Das Leid von Kindern und Heranwachsenden steht im Zentrum mehrerer Filme, die in Locarno für intensive Diskussionen sorgen. Mal eher verstörend, mal stärker analytisch kreisen die Dramen um seelische Traumata und tragische Verstrickungen. Unter den Erstlingswerken ragt „Der Fleck“ von Willy Hans heraus, weil er einfühlsam die Ängste und Freuden des (Jung-)Seins schildert.
Maria kann nicht mit Eric. Die Schriftstellerin findet keine Worte, um sich ihrem Neugeborenen zuzuwenden. Sie kann mit dem Menschlein nicht reden, das sie an ihre Brust legt. Kann ihm nicht sagen, dass sie es liebt, und dass die Welt kein schrecklicher Ort ist. Sie kann ihr Kind auch nicht beruhigen, wenn es schreit. Und es schreit oft in dem Film von Mar Coll, der den sprechenden Titel „Salve Maria“ trägt und im Wettbewerb des 77. Locarno Film Festivals (7.-17.2024) läuft.
Das könnte Sie auch interessieren
- Im Bann der Katze. Das Programm des Filmfestivals Locarno 2024
- Cinema in (e)motion: Rückblick auf Locarno 2023
- Liebes-Arrangements: Ein Zwischenbericht
Es ist ein verstörender Film. Nicht nur, weil schreiende Babys auf der Kinoleinwand grundsätzlich schwer zu ertragen sind. Sondern vor allem, weil die von Laura Weissmahr gespielte Frau zwar den Namen der Mutter Gottes trägt, aber selbst nicht Mutter sein kann und das Weinen ihres Kindes oft gar nicht zu hören scheint. Stattdessen verliert sie sich in ihren Gedanken und vergisst darüber ihr Kind. Etwa im Mutter-Baby-Kurs, wo sie Eric der Leiterin in die Arme drückt, um einen Anruf im Empfang zu nehmen, und daraufhin telefonierend das Gebäude verlässt. Oder wenn sie im strömenden Regen das Baby im Kinderwagen einfach auf der Straße stehen lässt, weil sie ein leerstehendes Haus besichtigen will, in dem früher eine Frau lebte, die ihre zehn Monate alten Zwillinge ertränkt hat.
Die Geschichte dieser Kindsmörderin lässt Maria nicht mehr los. Sie verfolgt sie, geistert durch ihre Träume und zwingt sie, Schreckliches zu schreiben, das sie vor ihrem Mann Nico versteckt. Nico merkt sehr wohl, dass Maria mit ihrer Mutterschaft nicht klarkommt. Er versucht sie zu beruhigen und ermuntert sie, mit Eric zu sprechen, damit er in seiner Entwicklung keinen Schaden nimmt. Aber er schafft es nicht, seinen Vaterschaftsurlaub anzutreten und Maria zu unterstützen.
So dreht sich die Spirale bis zum Eklat unaufhaltsam weiter. Und da „Salve Maria“ akustisch wie ein Horrorfilm aufbereitet ist, geht der Film ziemlich an die Nieren.
Schwierige (Familien-)Verhältnisse
Eric war nicht das einzige Kind, dem im Internationalen
Wettbewerb durch die Eltern Leid widerfuhr. Mit „Der Spatz im Kamin“
von Ramon Zürcher und „Seses“ von Laurynas Bareiša waren gleich
zwei weitere disruptive Familiengeschichten zu entdecken. Und obwohl sich
„Mond“ von Kurdwin Ayub um die Martial Arts-Kämpferin Sarah dreht, gehört auch
dieser Film, der vom Schicksal dreier Teenie-Schwestern erzählt, die
abgeschottet von der Welt aufwachsen, in diese Kategorie.
„Der Spatz im Kamin“ ist der nach „Das merkwürdige Kätzchen“ und „Das Mädchen und die Spinne“ dritte Teil einer von Ramon Zürcher zusammen mit seinem Zwillingsbruder Silvan Zürcher realisierten Trilogie, die das Zusammenleben in größeren Gemeinschaften thematisiert. Diesmal sind es die Familien zweier Schwestern, die sich anlässlich eines Geburtstages im Haus ihrer Kindheit treffen. Die eine hat das Haus nach dem Tod der Mutter übernommen und lebt darin mit ihrer Familie, die andere kommt zu Besuch.
