© IMAGO / Prod.DB (aus der "Alice im Wunderland"-Verfilmung "Alice", 1988)

Die Welt als Wunderkammer - Jan Švankmajer

Der Universalkünstler und Filmemacher Jan Švankmajer ist am 4. September 90 Jahre alt geworden. Eine Hommage an einen Meister des tschechischen Surrealismus

Veröffentlicht am
24. September 2024
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Das Werk des 1934 in Prag geborenen Jan Švankmajer, nicht zuletzt auch seine animierten Kurz- und Langfilme, speist sich aus einem bunten Sammelsurium kulturhistorischer Elemente und treibt daraus ebenso eigenwillige wie eigenartige, oft groteske Blüten. Damit hat er andere Filmemacher wie Terry Gilliam, Henry Selick, Tim Burton oder die Quay-Brüder inspiriert und eine internationale Fangemeinde erobert. Eine Hommage anlässlich des 90. Geburtstags des surrealistischen Künstlers.


Am 2. März diesen Jahres wurde in Kutná Hora (Kuttenberg) die Eröffnung der Ausstellung „Disegno Interno“ als nationales Ereignis gefeiert. Aus Prag reiste eine von Kulturminister Martin Baxa geleitete Delegation an, der Barocksaal der im einstigen Jesuitenkolleg beheimateten Zentralböhmischen Galerie (GASK) war überfüllt. Im Mittelpunkt der Ehrung stand ein aufrechter, drahtiger Herr mit wachem Blick, der von den Rednern mehrfach gänzlich ironiefrei als „Meister“ angesprochen wurde. Sein eigenes Statement dann am Mikrophon fiel weitaus kürzer aus als die nachfolgenden Standing Ovations. Gefeiert wurde Jan Švankmajer: Bildender Künstler, Poet und Sammler, als Animations-Filmemacher weltweit fast kultisch verehrt. Kein Zweifel: In Tschechien ist man sich der Bedeutung dieses nationalen und internationalen „Meisters“ gewahr. Gewürdigt wird mit ihm nicht nur eine konkrete, bis ins hohe Alter immer weiter anwachsende Werkbiografie.


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Švankmajer steht auch als sehr lebendiges Sinnbild für artistischen und politischen Widerstandsgeist. Trotz jahrelanger Repression bewahrte er seine Autonomie, eine Anbiederung bei der realsozialistischen Kulturbürokratie kam für ihn nie Frage. Damit steht er auch als lebendiges Sinnbild einer autarken Nationalkultur von unangefochtener internationaler Bedeutung.

Tief im tschechischen Surrealismus verwurzelt

Die ihm und seiner Frau gewidmete, opulente Ausstellung fand im Vorfeld seines 90. Geburtstages statt. Zu sehen waren Gemälde, Collagen, Objekte, Bühnenbilder und Filme. Drei wesentliche Elemente seiner weitverzweigten künstlerischen Arbeit wurden dabei einmal mehr deutlich. Erstens: die symbiotische Zusammenarbeit mit seiner 2005 verstorbenen Ehefrau, der Szenografin, Keramikerin, Malerin und Autorin Eva Švankmajerová (1942 als Eva Dvořáková geboren). Zweitens: Der gesamtkunstwerkliche Ansatz seines tief im tschechischen Surrealismus wurzelnden Oeuvres, bei dem der Film zwar eine ideale Fusion verschiedener Quellen und Formen ermöglicht, dabei aber doch nur eine gleichberechtigte Form neben anderen darstellt. Drittens: Der enzyklopädische Ansatz des Sammelns in den Randbereichen der Kulturgeschichte, mit dem ein Humus angelegt wird, aus dem heraus die eigenen, höchst originellen Kunstwerke erst ermöglicht werden.

