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„Disziplin & Kontrolle (VI)“: Hundstage

SKS-Blog „Disziplin & Kontrolle“ (VI): Die glücklosen Bankräuber in „Hundstage“ sind der Einbruch der proletarischen Wirklichkeit ins Heist-Filmgenre

Veröffentlicht am
08. August 2024
Diskussion

In Sidney Lumets „Hundstage“ (1975) führen zwei Amateure aus der Arbeiterklasse einen Banküberfall aus, deren Scheitern vorprogrammiert ist. Doch gerade deshalb gehört ihnen die Sympathie dieses Vertreters einer besonderen Variante des Heist-Films, in der die Tragik von Außenseitern ins Zentrum gestellt wird. Der sechste Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ geht den Wurzeln des Films nach, die eine Verwandtschaft zur Sprachgestaltung von Kafka und Dashiell Hammett nahelegen.


Es gibt zwei Strömungen im Gewässer des Heists: einerseits der Tuxedo-Heist, ein Film wie „Ocean’s Eleven“ (2001), der von Profis und ihrer Finesse erzählt; andererseits der Wyoming-Heist, ein Film wie „Dog Day Afternoon / Hundstage“ (1975), der von Dilettanten und ihrem Scheitern spricht. Als Sonny (Al Pacino) seinen Komplizen Sal (John Cazale) fragt, in welches Land er fliehen will, sollte es ihnen gelingen, mit ihren Geiseln ein Flugzeug vom amerikanischen Staat zu erpressen, antwortet er: „Wyoming.“ Sals Antwort kommt einem Todesurteil gleich. Es gibt keine Chance, dass die beiden Räuber es mit dem Machtapparat, der ihre Vernichtung wünscht, aufnehmen werden.

Mit anderen Worten: wie ein Riss zieht sich ein Höhenunterschied durch das Genre, der den dramatischen Motor für die jeweilige Unterform diktiert. Zum einen ist da die dünne Luft des Hochstaplers, der doppelte Boden und das Spiel mit den sozialen Zeichen. In der Tiefe darunter herrscht die bleierne Hitze des kleinkriminellen Milieus, die Panik, das Missgeschick, die nackte Gewalt. Hierdurch formulieren die zwei Strömungen den Gegensatz von Fliege und Strumpfhose.

Die Bankräuber in „Hundstage“ sind bald in einer verfahrenen Situation (© IMAGO / United Archives)
Die Bankräuber in „Hundstage“ sind bald in einer verfahrenen Situation (© IMAGO / United Archives)


Erdung im Krimigenre

In einem Essay über den Kriminalroman kürt Raymond Chandler seinen Kollegen Dashiell Hammett (Autor von zum Beispiel „Der Malteser Falke“) als Meister der Kunstform, nicht etwa, weil seine Dialoge am nüchternsten, seine Handlungen am raffiniertesten sind, sondern weil er es verstand, das Genre zu erden: „Hammett gab den Mord den Leuten zurück, die Grund haben zu morden, und nicht nur da sind, um eine Leiche zu beschaffen, Leute, die die Mittel zum Mord in der Hand haben und nicht mit handgeschmiedeten Duellpistolen, mit Curare und mit tropischen Fischen morden.“ Es ist kein Zufall, dass Hammett sich 1937 der Kommunistischen Partei anschloss, kein Zufall, dass sein Antifaschismus ihn 1942 bewog, der US Army beizutreten. (Ebenso wie es vielleicht kein Zufall ist, dass Sidney Lumet, Regisseur von „Hundstage“, aus einer Arbeiterfamilie stammt).

Diese Rückanbindung der dem Genre eingeschriebenen Stilisierung an die Erde, die Rückanbindung der erdachten Figuren an die Worte der Straße hat die amerikanische Sprache in den Erzählungen Hammetts aus der Konvention gewrungen, sie verdichtet zu einem Konzentrat des Abgründigen. In den Worten Chandlers: „In seinen Händen hatte sie keine Untertöne, löste keinen Nachhall aus, beschwor keine Bilder von jenseits der Berge.“ Hammett verstand es, die Sprache selbst hart zu kochen, Sätze mit Worten zu betonieren, Satzzeichen Stahlpfeiler werden zu lassen.


