© Michael Kalb Filmproduktion/Leonie Huber

Cinemigrante

Die iranisch-stämmige Filmemacherin Narges Kalhor über ihren Film „Shahid“ und ihre Arbeit an einem Kino, das nicht ganz zum deutschen und nicht ganz zum iranischen Kino gehört

Veröffentlicht am
16. August 2024
Diskussion

Die aus dem Iran stammende Filmemacherin Narges Kalhor hat im Februar 2024 für „Shahid“ den „Caligari-Preis“ gewonnen. Seit 2009 lebt sie als politischer Flüchtling in Deutschland, nachdem sie wegen ihrer kritischen Arbeiten ins Visier des iranischen Regimes geraten war. In ihrem munter zwischen Stilen und Genres wechselnden Film wird die Regisseurin von ihrem als Märtyrer gestorbenen Urgroßvater verfolgt, als sie ihren Nachnamen zu ändern versucht. Ein Gespräch über iranische und deutsche Einflüsse, Widerstand durch Humor und die Suche nach einer neuen Filmsprache.


„Shahid“ wird angekündigt als „ein politisches Drama und gleichzeitig eine verzweifelte Komödie“. Wie passt das zusammen?

Die ursprüngliche Idee hinter dem Film ist sehr politisch. Ich spreche darin ein ernstes Thema an, das Menschen weltweit betrifft. Es geht aber auch um meine Versuche, als Frau und nach 15 Jahren Leben in Deutschland einen solchen Film im deutschen Kinogeschäft überhaupt erst umsetzen zu können. Daraus ergeben sich auch viele humorvolle Momente. Über das Lachen findet der Zuschauer auch den Zugang besser. Traurigkeit ist ebenfalls eine wichtige Emotion, aber der Humor erleichtert die Empathie.

Es gibt in „Shahid“ fantasievolle und verspielte Momente, dokumentarische Sequenzen und auch experimentelle. Wie haben Sie diese ziemlich einzigartige Stilmischung konzipiert?

Ein Vorbild war meine Lieblingsregisseurin Agnès Varda. Ich bewundere, wie sie sich mit ihrer weiblichen Art der Erzählung in der männerdominierten Filmgesellschaft in Frankreich durchgesetzt hat. Sie hat oft essayistisch und nur mit einer Handkamera gedreht. Obwohl sie am Anfang nicht ernst genommen wurde, hat sie einfach weitergemacht, ohne sich einschüchtern zu lassen. In vielen Jahren des Filmemachens hat sie ihre individuelle Form von Storytelling entwickelt. Heute werden die meisten Filme noch immer mit den Mitteln erzählt, die Männer im letzten Jahrhundert geschaffen haben und die sehr erfolgreich sind. Aber für mich stellt sich die Frage, wie wir Frauen endlich unsere Art von Erzählung stärker auf die Leinwand bringen können.

Narges Kalhor (© Michael Kalb Filmproduktion)
Narges Kalhor (© Michael Kalb Filmproduktion)

„Shahid“ ist um die wiederkehrenden Szenen aufgebaut, in denen Ihre Stellvertreterinnen-Figur von schwarz angezogenen Männern umkreist und verfolgt wird. Dabei fällt auf, dass alle anderen Menschen sich rückwärts bewegen. Warum gibt es diese Gegenläufigkeit?

Ich wollte mit diesen Loop-Sequenzen den Teufelskreis zeigen, in dem ich stecke. Zwangsläufig kehre ich immer wieder an den Ausgangspunkt zurück, liege auf dem Boden im Kreis der aggressiven Männer und muss erneut aufstehen. Das bleibt gleich, während die Details sich verändern. Es gibt eine Entwicklung. Gleichzeitig begebe ich mich mit dem Thema, das ich aufgenommen habe, auf eine Reise in die Geschichte. Ich gehe hundert Jahre in der Zeit zurück und stelle mich in Bezug zu politischen und religiösen Entscheidungen des letzten Jahrhunderts. Es ist also eigentlich die Figur Narges, die sich rückwärts bewegt. Aber da der Film ihre Perspektive zeigt, sieht man nicht sie, sondern die anderen Menschen rückwärtslaufen.


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Die deutschen Behörden im Film stellen Sie zwischen Satire und Bitterkeit über deren mangelnde Flexibilität dar.

