Die spektakuläre Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris sorgte nicht nur durch eine phänomenale Show für Furore, die mit einer Mischung aus High-Tech und (kunst-)historischen Verweisen auf die französische Historie für sich einnahm. An einem der verfremdeten „tableau vivants“ schieden sich allerdings die Geister, in dem die einen eine Verunglimpfung des Christentums, andere aber ein Hoch auf die Diversität erkennen wollten.
Es
ist ein Fernsehspektakel, das seinesgleichen sucht. Die Eröffnungsfeier der
Olympischen Sommerspiele wird von den Fernsehanstalten in aller Welt übertragen
und sorgt in einer Mischung aus bekannten Ritualen wie dem Fahneneid oder dem
Entzünden des Olympischen Feuers sowie offenen Fragen, wer etwa dieses Feuer
entzündet, für anregende Unterhaltung. Wobei viele der Elemente, wie wir sie
heute kennen, erst im Laufe der langen Olympia-Geschichte hinzukamen; so wurde der
Fackellauf, der das olympische Feuer vom griechischen Ort Olympia in die
jeweilige Veranstaltungsstadt trägt, erst 1936 in Berlin eingeführt – zur
Freude der Nazis, die sich an solchen Lichtmärschen ja berauschten.
Zugleich präsentiert sich in der Eröffnungsfeier das Land, das die jeweiligen Spiele unter hohen Kosten und mittlerweile auch unter massiven Sicherheitsvorkehrungen veranstaltet, als eine Gesellschaft, die über eine reiche Geschichte verfügt und sich der Gegenwart technisch wie sozial gewappnet sieht.
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1972 wollte sich Deutschland in München als weltoffen und gastfreundlich präsentieren, was bei der Sicherheit aber solche Lücken ließ, dass palästinensischen Terroristen das israelische Sportteam überfallen konnten und viele der Athleten ermordeten. 1984 wollten sich die USA in Los Angeles als ein Land der Zukunft zeigen, weshalb sich ein Raketenmann unter den Augen aller in den Himmel erhob. 1996 in Atlanta bezeugte der Auftritt des seiner Parkinson-Krankheit gezeichneten Muhammad Ali, der als letztem Staffelläufer das Olympische Feuer entzündete, so etwas wie einen unbändigen Lebenswillen. 2008 wurden in Peking die Live-Bilder mit digitalen Trickaufnahmen ergänzt, die das Ereignis ins Überdimensionale steigern sollten, allerdings nur für die Fernsehzuschauer weltweit, nicht für die im Stadion weilenden Sportfans. In London inszenierten die Regisseure Danny Boyle und Stephen Daldry 2012 dann eine mit vielen filmischen Elementen angereicherte Veranstaltung, deren Höhepunkt in dem durch die filmische Montage behaupteten Fallschirmsprung der britischen Königin Elisabeth II. und ihres treuesten Diener namens James Bond (Daniel Craig) bestand.
Defilee entlang der Seine
In Paris nahm der Theaterregisseur Thomas Jolly, der die diesjährige Eröffnungsfeier inszenierte, deutlich am Londoner Ereignis maß. So wie vor 12 Jahren die britische Popmusikgeschichte in vielen Momenten angespielt, zitiert und paraphrasiert wurde, war es die nicht ganz so reiche französische Popmusik-Historie, in die sich mit vielen Anklängen an die klassische Hofmusik eines Lully über die reiche Tradition des Chansons oder wilde französische Heavy-Metal-Aneignungen bis hin zur vitalen Gegenwarts-Musik auch Elemente der migranten Kulturen und aktuelle Popsongs mischten.
