Der Film „Die Ermittlung“ (ab Donnerstag 25.7. im Kino) ist eine originalgetreue Adaption des 1965 erschienenen Theaterstücks von Peter Weiss, in dem der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963-1965 mit Mitteln des dokumentarischen Theaters dargestellt wurde. Für den Spielfilm wurde mit einem großen Ensemble gezielt in einem Film- und Fernsehstudio gedreht, in dem vor allem TV-Shows produziert werden. Entstanden ist ein Kinofilm, der in Zeiten des zunehmenden Antisemitismus in Deutschland von erschütternder Relevanz ist. Ein Gespräch mit dem Regisseur RP Kahl.
Der Produzent Alexander van Dülmen ist auf Sie zugekommen, ob Sie die Regie übernehmen wollen. Wie war Ihre erste Reaktion?
RP Kahl: Ich habe mich gefreut und zugleich nachgedacht, warum er genau mich fragt. Wir kannten uns von einem Projekt aus dem Jahr 1997, hatten aber seitdem nur wenig Kontakt. Alexander hatte aber meinen vorherigen Film „Als Susan Sontag im Publikum saß“ gesehen. Das war ein Hybridfilm mit dokumentarischen und Performance-Elementen, mit mehreren Kameras gedreht. Für ihn sei das eine gute Vorarbeit gewesen. Da habe ich gedacht, dass es Sinn ergibt, wenn er mich anspricht und nicht jemand anderen.
Und das kam zu einem richtigen Zeitpunkt. Schon vor „Als Susan Sontag im Publikum saß“ wollte ich herausfinden, wie man politische und historische Ereignisse filmisch umsetzt. In einem Seminar an der Filmhochschule habe ich den Studierenden eines Seminars zum Thema „Audiovisuelle Philosophie“ den Film „Nacht und Nebel“ (1956) von Alain Resnais gezeigt. Aber nicht mit großem Erfolg. Die Studierenden waren geschockt, aber danach kam keine Emotion, die etwas anderes evoziert oder ein Nachdenken in Gang gebracht hat, Interesse oder Neugier ausgelöst hätte. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Mittel des Films sehr stark in ihrer Zeit verhaftet sind. Ich finde ihn gut, aber die Zwanzigjährigen konnten nichts damit anfangen. Das war für mich ein Alarmzeichen. Man muss also auch Filme, die von geschichtlichen Ereignissen handeln, auf eine Art umsetzen, dass auch ein junges Publikum sich das ansehen kann, mit filmischen Mitteln, die sie kennen. Wenn man einen Film über den Holocaust macht, dann macht man den nicht als Autorenfilmemacher. Ich will mich hier nicht selbst verwirklichen, das Thema ist größer als ich.
Ging Ihnen nach Ihrer Zusage, als Sie Zeit hatten zum Nachdenken, auch die Möglichkeit des Scheiterns durch den Kopf?
Kahl: Es war ein kurzer Moment des Innehaltens. Dann brauchte ich aber auch eine gute Idee. Ich bin zwar ein Typ, der konzeptionell arbeitet, aber am Ende entstanden meine Filme immer im Prozess des Machens. Mein Film „A Thought of Ecstasy“ war Suche, ich wusste zuerst gar nicht wirklich, was ich machen will, was der eigentliche Inhalt ist, wenn ich ehrlich bin.
Dieses Mal musste ein klares Konzept her, das wir präsentieren konnten. Der Suhrkamp Verlag war natürlich auch darauf bedacht. Die Witwe von Peter Weiss hat das Konzept noch abgenommen, bevor sie gestorben ist. Sie war in Berlin und hat ihr letztes Buch vorgestellt, und da haben wir uns mit ihr getroffen. Für mich war der „Point of no Return“ sowieso bald überschritten, aber als die Schauspieler das Konzept gut fanden, war klar, dass es schon mal gar nicht so schlecht sein kann. Als das Fernsehen dazu kam, arte und der BR, und dann Leonine als starker Verleih, da wurde mir klar, dass es klappen könnte.