Die Erfahrungen mit Behörden sind ein Teil von dem Teufelskreis, den ich auch mit aufnehmen wollte. Wir alle kennen in Deutschland im Umgang mit Behörden, dass immer wieder ein Dokument noch nicht passt oder noch irgendetwas fehlt, und können vielleicht sogar darüber lachen. Aber wir alle können auch diese Leidenserfahrung nachempfinden. Und wenn man aus einer anderen Kultur hierherkommt, kennt man das Gefühl besonders gut: Egal, was man vorlegt, es fehlt immer noch etwas.

Die deutschen Behörden zeigen sich in „Shahid“ wenig hilfreich (© Michael Kalb)
Die deutschen Behörden zeigen sich in „Shahid“ wenig hilfreich (© Michael Kalb)

In Ihrem früheren Kurzfilm „Die Egge“ haben Sie 2009 Folter und Todesstrafe im Iran thematisiert und sich dabei auch von Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ inspirieren lassen. Spielt Kafka als Einfluss auch bei „Shahid“ noch eine Rolle?

Ich habe Kafka schon sehr früh gelesen und einen Zugang zu ihm gefunden, auch zu Bertolt Brecht und anderen deutschen Schriftstellern. Beeinflusst hat mich das auf jeden Fall, genauso wie mein zweifaches Filmstudium im Iran und in Deutschland. Über die Filmhochschule München bin ich mit der deutschsprachigen Filmgeschichte und Philosophie des Films in Kontakt gekommen. Ganz abgesehen davon, dass ich über die Filmhochschule überhaupt erst ins deutsche Filmgeschäft hineingekommen bin. Ich nutze alles, was ich in meinem Leben an Einflüssen gesammelt habe, um eine dritte Art von Kino zu schaffen. Mein Ziel ist ein Cinemigrante, das nicht ganz zum deutschen und nicht ganz zum iranischen Kino gehört, so wie man sie kennt. In den letzten Jahren ist zu sehen, dass man sich in Deutschland ein bisschen mehr erlaubt und auch mit anderen Erzählungen Zuschauer begeistern möchte. Vor allem im Kurzfilmbereich gibt es immer wieder großartige Beispiele für das Cinemigrante, und es werden immer mehr. Leider haben die Institutionen bei Langfilmen Angst vor neuen Formen der Filmsprache und sind viel vorsichtiger. Aber ich habe die Hoffnung, dass sich das ändert, wenn noch mehr Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen an die Filmhochschulen kommen. Wenn man vergleicht, wie vielfältig die Menschen zum Beispiel in der S-Bahn sind, ist das akademische System noch immer weiß und nicht-divers. Ich bin eine der wenigen Ausnahmen, die es vom Asylantenheim zur Filmhochschule geschafft haben. Ein großer Teil der Gesellschaft kommt dort nicht hin, und deshalb sehen wir einen großen Teil der deutschen Gesellschaft auch nicht auf der Leinwand. Diese Einseitigkeit muss aufgebrochen werden. Denn das ist der Schock, den das Kino vielleicht braucht.

Wie sieht die eigene Bildsprache und Ästhetik aus, nach der Sie suchen?

Ich bin überzeugt, dass es einen Wert haben muss, wenn wir Bilder groß auf einer Leinwand abbilden. Drehbücher schreibe ich bewusst so, dass jedes Bild außergewöhnlich und neu ist. Was ich ablehne, sind Schuss-Gegenschuss-Totale oder klassische Dialogszenen, ich kämpfe auch bewusst dagegen. Meine Filme sind immer Experimente, die auch schieflaufen können, aber ich gehe bewusst mit meinem Kameramensch jedes Bild durch. Ich bin immer darauf aus, Kinobilder zu erschaffen, aber ich gehe nicht nach festen Regeln vor. Bei meinem nächsten Film werde ich wieder etwas anderes versuchen. Ich mag alte Schwarz-weiß-Filme sehr gerne, denn damals mussten die Regisseure sehr auf ihre Ästhetik achten, weil die Farben ihnen nicht groß geholfen haben.

„Shahid“ und auch viele Ihrer früheren Filme sind sehr autobiografisch. Wie arbeiten Sie mit Ihrem festen Co-Autor Aydin Alinejadsomeeh zusammen?

