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Der tschechische Méliès

Zum 100. Geburtstag des Trickfilmzauberers Karel Zeman (3.10.1910-5.4.1989)

Veröffentlicht am
05. August 2024
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Die Zauberwelt des Karel Zeman lag in der tschechischen Stadt Zlín. Hier, in den Räumen eines nüchtern anmutenden Filmstudios, ließ er urzeitliche Fabelwesen aufeinander prallen, von hier aus schickte er Baron Münchhausen auf eine Reise zum Mond oder und verhalf dem Zauberschüler Krabat zu neuem Leben.


Die Zauberwelt des Karel Zeman lag verborgen zwischen Hügeln und Wäldern der tschechischen Stadt Zlín. Hier, in den Räumen eines nüchtern anmutenden Filmstudios, ließ er urzeitliche Fabelwesen aufeinander prallen. Von hier aus schickte er Baron Münchhausen auf eine Reise zum Mond, warnte in exotischem Dekor vor den Gefahren des Atomzeitalters, spöttelte über Machtgier und Egoismus der Menschen und verhalf dem Zauberschüler Krabat zu neuem Leben. Manchmal griff seine künstlerische Fantasie den technischen und wissenschaftlichen Erfindungen und Ereignissen vor: Den Abdruck des menschlichen Astronautenschuhs im Mondstaub konnte man in „Baron Münchhausen“ (1961) fast ein Jahrzehnt vor der ersten tatsächlichen Mondlandung bewundern. Lange vor der Erfindung digitaler Techniken erweiterte Zeman die Möglichkeiten des Filmtricks um neue, ungeahnte Dimensionen. Dabei bastelten er und sein überschaubares Team jede Sequenz mit der Hand: eine Sisyphusarbeit, die oft Jahre in Anspruch nahm – und dann ein Publikum in aller Welt begeisterte. Kritiker nannten ihn den „tschechischen Méliès“. Am 3. November wäre er 100 geworden.


Spiel und Trick

Zemans Karriere begann durch einen Zufall. Er hatte Dekorationsmaler und Werbegrafiker gelernt, arbeitete in der Firma des Zlíner Schuhfabrikanten Bata und gewann hier in einem Betriebsausscheid um das schönste Schaufenster den ersten Preis. Der Dramaturg und Dokumentarist Elmar Klos, der damals einen Reportagefilm über diesen Wettbewerb drehte, war von Zemans Gestaltungskraft so überzeugt, dass er ihn für das Zlíner Filmstudio verpflichtete. Als ersten Auftrag übernahm er, an der Seite seiner Kollegin Hermína Tyrlová, die Gestaltung des Films „Ein Weihnachtstraum“ (1943), der allerdings einem Brand zum Opfer fiel. Drei Jahre später entstand Zemans Remake, sein erstes überliefertes Werk: die Geschichte eines kleines Mädchens, das von seinen Eltern neue Geschenke erhält und eine alte Stoffpuppe vernachlässigt. Im Traum wird die Verschmähte lebendig, lädt das Kind zu dramatischen Abenteuern ein, unter anderem zum Aufstand der Spielsachen gegen einen gewalttätigen Nazi-Eindringling, und kehrt daraufhin in den Kreis des geliebten Spielzeugs zurück. Zeman verknüpfte reale mit animierten Szenen, wobei der Animationsteil einen weitaus größeren Raum einnahm. Diese Symbiose sollte auch viele seiner späteren Filme prägen: ausgefeilte Kombinationen aus Spiel- und Trickelementen.