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Ein Drehbuch liegt ja nicht vor, nur das Buch von Peter Weiss. Eine wichtige Veränderung wurde aber vorgenommen. Bei Weiss sind es 9 Zeuginnen und Zeugen, im Film sind es 39. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Kahl: Genau, bei Weiss sind es 9 Zeug:innen, sieben Häftlinge, darunter zwei Frauen und zwei Lagerverwaltungsmitarbeiter. Im Stück ist angelegt, dass ein Schauspieler immer wieder einen anderen Charakter verkörpert [Anmerkung: Weiss verwendet die anonymisierten Aussagen von mehreren hundert Zeuginnen und Zeugen]. Wenn beispielsweise der Zeuge 3 durch das Stück durchgeht, kann man herauslesen, dass er beim nächsten Auftritt eine andere Figur ist und die Figur kann eigentlich nicht dieselbe wie vorher sein.
Peter Weiss wollte, dass es etwas Universelles hat, dass da nicht eins zu eins echte Zeugen erkennbar sind, sondern ihre Aussagen zu etwas Allgemeingültigem zusammengefasst sind. Das finde ich für das Theater okay, wo ich es als Zuschauer glaube, wenn der Schauspieler nach hinten geht, sich eine andere Jacke anzieht und als jemand anderes wieder nach vorne kommt. Beim Film geht das nicht. Das würde den Abstand zum Publikum, den Verfremdungseffekt, zu groß machen. Das hätte uns eingegrenzt. Zum einen, weil wir nur zwei Frauenfiguren gehabt hätten. Historisch betrachtet stimmt das auch nicht, weil beim Auschwitz-Prozess sehr viele Zeuginnen ausgesagt haben. Zum anderen hatten wir so die Chance, durch unterschiedliche Darsteller:innen von Zeuginnen und Zeugen auch zu zeigen, dass die meisten der Häftlinge in Auschwitz nicht Deutsche waren, sondern Juden aus Polen, aus der Sowjetunion, aus Ungarn, Tschechien, der Slowakei, aus Rumänien, Griechenland und Holland. Deshalb war es auch gut, eine Bandbreite von Schauspieler:innen aus diesen Ländern besetzen zu können.
Das ist eine große Herausforderung für das Casting. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Kahl: Wir hatten einen sehr guten Caster, Marc Schötteldreier aus Köln, der sehr viele dieser Aufgaben übernommen hat: herauszufinden, wer deutsch spricht, wer verfügbar ist und nicht gerade in Hollywood. Und wer aus diesen Ländern kommt. Viele leben auch in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen leben viele, die ursprünglich aus Polen, aus der Ukraine oder aus Tschechien kommen. Das bekommt man manchmal ja gar nicht so mit, weil man sich das nicht so bewusst macht. Natürlich haben wir auch recherchiert und haben befreundete Produzenten in Tel Aviv gefragt, welche israelischen Schauspieler vorstellbar wären. Mir war schon auch wichtig, dass gegebenenfalls Nachkommen von Betroffenen mitwirken. Viele Überlebende sind ja auch nach Israel oder in die USA gegangen und haben dort eine neue Heimat gefunden. Das sollte auch spürbar werden. Diese Mischung war eine nicht so einfache Aufgabe. Die Schauspieler:innen hier in Deutschland, die für diese Rollen geeignet sind, kenne ich überwiegend. Aber es war auch interessant, ein Ensemble zusammenzustellen, das nicht zu homogen ist, wo sich auch die Spielweisen in Nuancen unterscheiden. Das erschien mir gut für die Dynamik des Films. Es war ein bisschen wie ein Puzzlespiel. Es musste zusammenpassen.
Wie wirkte sich das auf die Probenarbeit aus?
Kahl: Es mussten alle zu den Probenterminen können. Wir hatten eine Excel-Tabelle, in der drinstand, wer wann konnte und wie wir das sinnvoll in der Probenarbeit umsetzen könnten. Es gab eine Vorgabe, dass alle mindestens einmal in der Probenzeit, mindestens einmal auf der Studiobühne und einmal bei der Generalprobe können mussten. Wir haben eine Generalprobe gemacht, wo wir den ganzen Film durchgespielt haben.