Jan Švankmajer bei der ihm und seiner Frau gewidmeten Ausstellung in der Central Bohemian Region Gallery (GASK) im März 2024 (© IMAGO / CTK Photo)
Jan Švankmajer bei der Ausstellung in der Central Bohemian Region Gallery (© imago/ CTK Photo)

Der am 4. September 1934 in Prag geborene Jan Švankmajer kam aus kleinen Verhältnissen, gleichwohl schien ihm die haptische Beschäftigung mit den Dingen des Alltags in die Wiege gelegt. Seine Mutter arbeitete als Näherin, der Vater als Schaufenstergestalter. Die Kindheit war geprägt vom Spiel mit einem vom Vater gebauten Puppentheater, für das er selbst bald Figuren und Bühnenbilder entwarf und fertigte. Seither bevölkern Puppen sein Oeuvre – sie fungieren als beseelte Objekte, als Akkumulatoren und Allegorien des Menschlichen, aber auch als Bewohner mythischer Parallelwelten.


Tüftler, Einzelgänger und Universalgenie

Ab 1950 studierte er folgerichtig Szenografie und Puppenspiel. Seine erste eigene Inszenierung brachte er 1957 mit einer Volkstheater-Version des „Don Juan“-Stoffes auf die Bühne. Schon damals experimentierte er mit dem szenischen Nebeneinander von Puppen und Schauspielern. Diese Methode fand sich dann auch 1970 in seiner eigenen Filmversion des Stoffes wieder. 1958 kam er durch die Zusammenarbeit mit dem legendären Regisseur Emil Radok – Mitbegründer des Laterna-Magica-Theaters – in kreativen Kontakt mit dem „Faust“-Sujet. (Auch dieses griff er 1994 mit einem eigenen Film wieder auf.) 

Aus Svankmajers "Faust"-Film (© Imago/Everett Collection)
Aus Svankmajers "Faust"-Film (© Imago/Everett Collection)

1964 entstand sein erster eigenständiger Kurzfilm „Der letzte Trick des Herrn Schwarzewallde und des Herrn Edgar“ – in diesem knapp 12-minütigen Werk waren bereits viele Stilmittel enthalten, die später zu seinem Markenzeichen gehören sollten: wie die Mischung von Real- und Trickszenen, die Interaktion von Schauspielern mit Puppen, der collagenhafte Ton oder die Animation historischer Artefakte. Die fruchtbare Frühphase seines Schaffens währte bis zum August 1968. Es waren jene in dieser Zeit entstandenen Kurzfilme – wie der Proto-Videoclip „Johann Sebastian Bach: Fantasia G-moll“ oder das berühmte „Spiel mit Steinen“ (beide 1965), vor allem aber die zivilisationspessimistische Liebeserklärung an die Tierwelt „Historia naturae“ (1967) – die seinen internationalen Ruf als genialischen Tüftler, Einzelgänger und Universalgenie begründeten.


Internationaler Ruhm

Nachdem er als Protest gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch sowjetische Truppen das mutige „Manifest der 1000 Worte“ unterzeichnet hatte, war ein Berufsverbot vorprogrammiert. Zwischen 1972 und 1979 konnte er nicht als Regisseur arbeiten, er hielt sich mit der Herstellung von Tricksequenzen (etwa für „Adele hat noch nicht genachtmahlt“, 1978) über Wasser, widmete sich ansonsten seinen weitverzweigten kreativen Aktivitäten und begann, sich als Sammler von kunsthistorischen Artefakten zu betätigen.

Die Prager Stadtwohnung der Švankmajers und später das manieristische Schlösschen in Horní Staňkov (Südböhmen) wurden zu Refugien der verstreuten Dissidentenszene und zu Zentren der wiedererstandenen surrealistischen Bewegung Tschechiens. Nachdem 1983 auf dem Animationsfilmfestival in Annecy eine Zusammenstellung mit frühen Arbeiten gezeigt wurde, setzte sein internationaler Ruhm ein. In jener Zeit erkannten ihn Terry Gilliam, Henry Selick, Tim Burton oder die kanadischen Quay-Brüder als einen Seelenverwandten und trugen maßgeblich zur Verbreitung seines Werkes im Westen bei.