Wir kannten uns schon im Iran, wo Aydin Theaterwissenschaft studiert hat, und nun schreiben wir schon seit zehn Jahren gemeinsam. Wir haben denselben Blickwinkel und nutzen alle beide den Schatz an Wissen, den wir durch unsere Herkunft und unser Leben in Deutschland haben. Ich gehe immer mit meinen Ideen zu ihm: Wie wäre es, wenn mein Urgroßvater in die Gegenwart kommt und alle Männer mich verfolgen? Oder: Was passiert, wenn ich in Deutschland meinen Nachnamen ändern will? Er geht dann einfach sachlich und gründlich an die Geschichte von 1906/1907 heran, und er recherchiert, was für eine Namensänderung nötig ist.

Verfolgt vom Urgroßvater und seinen Kumpanen (© Michael Kalb Filmproduktion/Leonie Huber)
Verfolgt vom Urgroßvater und seinen Kumpanen (© Michael Kalb Filmproduktion/Leonie Huber)

Nach etwa der Hälfte des Films rücken Ihre erste Zeit als Flüchtling in Deutschland und die Geschichte des Irans stärker in den Vordergrund. Dabei versuchen Sie auch historisches Bildmaterial auf den Körper Ihrer filmischen Stellvertreterin zu projizieren. Deutet das die erzählerischen Grenzen an, was mit Bildern machbar ist?

Wir Frauen haben weltweit immer wieder erfahren müssen, dass unsere Körper von Männern als Kriegsfeld benutzt wurden. Das greife ich bewusst direkt am Anfang mit dem Bild der nackten Frau auf, die ungeschützt und umgeben von gewalttätigen schwarzgekleideten Männern ist. Außerdem will ich in meinem Film den Zuschauern auch zeigen, wie schwer Frauen auch unter den gewalttätigen Bildern von Revolution und Krieg zu tragen haben. Ich als Frau aus dem Nahen Osten schleppe diese Vergangenheit bis heute hinter mir her. Von daher läuft der Film zwangsläufig auf die Geschichte meiner Flucht und Migration zu.

Neben dem Urgroßvater wirft in „Shahid“ auch Ihr Vater, der politischer Berater des Präsidenten Mahmud Ahmadineschad war, weiter seinen Schatten über Sie. Wenn es um Ihren Asylantrag geht, ist in Zeitungsausschnitten über den Fall die Rede von „der Tochter von Ahmadineschads Berater“. Ist der Film eine doppelte Emanzipation?

Als Frau aus einer sehr konservativen Familie aus dem Iran versuche ich, mit meiner Kraft Widerstand zu leisten. Ich wollte nicht wie die Medien an meine Geschichte herangehen und den Schwerpunkt auf die Männer legen. Im Film wollte ich ihnen diesen Raum nicht geben. Die Zuschauer sollten nur wissen, welchen Hintergrund ich habe und warum ich so wütend bin. Wenn man mehr Informationen braucht, kann man googlen. Mir geht es darum, wie mir der Schritt gelingen kann, als eine Person wahrgenommen zu werden, ohne dass mein Nachname einen großen Schatten auf mein Leben wirft.

Große Wirkung erzeugt der Tanz der schwarz gekleideten Männer. Einerseits wirkt er aggressiv, andererseits auch humorvoll gebrochen. Wie lange haben Sie an Choreographie und Musik gearbeitet?

Anderthalb Jahre vor dem Dreh habe ich mich mit Marja Burchard von der Weltmusik-Band „Embryo“ getroffen und ihr erklärt, was ich mir vorstelle. Sie ist eine begnadete Künstlerin mit sehr viel Ahnung von der Musik im Nahen Osten. Ihre ersten Kompositionen habe ich dann an meine Choreographin Nina Wesemann weitergegeben. Ihr habe ich erklärt, dass es um riesige Schatten aus der Vergangenheit geht, sehr bedrohlich, aber bei Tageslicht betrachtet eigentlich auch lächerlich. Die Kostüme dafür durften nicht so schwer sein, auch wenn sie den Eindruck großer Körper erzeugen sollten. Nina hat das in dem Tanz genau umgesetzt und über ein Jahr mit ihrem Team eingeübt. Jede Bewegung hatte einen Namen und eine Nummer, und so kamen die Tänzer beim Dreh mühelos zurecht.

Weiblicher Gesang als Widerstandsform gegen männlich-patriarchalische Aggressivität (© Michael Kalb Filmproduktion)
Weiblicher Gesang wird als Widerstandsform gegen männlich-patriarchalische Aggressivität sichtbar (© Michael Kalb Filmproduktion)

Musik und Gesang erscheinen im Film auch als Form von Widerstand.

