderer Weise auf das Kommende ein. Offensichtlich soll man bereits hier die eingeübten Wahrnehmungsmuster und Erzählerwartungen überprüfen. Bei mir hat es genau diese Irritationen ausgelöst, selbst wenn Ouvertüren und Vorspiele aus der Filmgeschichte punktuell bekannt sind; schon Abel Gance begann seinen Antikriegsklassiker „J’accuse“ mit einer nicht-narrativen Choreografie von Soldaten, die den Titel des Films als menschliche Formation darstellen.
Überhaupt stechen in „The Zone of Interest“ die „nicht-narrativen“ Elemente hervor, die keine Anbindung an die Kerngeschichte der Höß-Familie haben. Die unvermittelten, gleichzeitig albtraum- und märchenhaften Sequenzen des Mädchens, das nachts Äpfel für die Gefangenen versteckt und zuhause das im Schlamm gefundene Lied eines Insassen auf dem Klavier spielt (mit dem Originaltext untertitelt) gehören genauso dazu wie die merkwürdige Blumen-Montage in der Mitte des Films. Auch diese Sequenzen werden von metallisch-verstörenden Soundkompositionen begleitet, die das Albtraumhafte betonen.
Noch aufreibender ist der Score bei den abschließenden Credits, der sich in einem ungraden 5/4-Takt so sehr zur auditiven Belastungsprobe steigert, dass man das Kino schnell verlassen möchte – und sich dem doch vollständig aussetzt, weil die Musik etwas auslöst und etwas ausdrückt, das sich begrifflich nicht ganz fassen lässt.
Einer der überraschendsten Momente ist der Kategoriensprung hin zur Dokumentation von Reinigungstätigkeiten im Auschwitz-Museum der Gegenwart. Dieser Schlusssprung ins Dokumentarische ist nicht auf eine Parallelisierung von „Hygienemaßnahmen“ im Hause Höß zu reduzieren. Er stellt vielmehr Fragen, bietet Ambivalenzen und Interpretationsfelder, die zu denken geben. Das aktiviert im Idealfall ein tieferes Verstehenwollen und befördert die Fragen, etwa wie das filmische Narrativ mit der Jetztzeit zusammenhängt. Es beinhaltet womöglich auch die Frage, ob das ein richtiger oder legitimer Kategoriensprung ist oder ob hier eine formale Effekthascherei stattfindet.
Aber selbst diese Frage ist produktiv. Ich halte diesen Sprung für gelungen. Er zeigt, was mit Mitteln der Filmmontage möglich ist, die das geläufige Repräsentationsgeschehen der Continuity-Montage verlässt. Das ist eine Art assoziative, intellektuelle Montage, bei der im Kopf tatsächlich Assoziationsfelder aktiviert werden, die sonst unbeleuchtet blieben.
Nazis darstellen
Auch die visuelle Inszenierung stellt sich einem herkömmlichen, repräsentierenden filmischen Dispositiv entgegen. Statt einer spielfilmhaften Auflösung in dramaturgisch gesetzten Totalen, Halbnahen und Close-ups wird das Spiel der Darsteller mit fest installierten Kameras beobachtet. Glazer nennt diese Form „Big Brother im Nazi-Haus“. Ist das eine funktionable Distanzierungsstrategie?
Das nicht zu lösende Problem fiktionaler Holocaust-Filme und anderer medialer Formen besteht darin, dass man Figuren zeichnen muss, denen Motive, eine Psychologie und eine Backstory zugeschrieben werden. Das führt unweigerlich zu Interpretationen, die man als Autor an die Geschichte des Holocaust heranträgt. Diese Interpretationen werden immer angreifbar sein. Auch Schauspieler:innen sehen sich in die Notwendigkeit versetzt, diese Interpretationen zu verkörpern oder sogar eine eigene Interpretation finden zu müssen. Sandra Hüller hat in einem Interview ausgeführt, dass sie sich von außen, also körperlich ihrer Figur genähert habe, nicht psychologisch oder über ein inneres Verstehen. Sie wollte damit einem psychologischen Nachvollziehen entkommen und eben keine Antwort auf die Frage anbieten, wie das alles möglich gewesen sei.
Wie Christian Friedel und die anderen Schauspieler hat sich Hüller in dieses Setting hineingestellt, in ein akribisch nachgestelltes Haus mit Garten, und darin körperlich agiert, um ein Leben darzustellen, es zu wiederholen. Damit kommt auch eine dokumentarische Note ins Spiel: Man beobachtet Schauspieler dabei, wie sie sich in diesem Setting verhalten. Das Verstehen, wie so ein unmenschliches und schändliches Leben möglich war, wird dadurch möglicherweise nicht direkt verbessert, aber die Frage wird mit neuer Dringlichkeit an einen herangetragen.