Arbeiten wie "Dimensions od Dialogue" (1983) machen Jan Švankmajer zur internationalen Größe des Grotesken (© IMAGO / Prod.DB)
Arbeiten wie "Dimensions of Dialogue" (1983) machen Jan Švankmajer zur  Größe des Grotesken (© imago/Prod.DB)

Als die kommunistischen Systeme Osteuropas zusammenbrachen, kommentierte er dieses historische Ereignis mit dem sarkastischen Kurzfilm „Der Tod des Stalinismus in Böhmen“ – eine pointierte Abrechnung mit den unter dem Mäntelchen einer zynisch propagierten Menschheitsrettung begangenen Verbrechen zwischen 1948 und 1989. Seither dreht Švankmajer ausschließlich abendfüllende Spielfilme mit Animations-Passagen. In die regulären Spielpläne Westeuropas fanden diese Arbeiten nur in Ausnahmefällen Eingang. Sein Spätwerk war vor allem auf Festivals und in einzelnen Retrospektiven präsent. Ungeachtet dessen blieb seine vielschichtige Produktivität ungebrochen.


Im Reich der Chimären

Eine große Überraschung etwa stellt sein 2022 in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Jaromír Kallista fertiggestellter, mittellanger Film „Kunstkamera“ dar. Zu den Klängen von Vivaldis „Frühling“ erhalten wir als Zuschauer Zugang in das oben erwähnte Schlösschen von Horní Staňkov. In langen Plansequenzen fährt die Kamera durch die verwinkelten Räume des Gebäudes, offenbart einen ganzen Kosmos von sonderlichen, faszinierenden, bizarren oder wunderschönen Fund- und Sammelstücken sowie eigenständigen Kunstwerken. 

"Kunstkamera" (© Athanor/Jan Švankmajer)
"Kunstkamera" (© Athanor/Jan Švankmajer)

Schon im Garten und auf der Ummauerung stehen Torsi und andere Skulpturen, die irgendwie falsch zusammengesetzt wirken. Waden und Unterarme wachsen direkt aus dem Bauch. Gleich daneben finden sich aus Muscheln, Pflanzen, Mineralien collagierte Büsten. Dann auf Simsen balancierende, groteske Putten, die mit alchimistischen Apparaturen zu hantieren scheinen. Diese Absonderlichkeiten setzen sich im Inneren des Hauses fort. Bewohner sind keine zu sehen, dafür wimmelt es von Bildern und Objekten, die von Göttern, Narren oder Faunen bevölkert sind. Auch hier überwiegen Mischwesen: Chimären, halb Tier, halb Mensch, aus organischen und anorganischen Materialien kombiniert.

Doch die Räume, Treppenhäuser und Zimmerfluchten bieten noch viel mehr. Es ist schier unmöglich, die hier angehäufte Fülle an künstlerischen und kulturhistorischen Fundstücken auch nur annähernd zu erfassen. Galante Porzellan-Figurinen stehen neben ethnologischen Artefakten (unter anderem afrikanische Häuptlingsthrone, Amulette, Masken, animistische Altäre).

Dazwischen tummeln sich Puppen aller Art: an Stricken und Stäben, aus Stoff, Holz, Metall, mit verborgenen Uhrwerken und Glockenspielen, indonesische Schatten-Figuren, böhmische Marionetten, dreist grinsende Kasperle, Teufel, Engel und so weiter. Es gibt mechanische Spielzeuge und blecherne, bunt bemalte Fundstücke von Jahrmärkten und Rummelplätzen.


Raffinierte Arrangements

Gleich nebenan reihen sich plötzlich katholische Reliquiare auf. An den Wänden und in Schubladen stapeln sich Kupfer- und Holzstiche mit Folterszenen, Brandschatzungen, Tumulten, Exekutionen. Wobei all diese Schrecknisse von ihren Urhebern verzerrt, ironisiert, von Störmomenten durchsetzt worden sind. Ihren Schöpfern ging es offenbar nicht um die möglichst genaue Rekonstruktion beziehungsweise Illustration von tatsächlichen Ereignissen, sondern um deren Überhöhung und Verfremdung. Nicht zu vergessen: in unmittelbarer Nachbarschaft – übergangslos wie alles an diesem durchaus unheimlichen Ort – tauchen immer wieder Visualisierungen erotischer Fantasien aus verschiedenen Epochen und Regionen auf, dies wahlweise aus voyeuristischer oder exhibitionistischer Perspektive oder beides gleichzeitig.