Die Sticheleien zwischen den Schwestern lassen nicht lange auf sich warten. Da sind zu viele nichtschöne Erinnerungen an die Kindheit, und Schwieriges, was die Familie zerbrechen ließ. Wie es so ist, färbt das, was die Eltern plagt, auch auf die Kinder ab. Wo die eine Tochter das Elternhaus meidet, flüchtet sich die andere ins Lügen und Flunkern, und der von Gleichaltrigen gemoppte Sohn lässt seinen Frust an der Katze aus. Dass es dem Film und der weitgehend schweigenden Mutter Karen (Maren Eggert), von der aller Missmut auszugehen scheint, dennoch gelingt, sich trotz dieses familiären Tohuwabohus binnen 48 Stunden aus diesem Korsett zu befreien, ist eine große Stärke von „Der Spatz im Kamin“, der zeitweise ein bisschen vor sich hindümpelt.
Auch „Seses“ von Laurynas Bareiša dreht sich um zwei Schwestern und ihre Familie. Die eine hat einen Banker geheiratet und mit ihm eine Tochter. Der Mann der anderen ist ein erfolgreicher Martial-Arts-Kämpfer; das Paar hat einen Sohn. Die beiden Familien fahren zusammen für einige Tage in das von den Schwestern ererbte Ferienhaus. Hier sind es dann die Männer, deren übergroße Egos aufeinanderprallen und die von den Schwestern mit ihren Kindern vorerst allein gelassen werden. Man fängt und findet sich wieder, die Kinder zerschmettern am nächsten Tag im lustvollen Spiel irgendwelche Keramik, danach geht es zum Schwimmen an den See.
Wie kann ein Vater ein Kind, das zögert, von sich aus ins Wasser zu springen, einfach ins Nass werfen? Man erfährt es in diesem Film nicht, denn die Regisseurin erklärt es nicht. Die Folgen dieses Übergriffes aber sind so verheerend, dass die Regisseurin das Ende vorwegnimmt, um danach im zweimaligen Neuanlauf zu erzählen, was damals am See weiter geschah. Dieses Aufdröseln der bis dahin chronologischen Erzählung tut „Seses“ nicht gut. Es postuliert ein Geheimnis und verführt zum Rätseln, wo anderes wichtiger wäre. Etwa die Darstellung von Genesung und seelischer Heilung anstelle der Rekonstruktion ungünstig ineinander verstrickter Unfälle.
Martial-Arts in Jordanien
„Mond“, erklärte Kurdwin Ayub bei der
Pressekonferenz in Locarno, sei das Pendant zu ihrem Spielfilmdebüt „Sonne“.
Nachdem die irakisch-österreichische Filmemacherin darin die Integration dreier
junger Frauen aus dem Nahen Osten in Österreich thematisierte, schickt sie in
„Mond“ eine österreichische Martial-Arts-Kämpferin nach Jordanien. Sie heißt
Sarah (Florentina Holzinger) und soll die drei Töchter einer reichen
Familie in die Kunst des Kampfsports einführen.
Sarah staunt bei ihrer Ankunft über das schicke Hotel, in dem sie untergebracht wird, und sie staunt noch viel mehr über die prächtige Villa, die ihr künftiger Arbeitsort ist. Dass sie ein ellenlanges Formular unterzeichnen muss, das sie über den Benimm und die in der Villa geltenden Regeln aufklärt, macht sie kaum stutzig. Die drei Schwestern, die sie fortan betreuen soll, sind jung, hübsch, verwöhnt und unsportlich. Ihr Interesse an Sarah gründet vor allem darin, dass sie sich von ihr Kontakt zur Außenwelt erhoffen. Wie die Trainerin bald herausfindet, leben die drei Schwestern unter der strengen Aufsicht ihres Bruders, der alles daransetzt, sie von der Umgebung abzukapseln. Die drei haben weder Handys noch Zugang zum Internet.
Sarahs Annährung an die Schwestern ist freundlich, ja fast freundschaftlich. Doch ihr Versuch, sie aus ihrer Isolation zu befreien, scheitert. Ayub arbeitet in „Mond“ mit Versatzstücken von Martial-Art-Movie und Horrorfilm. Die Story ist spannend, hat aber einen großen Haken. Denn derart naiv wie Sarah, die sich vor Antritt ihres Jobs in der Fremde in keiner Weise auf die dort herrschende Kultur und Gepflogenheiten vorbereitet hat, kann eine Martial-Arts-Kämpferin nicht sein.