 „Ein Weihnachtstraum“ wurde in Cannes preisgekrönt, und es dauerte nicht lang, bis Zemans Name ebenso geschätzt war wie der seines Kollegen Jirí Trnka, eines anderen tschechischen „Bruders im Trick“. Zunächst begeisterte sich das Publikum an Zemans „Herr Prokouk“-Serie, die ab 1947 in die Kinos kam. Hauptfigur dieser kurzen Puppentrickfilme war ein mährischer Kleinbürger mit Schnauzbart und Halbglatze, ein Prototyp jener Zeitgenossen, die sich noch jeder politischen und sozialen Situation anzupassen verstehen und ihren Nutzen daraus ziehen, allerdings mit der Tendenz zur moralischen Läuterung: „Über manche Irrtümer“, so fasste die Filmhistorikerin Galina Kopanevová die Intentionen der Serie zusammen, „gelang Herr Prokouk zu einer kollektiven Denkweise und zu einer engagierten Arbeitshaltung, er macht sich in peinlichen Situationen lächerlich, akzeptiert aber die Lektionen des neuen Lebens.“ Zeman entledigte sich des agitatorischen Auftrags stets mit Augenzwinkern: Seine Held war der klassischen tschechischen Volksfigur Schwejk nicht unähnlich. Zur Satire tendierte auch der Puppentrickfilm „König Lávra“ (1950), über einen Herrscher mit Eselsohren, der die Friseure seines Reiches regelmäßig hinrichten lässt, weil sie beim Haareschneiden seinen Makel entdecken: ein geist- und temporeiches Spektakel. Lyrische Töne schlug Zeman in „Inspiration“ (1949) an, in dem die Figuren eines böhmischen Glasmachers lebendig werden: eine Liebesgeschichte mit Licht- und Farbspielen von betörender Schönheit. Altpersischen Miniaturen nachempfunden war schließlich sein erster abendfüllender Film „Der Schatz auf der Vogelinsel“ (1952): In diesem Märchen für Kinder, denen Zeman in durchaus pädagogischer Absicht „Einsichten in die Vorzüge von Arbeit und gesellschaftlichem Miteinander gegenüber Faulenzerei und Raffgier ermöglichen will“ (Hans-Joachim Schlegel), agierten Halbreliefpuppen vor gezeichneten Hintergründen.


Ein besessener Tüftler

Zeman erweiterte sein artifizielles Repertoire nie zum Zweck der bloßen Spiellust; ein Kino, das stets mit neuen Sensationen aufwartet, nur um den Adrenalinspiegel der Zuschauer in die Höhe zu treiben, war ihm fremd. Er wollte spannend unterhalten, aber zugleich auch zur Bildung seines Publikums beitragen, verstand sich als populärwissenschaftlicher Filmemacher, der in seinen Fabeln über historisch-politische, technische oder biologische Zusammenhänge reflektierte. Didaktische Töne blieben da nicht aus. Und doch wurden sie immer wieder aufgefangen von der Fantasie des besessenen Tüftlers, vom poetischen Neuland, das er mit vielen seiner Arbeiten betrat. 

In „Reise in die Urzeit“ (1955) schickte Zeman vier Schuljungen auf eine Fahrt in die Historie unseres Planeten, von der Eiszeit bis zu den Sauriern. Die realen Kinderdarsteller tauchten in ein reiches Trickfilmuniversum ein, entdeckten vorzeitliche Pflanzen und Tiere und gelangten schließlich bis zu den Ufern des Urmeeres, aus dem das erste Leben erwuchs. Ließ sich Zeman hier von den Zeichnungen des Malers Zdenek Burian inspirieren, so stützte er sich für seinen nächsten Film „Die Erfindung des Verderbens“ (1958) auf zeitgenössische Stiche der Illustratoren Léon Benett und Edouard Riou. Er überzog die Wunder- und Fabelwelt von Jules Verne mit feinen Linien und Schraffuren, machte die realen Darsteller zu Bestandteilen archaisch anmutender, bewegter Grafiken. „Baron Münchhausen“, ebenfalls eine Symbiose aus Real- und Trickfilm, adaptierte die Bilder des französischen Zeichners Gustave Doré fürs Kino, „Auf dem Kometen“ (1970) spielte ironisch mit der Kunst und dem Kitsch farbiger Postkarten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit dem Flachfigurenfilm „Märchen aus 1001. Nacht“ (1974) verneigte sich Zeman noch einmal vor der persischen Miniaturmalerei: Für den Meister schloss sich hier ein Kreis zu seinen Anfängen. 