Oft täuscht hierbei der spontane Eindruck, hinter scheinbar simplen Strukturen verbergen sich raffinierte Arrangements. Was etwa auf den ersten Blick als Landkarte Europas erscheint, offenbart sich beim zweiten Hinschauen als ein clever komponiertes Vexierbild aus menschlichen Leibern. Überhaupt dieses Körpergewirr, die verschlungen-unauflösbaren, sich stetig überbietenden Kombinationen von Rümpfen, Armen, Beinen, Zungen, Körperöffnungen.

Neben den eben erwähnten Objekten gibt es zahlreiche Beispiele sogenannter „richtiger“ Kunst: Gemälde, Zeichnungen und dreidimensionale Werke von teils namhaften Urhebern sowie anonyme Arbeiten aus dem Art-Brut-Bereich. Diese korrespondieren mit den benachbarten Exponaten, kommentieren sie oder antworten ihnen kontrapunktisch. Sie heben damit die bizarren oder „primitivistischen“ Stücke auf Augenhöhe, verwischen die Spuren zwischen den Sphären; die Schwellen zwischen Hoch-, Trivial- und Gebrauchskunst werden aufgelöst. Die erste Wahrnehmung täuscht also auch hier.


Reste der magischen Welt

Mit diesem Film erhalten wir das außerordentliche Privileg der Teilhabe am künstlerischen Vermächtnis Jan Švankmajer. Denn das Sammeln ist für ihn Teil des kreativen Prozesses. In einem Interview bekannte er: „Ich sammle Reste der magischen Welt, die einst vorrangig war und weit mehr der menschlichen Mentalität entsprach als der heutige Zustand.“ In diesem Kontext können für ihn Blechfiguren eines mechanischen Amüsierapparats aus dem 19. Jahrhundert eine stärkere auratische Aufladung besitzen als hochgehandelte Stücke des aktuellen Kunstmarkts.

Auch in seinen Filmen kreiierte Švankmajer Welten und Wesen aus einem Sammelsurium an Material. Hier: "Alice" (1988) (© IMAGO / Prod.DB)
In seinen Filmen kreierte Švankmajer materialreiche Sammelsurium-Welten. Hier: "Alice" (© imago/Prod.DB)

Ohne selbst ins Bild zu kommen, führt er uns durch seinen Sammel-, Wohn- und Arbeitsort. Ganz zuletzt richtet sich die Kamera auf ein paar ausgetretene Pantoffeln, auf ein ungemachtes Bett. Daneben auf einem Hocker stehen Schachteln mit Medikamenten und ein Teller mit leicht angegilbten Apfelschnitzeln. Diese Anwesenheitsbeweise des im Film unsichtbar bleibenden Gastgebers schließen den atemberaubenden Exkurs durch das „Schloss“ ab.


Die Verwandlung des Vorhandenen

Švankmajer war nie ein global erfolgreicher Großkünstler in dem Sinne, dass sein Schaffen das Siegel eines Markenzeichens tragen und mit dem Markt entsprechend kompatibel sein würde. Sein Name und seine Werke werden heute noch immer als Geheimtipp gehandelt. Und das ist sicher auch gut so. Natürlich hat sich Švankmajer als Filmemacher der modernen Technologien des 20. Jahrhunderts bedient. Doch an einer bloßen Abbildung der Wirklichkeit war er nie interessiert. 

Auch als er nach dem Kollaps des Realsozialismus endlich frei arbeiten konnte und fortan nur noch abendfüllende Filme drehte, erzählte er keine Geschichten mit klassischen Plots. Er war immer an einer Verwandlung des Vorhandenen interessiert, an Prozessen, die über das Sichtbare hinausweisen. Die Kamera sowie der Trick- und Schneidetisch sind ihm Vorrichtungen, mit denen Metamorphosen eingeleitet werden können. Mit ihrer Hilfe durchdringt er den Firnis des Sichtbaren. Er zeigt uns nie Gesehenes. Damit ist er den Alchimisten am Hof von Rudolf II. vielleicht näher als der schillernden Welt des aktuellen Film-Business.

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