Aber die wurde nicht aufgenommen, oder?
Kahl: Aufgezeichnet haben wir, aber nicht hochauflösend und nur für unsere Zwecke. Es sollten alle die Freiheit haben, sich auszuprobieren und nicht daran zu denken, dass Material der Generalprobe später im Film landet. Es gab zwei, die bei der Generalprobe nicht konnten. Ich wollte sie aber so sehr und fand sie so wichtig und so gut, dass ich sie bei der Generalprobe durch Stand-Ins, durch junge Schauspielerinnen und Schauspieler, ersetzt habe. Einer war Karl Markovics. Er war unglaublich stark und sehr kollegial. Ihn kann man nicht ersetzen, aber es war möglich, ihn doubeln zu lassen. Die Stand-Ins hatten wir vorher auch für die Kameraleute. Es war ein Luxus, dass wir dafür nicht Kleindarsteller, sondern junge Schauspielerinnen und Schauspieler hatten, damit die Kameraleute die Gänge, die Fahrten im Studio üben konnten und die Schauspieler und Schauspielerinnen das nicht machen mussten und sich so nicht verausgaben oder schon ihren „Magic Moment“ haben.
Welches Kamerakonzept hat sich in den Proben ergeben?
Kahl: Der Chefkameramann Guido Frenzel ist ein Deutscher, der in Los Angeles lebt. Er arbeitet hauptsächlich für Shows und hat viel Erfahrung damit, wie man parallel mit mehreren Kameras arbeitet und das auflösungstechnisch umsetzt. Das ist eine ganz andere Auflösung als sonst im Film. Mit ihm habe ich ganz viele Konferenzen gehabt, wo wir uns dieses Konzept ausgedacht und erst einmal herausgefunden haben, wie viele Kameras wir überhaupt brauchen, wo die stehen müssen, welche Technik dafür notwendig ist und welche Kameraleute wir benötigen, um alles so umzusetzen, wie wir das wollen. Wir haben uns mit der Bühnenbildnerin Nina Peller beraten, wo wir die Kameras verstecken können und wie groß die Bühne sein muss, damit wir bestimmte Sichtachsen haben. Außerdem kam Peer Langemak dazu, der auch für Shows arbeitet und für uns das Licht gemacht hat.
Dann haben wir gemeinsam am Bühnenbild weitergearbeitet, haben eine Art Auflösung vorbereitet und sind das Drehbuch in einer Konferenz mit den Kameraleuten durchgegangen. Die Script/Continuity Lou Widemann war diesmal nicht Script/Continuity im klassische Sinne, sondern mehr Assistentin für die Bildregie. Sie hat geübt, wie sie mit den Kameraleuten spricht und ihnen zuruft, was sie machen sollen. Die Kameraleute hatten schon ihren Plan, wen sie aufnehmen, in welcher Größe und welche Fahrt sie machen sollen. Das war ein bisschen wie eine Opernaufzeichnung.
Wie wurde die bestimmt aufwändige Montage in diesen Prozess integriert?