Thematisch kreiste Zeman oft um Fragen von Krieg und Frieden, klärte über die Janusköpfigkeit moderner Technik auf, dachte über Vernunft und Unvernunft der Spezies Mensch nach. In „Erfindung des Verderbens“, der auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 einen „Grand Prix“ errang und den internationalen Ruhm seines Regisseurs begründete, fabulierte er über einen sagenhaften, neu gewonnenen Sprengstoff, dessen Energie entweder Kohle und Erdöl ersetzen oder die ganze Welt vernichten könnte. Eine Piratenbande, die aus einem Unterseeboot heraus agiert, bemächtigt sich des genialen Tüftlers, der den Stoff kreiert hat – doch der Professor vernichtet im letzten noch möglichen Moment seine Entdeckung mit eigenen Händen. In „Baron Münchhausen“ konfrontierte Zeman den klassischen Fantasten und Lügenbaron mit einem wahren Helden der Moderne: einem Kosmonauten. „Hofnarrenchronik“ (1964), eine Parabel aus dem Dreißigjährigen Krieg, erwies sich als Parodie auf Filme, in denen der Krieg als Mittel zur Stählung junger Menschen gefeiert wurde: Zeman hatte zu diesem Thema eine ganz andere Meinung. Überhaupt empfand er sich als Mahner und Moralist: Er beschwor zwar die Schöpferkraft des menschlichen Geistes, den Fortschritt von Wissenschaft und Technik, lehnte es aber vehement ab, ihn von ethischen Kriterien abzukoppeln.


Jeder Film ein Abenteuer

In „Das gestohlene Luftschiff“ (1967) und „Auf dem Kometen“ (1970) griff der Regisseur noch einmal auf Vorlagen von Jules Verne zurück, kompilierte Motive aus verschiedenen seiner Romane zu bunt schillernden, zwischen Historismus und Science Fiction changierenden Vexierbildern. In „Das gestohlene Luftschiff“ machen sich vier Prager Jungen aus der Jugendstilzeit auf eine Reise, begegnen dem greisen Kapitän Nemo, aber auch gefährlichen Piraten, wobei sich ihre Freundschaft praktisch bewähren muss. Die Welt der Erwachsenen erscheint als „bunte Gesellschaft von Duckmäusern, engherzigen Bürokraten, Betrügern verschiedenster Art und sentimentalen Patrioten, die kein Aufbegehren der Jugend dulden, keinen Sinn für Freude und Spiel, Phantasie und Abenteuer haben“ (Kopanevová) – vielleicht ein Verweis auf die Entstehungszeit des Films mitten im „Prager Frühling“, als eine Abrechnung mit Dogmatikern und Traditionalisten durchaus angesagt war. „Auf dem Kometen“ katapultierte die Zuschauer in die Zeit französischer Kolonialeroberungen in Afrika Ende des 19. Jahrhunderts: Erst in größter Not, so führte Zeman mit ironischer Geste vor, findet die Menschheit zu solidarischem Miteinander; ist aber die Gefahr überwunden, brechen die dummen Zwistigkeiten, Intrigen und Feindseligkeiten, hier zwischen Franzosen, Spaniern, Arabern und Engländern, wieder aus. 

„Jedes Werk Zemans war ein Experiment, jedes erfordert einen anderen Stil der Gestaltung, eine andere bildnerische Ebene“, erinnerte sich der Animator Arnost Kupcik, der seit 1945 mit dem Regisseur zusammengearbeitet hatte. Vor Überraschungen waren die Anhänger des tschechischen Kinomagiers also nie gefeit. So folgten sie ihm gern, als er Mitte der 1970er-Jahre zum klassischen Zeichentrickfilm zurückkehrte, bejubelten den virtuosen „Krabat“ (1977) und auch sein letztes Werk, „Das Märchen von Hans und Marie“ (1980) nach einer böhmischen Sage. Noch einmal zog der Siebzigjährige alle Register seines Könnens, schuf eine Traumwelt aus Kobolden, Feen und Vampiren und fabulierte über ein Menschenkind, das sich in die Schönste aller Elfen verliebt und seine drei Begleiter – das Gute, das Böse und das Lustige – bittet, ihm zu helfen, diese Liebe Wirklichkeit werden zu lassen. Zemans Kino, so schrieb Fritz Göttler nach seinem Tod am 3. April 1989, sei immer geprägt gewesen „von seinem allerersten Beruf als Schaufensterdekorateur; wie Schau-Fenster gestaltete er die Einstellungen seiner Filme, als Blicke in eine andere Welt. Blicke, die – neugierig und vorwitzig – mit Staunen genau so belohnt werden wie mit Schaudern; und die die fremde Welt plötzlich ganz vertraut werden lassen.“


Hinweis

Beim Label „Ostalgica“ ist eine „Karel Zeman Jubiläumsedition“ erschienen, die fünf Werke des tschechischen Filmemachers versammelt: „Die Erfindung des Verderbens“, „Der Schatz der Vogelinsel“, „Münchhausen – Baron Prasil“, „Kral Lavra“ und „Inspiration“.

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