Das war mal witzig, wenn Lady Gaga auf einer Treppe zur Seine das Chanson „Mon truc en plume“ vortrug, mal pathetisch, wenn ein Pianist John Lennons „Imagine“ intonierte. Und es fand einen sensationellen Höhepunkt, als die aus Mali stammende R&B-Sängerin Aya Nakamura gemeinsam mit der Kapelle der Republikanischen Garde auftrat und die ansonsten eher hüftsteifen Musiker in ihrer Militärkleidung zum Tanzen brachte. Angesicht des Hasses, welcher der in Frankreich populären Sängerin ob ihrer Hautfarbe bei der extremen Rechten entgegenschlägt, ein ebenso witziges wie bewegendes Statement der Kunst.
Alle musikalischen Auftritte wie auch weitere Tanzeinlagen fanden an Stationen statt, die sich entlang der Seine wie an einer Perlenkette aufreihten. Denn die Eröffnungsfeier in Paris war die erste, die nicht in einem Stadion, sondern in der Innenstadt und an den Ufern der Seine stattfand, was es erlaubte, immer wieder die vielen historischen Bauten von Paris ins Bild zu setzen, ob es sich nun um den Louvre handelte oder immer wieder um den Eifelturm. Der Einmarsch der Mannschaften vollzog sich so als eine Vorbeifahrt an den Tribünen, auf denen über 300.000 Menschen Platz gefunden hatten. Die Zuschauer litten allerdings genauso wie die Musiker und Sportler unter einem heftigen Regen, der Paris während der über vier Stunden währenden Veranstaltung heimsuchte.
Dank des Regens konnte man am Fernsehgerät aber gut die Einspielfilme erkennen, die in die Live- Performances geschnitten wurden, denn auf ihnen schien die Sonne, die am Eröffnungstag in Paris fernblieb. Bei den Live-Bildern beschlich einen ein ängstliches Gefühl angesichts der Breaktänzer:innen oder Skateboarder, die auf nassen Schiffsböden halsbrecherische Nummern vollführten, aber auch Mitleid mit der Sopranistin Axelle Saint-Cirel, die klatschnass auf dem Dach des Grand Palais die französische Nationalhymne sang. In ihrer Kleidung und Haltung sollte die Sängerin an die Figur der Marianne erinnern, wie sie der Maler Eugene Delacroix in seinem Bild „La Liberté guidant le peuple“ dargestellt hatte.
Das Spiel mit den Bildern
Während des Spektakels wurden auch viele andere berühmte Gemälde zitiert und zweckentfremdet. In einer tricktechnisch schönen Sequenz stiegen Figuren wie etwa die Mona Lisa aus ihren Bildern, um ebenfalls dem Treiben an der Seine zu folgen. Die tricktechnisch um ihre Mittelpunkte beraubten und nun überraschend leeren Gemälde strahlten etwas Irritierendes aus; das Verfahren selbst erinnerte daran, dass der in Paris geborene Surrealismus gerne Dinge aus ihrem gewohnten Zusammenhang löste und andernorts platzierte, wo sie sonst nichts zu suchen haben und also auch nicht zu finden sind.
Unter den so angeeigneten und zugleich verfremdeten Bildern fanden sich auch Zitate früher Filme von Georges Méliès oder den Brüdern Lumière. Das erinnerte daran, dass die Geschichte der Olympischen Spiele und die des Kinos (und in Folge auch des Fernsehens) fast zeitgleich in Paris begann. Und in den Tagen darauf musste man an einen weiteren Medien-Pionier denken, wenn bei Live-Übertragungen der Turnwettbewerbe die Regie Momente einer Übung so wiederholte, dass in ein und demselben Bild die Turnerin in unterschiedlichen Phasen eines Sprungs zu sehen war. Das erinnerte an jene Chronophotographien, auf denen Étienne-Jules Marey in den 1880er-Jahren menschliche Bewegungen in einem Einzelbild festhielt. Marey nutzte diese Technik bei den zweiten Sommerspielen, die 1900 in Paris stattfanden, dazu, um die Bewegungsphasen der besten Leichtathleten für Trainingszwecke festzuhalten.