Kahl: Unser Editor Peter R. Adam, der leider während der Arbeit an dem Film gestorben ist, war schon sehr früh involviert. Er war schon bei den Gesprächen mit Guido Frenzel dabei und hat Hinweise gegeben. Ich erinnere mich noch genau, wie er meinte, dass wir aufpassen müssen, weil hinter den Köpfen nicht das schwarze Nichts sein dürfe. Ich meinte: Ist doch cool, dann können wir gut schneiden. Aber nein: Der Zuschauer braucht einen Hintergrund, und wenn es unscharf ist. Das haben wir auch beherzigt. Er war auch am Set dabei und hat mit dem Editor meiner vorherigen Filme, Angelo Wemmje, der uns hier unterstützt hat, nach dem Drehtag schon mal „vorgeschnitten“, ob die Aufnahmen stimmig sind oder ob wir manche Kameraeinstellungen noch mal verändern müssen. Wir hatten den Eindruck, es müsste so funktionieren. Später im Schnitt haben wir herausgefunden, dass es viel aufwändiger ist. Es galt ganz stark, den Rhythmus zu finden. Wie schnell wechseln die Einstellungen, wie viel verlangsamen oder beschleunigen wir manche Momente, wie ist das Verhältnis von Blicken und Reaktionen? Christoph Strothjohann kam dazu, der früher lange Peter R. Adam assistiert hat. Als klar war, dass Peter R. Adam nicht mehr arbeiten konnte – er hatte anfangs sogar noch im Krankenhaus geschnitten – bekamen wir noch Unterstützung von Anne Fabini, die eine ausgewiesene Editorin für Dokumentarfilme ist. Das fand ich auch gut, dass so viele unterschiedliche Handschriften in der Montage dabei waren. Das war wirklich irre, wir hatten drei Schneideräume parallel.
Als wir mit jedem Gesang einmal durch waren, sind wir von Schnittraum zu Schnittraum gegangen und haben darüber diskutiert, was unsere gemeinsame Vision im Schnitt ist. Danach haben wir sogar getauscht und haben bei der Kollegin, bei dem Kollegen weiter geschnitten. Das ist schon hart und war auch nicht konfliktfrei, es war aber immer klar, dass es ein guter Film werden muss. Ich glaube nicht, dass man im fertigen Film sieht, wer was geschnitten hat. Eine Stelle habe ich gelassen, eine fünfminütige Passage. Bei der habe ich vorgeschlagen: Wir ändern nichts, das ist Peter R. Adams letzter Schnitt.
Der Film hat eine Laufzeit von 240 Minuten. Es gibt auch eine gekürzte Fassung mit nur acht von 11 Gesängen aus dem Stück von Peter Weiss und einer Laufzeit von 186 Minuten. Warum gibt es diese Fassung und was wurde aus welchen Gründen gekürzt?
Kahl: Unser Verleih hat uns gebeten, darüber nachzudenken, eine kürzere Fassung zu machen, weil die Rücksprache mit den Kinobetreibern gezeigt hat, dass sie schon auch ein bisschen Angst vor der Vierstundenfassung haben. Glücklicherweise spielen die meisten Kinos jetzt diese Vierstundenfassung. Ich finde es auch völlig okay, wenn Kinobetreiber sagen: Ich kenne mein Publikum, die Sitze sind viel zu hart, etwas mehr als drei Stunden passt besser. Wie haben wir das ausgesucht? Wir haben uns befragt, welche drei Gesänge man am ehesten herausnehmen könnte, um immer noch das große Ganze zu verstehen. Natürlich ist es total schade, zum Beispiel den zehnten Gesang herauszunehmen, weil da auch Momente von Witz drin sind, aber für die große und ganze Erzählung war das einer der Gesänge, auf den man am besten verzichten kann. Es wird auch eine serielle Fassung geben, sodass man die Gesänge wie eine kleine Serie schauen kann. Das wird auch in der Mediathek so sein. Das ist gerade in Verhandlung.
Das wäre eine Strategie, wie auch ein größeres Publikum erreicht werden könnte. Einfach ist das nicht, bei der heutigen Aufmerksamkeitsspanne. Was versprecht ihr euch denn von dem Film?
Kahl: Ich glaube, dass er im Kino wirklich am besten funktioniert, weil er für das Kino gemacht ist. Weil wir den Erlebnisraum Kino auch mitgedacht haben. Und wer diese kleine Hürde nimmt, der wird aus dem Kino kommen und sagen, dass es gar nicht so lang, gar nicht so schwer war. Auf diese Mund-zu-Mund-Kommunikation hoffe ich natürlich. Wir empfehlen eine Pause nach zwei Stunden, wie das früher auch im Kino üblich war. Ich bin überzeugt, dass es sich herumsprechen wird, dass man genau diese Vierstundenfassung gesehen haben muss.