„Wie konnte Entartung stattfinden?“, fragt auch der Protagonist in dem Roman von Martin Amis, der „The Zone of Interest“ zugrunde liegt. Vor allem „von unten“, aus der Bevölkerung heraus, nicht aus einem radikalisierten Kreis von Politikern? „Das ist das eigentliche Rätsel.“ Und es bleibt bis heute ein Rätsel, auch oder gerade, wenn man gegenwärtig wieder beobachten kann, wie Hass aus der Konstruktion von Identitäten und der Ausgrenzung des „Anderen“ erwächst, den es zu beseitigen oder zu vernichten gilt.
Auch in seinem ausführlichen Nachwort und den Quellenhinweisen geht Amis explizit auf die Frage nach dem Warum ein. „In Auschwitz gibt es kein Warum“, zitiert er Primo Levi, einen Holocaust-Überlebenden. Und solange es darauf keine endgültige Antwort gibt, solange muss man immer neue Anläufe unternehmen, das Unsagbare zu sagen, das Nicht-Repräsentierbare zu zeigen und das Unbeschreibbare zu schreiben. „The Zone of Interest“ ist einer dieser neuen Anläufe, der an den riesigen, unbezwingbar scheinenden Trümmerberg der Geschichte heranführt. Wie Benjamins „Engel der Geschichte“ steht man mit aufgerissenem Mund davor, unfähig das Gesehene wirklich zu verstehen. „Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“, aber es gelingt ihm nicht.
Wir sollten es trotzdem versuchen. Wir sollten und müssen immer wieder neue Zugänge zum Grauen finden. Auch „The Zone of Interest“ tut das. Die Kombination der filmischen Mittel, die innovative und intellektuell anspruchsvolle Montage der Töne, Bilder, Räume und Zeiten erzeugen in der Kollision einen Effekt, dessen Wirkung wie bei aller Kunst nicht erschöpfend analysiert werden kann, die aber etwas auslöst, das einen erschrocken, betroffen, reflektierend zurücklässt. Und zugleich einen Impuls an uns heutige Zuschauer sendet: Sind wir tatsächlich gefeit gegen die Wiederholung eines solchen Menschheitsverbrechens? Welche Muster und Konstellationen begünstigen eine solche kollektive Dehumanisierung? Wie können „normale“ Menschen, die ihr kleines persönliches Glück absichern wollen, zu solchen Bestien entarten?
Es gibt kein „richtiges“ Verstehen
Damit ist im Grunde auch schon die zweite Vorannahme in Zweifel gezogen, dass es nämlich ein „richtiges“ Verstehen gibt. Das richtige Verstehen ist eine Chimäre, die man als argumentative Matrize nutzen kann, um sich vom angeblich falschen, uneigentlichen Verstehen abzugrenzen. Der US-amerikanische Philosoph John Dewey hat das so ausgedrückt: „Philosophen und zwar besonders solche, die sich Realisten nennen, sind immer der Meinung gewesen, dass die Eigenschaften, die für das Denken charakteristisch sind, nämlich Ungewissheit, Mehrdeutigkeit, Alternativen, Forschen, Suche, Auswahl, experimentelles Umformen äußerer Bedingungen, nicht denselben Wirklichkeitscharakter haben, wie es die Objekte des gültigen Wissens besitzen.“ Das bedeutet, dass Denken und Erzeugung von Wissen prozesshaft sind und auf prinzipiell unabschließbaren Prozessen beruhen, weil sie auf die Mehrdeutigkeit, auf das Forschen und Suchen in der vorgefundenen Welt reagieren. Wissen ist vorläufig, prozessual und niemals abgeschlossen, weil es die menschliche Erfahrung der Welt ebenfalls nicht ist. Damit kann es auch niemals ein für alle Mal „richtig“ sein.
So nachvollziehbar der Wunsch ist, einen Konsens über die richtige Haltung und den richtigen Umgang mit den Gräueln des Holocaust zu finden, so sehr muss man auch hier konstatieren, dass es diesen Konsens nicht gibt. Das Immer-wieder-Hinweisen und Erzählen ist dafür der beste Beweis. Diese immer neuen, immer auch fragwürdigen Anläufe, das Menschheitsverbrechen des Holocaust zu erzählen, sind keine Fehler, sondern sie sind der logische Umgang mit dieser unendlichen Ambivalenz. Selbst die Hoffnung auf einen Konsens in Deutschland hat sich seit „Fliegenschiss“- oder „Denkmal der Schande“ -Äußerungen als Illusion entpuppt.
Es gibt keine pädagogischen, historischen oder ästhetischen Rezepte, wie und warum Menschen zu Humanisten, Demokraten und Pazifisten werden; genauso wenig wie es Erklärungen dafür gibt, warum sie zu Rassisten, Mördern und Kriegstreibern werden. Wenn dem so wäre, müsste man sie nur noch anwenden, damit endlich Frieden, Liebe und Verständnis blühen können. Stattdessen braucht es immer neue Impulse, Geschichten und Filme, die von der Unbegreiflichkeit des Krieges und des Hasses erzählen. Dazu gehört ganz gewiss auch „The Zone of Interest“.