Der Streit um das „Abendmahl“
Unter den vielen Gemälden, die während der Live-Veranstaltung als „tableau vivant“ (lebende Bilder) zitiert und verfremdet wurden, hatte es für einen Moment auch den Anschein, als würde von queeren Performern „Das letzte Abendmahl“ von Leonardo da Vinci nachgestellt. Doch dieser Eindruck täuschte, da viele Elemente, die gleichzeitig im Livebild zu sehen waren, rein gar nichts mit dem berühmten Gemälde zu tun hatten. So saßen die Figuren nicht an einem Tisch, sondern präsentierten auf einem Laufsteg Kleidung, oder es räkelte sich im Vordergrund ein Mann als blau angemalter Weingott Dionysos. Das verweist auf ein anderes Gemälde, wie der Kunsthistoriker Walter Schoonenburg auf der Webseite von „Monopol“ analysierte, nämlich an das „Fest der Götter“ von Jan van Bijlert, das sich im Gegensatz zum „Letzten Abendmahl“ tatsächlich in einem französischen Museum findet.
Der Vorwurf, den Bischof Stefan Oster als Sportbischof der Katholischen Kirche in Deutschland in einem Tweet auf Facebook erhob, dass das „queere Abendmahl ein Tiefpunkt“ der ansonsten von ihm gelobten Eröffnungsfeier war, basiert auf einer Deutung, die einen kurzen Bildeindruck absolut setzt und zudem das zitierte Bild – das Gemälde von da Vinci – mit dem in diesem Bild Dargestellten in eins setzt. Vor aller Religionskritik, die ja im laizistischen Frankreich eine gewisse Tradition besitzt und die auch andere Religionen wie etwa den Islam trifft, ist das an den Surrealismus erinnernde Verfahren des Zitates und der Verfremdung ein Element der Bildkritik. Der Gestus, der dieser Bildkritik eigen war, ist ironischer Art. Autokraten wie Orban, Putin oder Trump aber fürchten nichts mehr als eine Ironie, die ihr Machtgehabe tendenziell ins Lächerliche zieht, weshalb die Kritik, die von diesen Herren lautstark an der Eröffnungsfeier geübt wurde, als größtes Lob verstanden werden sollte.
Hymne auf die Liebe
Dass sich der Eindruck eines „queeren Abendmahls“ einstellen konnte, lag aber auch daran, dass die lange Eröffnungsfeier auch in anderen Momenten als ein „opulentes Diversitätsspektakel“ erschien, wie Jan Feddersen in der taz schrieb. Irgendwann hatte wohl jeder die Idee verstanden, dass der Gleichheitsgedanke alle Menschen umfasst, unabhängig davon, wie sie sich geschlechtlich definieren. Ab diesem Augenblick wirkte die immer neu in Szene gesetzte Werbung für diesen Gedanken zunehmend ermüdend. Zudem lenkte das Diversitätsspektakel davon ab, dass gerade der Sport und also die Verbände, die ihn organisieren, mit queeren Menschen immer noch Probleme haben. Sehr aufschlussreiche Darlegungen dazu findet man in dem jüngst erschienenen Buch „Dabei sein wäre alles“ von Martin Krauss, der die Geschichte des Sports als die eines gesellschaftlichen Ausschlusses rekonstruiert.
Die Eröffnungsfeier, die sich am Ende ziemlich in die Länge zog, war voller eindrucksvoller (filmischer) Lichtbilder, Scheinwerfer, Laserprojektionen und aufsteigender Farbnebel. Sie war pathetisch, witzig und in manchen Dingen auch obskur. Und sie rührte auch Menschen, die sich gegen Kitsch gewappnet glauben. Als Céline Dion, die wegen einer schweren Krankheit fünf Jahre lang nicht mehr aufgetreten war, auf einer Empore des Eifelturms „L’hymne à l’amour“ von Edith Piaf sang, ließ dies wohl kaum jemanden kalt.