Es gab im Locarno-Wettbewerb noch eine zweite Kämpferin zu entdecken: Tez (Sophie Verbeek) in „La mort viendra“ von Christoph Hochhäusler. Der Film spielt im Dunstkreis des Kunst- und Drogenhandels. Tez wird von einem Gangsterboss angeheuert, um den Mord an einem seiner Kuriere zu rächen. Die Story ist trotz der in sie integrierten Biografie des todkranken Mafiosi ziemlich mau. Doch Verbeeks Auftritt als Killerin ist cool, die Actionszenen sind furios, die Inszenierung des Films stimmig. Die neben Tez faszinierendste Frauenfigur ist deren von Delphine Bibet gespielte Chefin Mela. Eine ältere, im Laufe des Lebens erblindete Frau, mit weiblicher Entourage, die innerhalb der Mafia zünftig mitmischt.
Ein Nachmittag am Fluss
Im zweiten Wettbewerb von Locarno, dem Erstlingswerken und zweiten Spielfilmen vorbehaltenen „Concorso cineasti del presente“, war in den ersten Festivaltagen „Der Fleck“ von Willy Hans zu entdecken. Das zwischendurch ins Experimentelle gleitende Drama handelt von einer Gruppe junger Menschen, die einen Sommernachmittag an einem durch den Wald führenden Fluss verbringen. Im Zentrum steht der 17-jährige Simon, der die Sportstunde schwänzt und von einem Freund mitgenommen wird. Man chillt, hängt herum, döst, kabbelt sich freundschaftlich. Die Erzählung ergibt sich aus der eintauchenden Beobachtung des Lebens. Von kurzen Interaktionen, kleinen Gesten und Regungen, dem Fließen des Wassers und Wandern des Lichts, dem Atmen des Dickichts. Von zufällig Gefundenem und zögerlichen Annäherungen, als Simon und Marie alleine ins Dickicht vordringen. „Der Fleck“ ist ein Film, der Stimmungen und Gefühlen schildert und dabei einfühlsam das Lebensgefühl des (Jung-)Seins vermittelt, ein entspannender und sehr menschlicher Film.#
Es hat in den ersten Festivaltagen jenseits der Leinwand auch andere Aufregungen gegeben. So will die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) die Förderung strategischer Partnerschaften mit Kulturschaffenden in der Schweiz ab 2025 um 45 Prozent von jährlich 3,7 Millionen auf 2 Millionen Franken kürzen. Locarno träfe das vor allem bei der Sektion „Open Doors“, die Filme aus dem globalen Süden unterstützt. Für Irritationen sorgte auch die Ankündigung der neuen Festivalpräsidentin Maja Hoffmann, den Termin von Locarno in der Ferienzeit zu überdenken. Damit aber hat Hoffmann in ein Wespennest gestochen. Denn Locarno lebt seit Jahrzehnten davon, dass sich für das Publikum Ferienfeeling und Filmgenuss verbinden. Wenn die scharenweise anreisenden jungen Menschen, unter ihnen viele Studierende, sowie Eltern und ihre schulpflichtigen Kinder im Teenageralter, dem Festival fernblieben, wird sich dessen Besucherstruktur mit einem auffallend jungen Publikum verändern. Und auch den vom lokalen Tourismus lebenden Betriebe dürften Einnahmebußen drohen.
Die Filme auf der Piazza Grande
Außerdem bleibt wenig Raum, das Festival kalendarisch zu verschieben, wenn Locarno sein stärkstes Alleinstellungsmerkmal – die Abendvorstellungen auf der Piazza – beibehalten will. Anfang September folgt schon das Filmfestival von Venedig, kurz darauf das Zurich Film Festival. Und zwischen Anfang Juni und Mitte Juli geht die Sonne in Locarno derart spät unter, dass mit der Filmvorführung erst nach 22 Uhr begonnen werden könnte. Das aber wäre trotz aller Liebe zu spätnächtlichen Aktivitäten für einen Teil des Publikums doch etwas sehr spät.