Es sollten starke weibliche Stimmen in meinem Film singen. Ein Glücksfall war, dass Roya Arab, eine iranische Sängerin, die in London lebt, dazu bereit war. An anderen Stellen ist auch die Stimme von Marja Burchard zu hören. Mir war sehr wichtig, dass meine Hauptfigur singt, und zwar nicht nur in Vorspann und Abspann, sondern auch vor der Kamera als Teil des Films. Die tanzenden Männer sind dunkel und mächtig, aber ich lasse mir nicht den Mund verbieten.

Zu den aufwändigsten Aspekten des Films zählen die großen Zeichnungen in der „Pardeh Khani“-Tradition, die schon aus der vorislamischen Zeit stammt. Warum erzählen Sie einige Sequenzen auf diese Weise?

Ich möchte in meinen Filmen auch Methoden verwenden, die etwas aus dem Blickfeld verschwunden sind. Bei meinem vorherigen Film „In the Name of Scheherazade“ habe ich Schattenspiel-Sequenzen verwendet und diesmal eben Pardeh Khani. Das war im Grunde ein Vorgänger des Kinos im Nahen Osten, wenn auf eine Leinwand alle Szenen gemalt wurden und ein Sänger, begleitet von einem Musiker, die ganze Geschichte erzählte. Die Zuschauer saßen da und hörten die alten Mythen, in der Zeit des Islams wechselte es dann zu religiösen Geschichten. Hauptsache, die Menschen wurden unterhalten. Solche Schätze, die ich durch meine Herkunft habe, versuche ich auf neue Art zu verwenden, für die Magie im Kino. Der Darsteller des Geschichtenerzählers, Saleh Rozati, ist Absolvent der Akademie der bildenden Künste Wien, er macht Performances, und ich wusste, wie er auf die Bühne kommen würde. Aber er war noch nie als Pardeh-Khan aufgetreten, und so war es auch für ihn eine Herausforderung. Mein Kameramann und ich konnten in diesem Fall auch erst beim Dreh entscheiden, wie wir die Bilder und den Gesang zusammenbringen. Wir dachten zuerst, dass wir die Szenen alle auf Englisch drehen, fanden es aber dann noch interessanter, iranische Geschichte auf Persisch und deutsche auf Deutsch zu erzählen. Das waren die einzigen Stellen, an denen wir improvisiert haben. Ansonsten haben wir uns immer exakt ans Drehbuch gehalten.

„Shahid“ greift auch die iranische „Pardeh Khani“-Tradition auf (© Michael Kalb Filmproduktion)
„Shahid“ greift auch die iranische „Pardeh Khani“-Tradition auf (© Michael Kalb Filmproduktion)

Im Film wird oft die Vierte Wand durchbrochen, die Darsteller werden neu eingewiesen und Teile des Teams sind vor der Kamera zu sehen. Warum gibt es diese vielen Illusionsbrüche?

Ich habe bewusst immer wieder den Dreh abgebrochen, um den Zuschauern das Gefühl zu geben, dass etwas Echtes kommt. Dabei spiele ich auch mit dem Eindruck von „echt“ und „fake“, etwa in der Szene, wenn meine Hauptdarsteller nicht wissen, dass das Mikrofon an ist, und über mich lästern. Das stand alles so im Drehbuch. Mir geht es nicht darum, einen perfekten Film zu machen. Perfekte Filme gibt es genug. Deswegen halte ich den Zuschauern bewusst, dass alles inszeniert ist, ich einen Green Screen verwende und so weiter. Entscheidend ist, dass ich ihr Mitgefühl gewinne.

Konnten Sie durch „Shahid“ mit der Last Ihrer Vergangenheit abschließen?

Ich kann nicht abstreiten, welche Herkunft ich habe, aber ich habe auf meine Art endlich meine Therapie bewältigt. Das ist eine echte Erleichterung. Seitdem ich in Deutschland lebe, mache ich autobiografische Filme. Ich hatte diese Notwendigkeit, weil es mir nicht gut ging. Es geht mir auch immer noch nicht gut, aber wenigstens ist mir mein Trauma bewusst. Mit „Shahid“ habe ich meine Position gezeigt, jetzt kann ich weggehen von der Autobiografie und mir erlauben, etwas anderes zu machen.


Hinweis:

Eine Übersicht über die Kinos, in denen „Shahid“ in Deutschland gezeigt wird (teilweise mit Publikumsgespräch), findet sich auf der Website der Produktionsfirma Schmidbauer-Film.

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