Die Hinwendung zu den Kleinen

In ihrem Buch über Kafka bestimmen Deleuze und Guattari dessen Sprachgebrauch als „kleine“ Literatur. Kafka schrieb sein Werk im Pragerdeutsch, gesprochen von tschechischen Juden und Jüdinnen, einer Minderheit also, die sich einer „großen“ Sprache bedient. Kafka habe geschrieben, „wie ein Hund sich ein Loch buddelt, wie eine Maus ihren Bau gräbt“, da er feststeckte zwischen den Unmöglichkeiten, a) überhaupt nicht, b) deutsch oder c) anders zu schreiben. Wer sich in der misslichen Lage Kafkas wiederfindet, hat, Deleuze und Guattari zufolge, bloß einen Ausweg: „Vielsprachigkeit in der eigenen Sprache verwenden, von der eigenen Sprache kleinen, minderen oder intensiven Gebrauch machen, das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegenstellen, die Orte der Nichtkultur, der sprachlichen Unterentwicklung finden, die Regionen der sprachlichen Dritten Welt, durch die eine Sprache entkommt, eine Verkettung sich schließt.“ Es geht, mit anderen Worten, darum, „die Sprache langsam, schrittweise, in die Wüste zu führen“, sie in ebenjenen Zustand zu versetzen, in den Hammett sein Amerikanisch versetzt hat, sodass es nicht mehr in der Lage ist, Bilder von jenseits der Berge zu evozieren. Groß und revolutionär sei nur das Kleine. Darum attestieren Deleuze und Guattari Kafka einen „Haß gegen alle Literatur der Herren“, eine „Hinwendung zu den Knechten, zu den kleinen Angestellten“.

Sunny (Al Pacino) und die Übermacht der Polizei (© IMAGO / Everett Collection)
Sonny (Al Pacino) und die Übermacht der Polizei (© IMAGO / Everett Collection)

Es handelt sich hierbei um dieselbe Hinwendung wie die Hammetts zu den Leuten, die Grund zum Morden haben, oder eben um die Hinwendung Lumets zu den Klein-Kriminellen aus „Hundstage“, denen, die sich nach Wyoming träumen, die keine Tuxedos besitzen – vielleicht nicht mal Strumpfhosen für ihre Schädel.


Außenseitertum und Aussichtslosigkeit

Worin genau besteht die Kleinheit von Lumets Film? Ich denke, im Außenseitertum seiner Figuren und der Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Sonny braucht das Geld, um seiner Partnerin, Leon Shermer (Chris Sarandon), eine geschlechtsangleichende Operation zu finanzieren. (In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der Filmkritiker Jan Künemund, ausgehend von Nick Davis’ theoretischen Überlegungen, vorschlägt, Queer Cinema als ein ebensolches „kleines Kino“ im Sinne von Deleuze und Guattari zu begreifen.) Dass Sonny kein Experte ist, offenbart sich augenblicklich durch die Unbeholfenheit seiner den Überfall einleitenden Geste. So gelingt es ihm erst nach einigem Rütteln, das Gewehr aus dem Geschenkkarton unter seinem Arm zu schälen. Er ist kein Berufskrimineller, kein Doc Riedenschneider. Im Gegenteil, Sonny hat früher als Bankangestellter gearbeitet. Und wenn Sonny in der Live-Übertragung die blutige Niederschlagung des Gefängnisaufstands in Attica anprangert, so ist das nicht nur Kalkulation, sondern auch Solidarität mit den Unterdrückten.

Die filmische Erzählung macht zudem keinen Hehl aus ihrem tragischen Kern, den immer schon geweinten Tränen aus den Drüsen ihrer Figuren, die als Wässerchen durch die Historie des Dramas – wahrscheinlich durch die Historie des Geschichtenerzählens überhaupt – rinnen. So wird bereits nach zehn Minuten offenbar, dass sich bloß 1.100 Dollar im Tresor befinden. Und fünf Minuten später ist die Bank vom NYPD umstellt. Während der große Heist seine Lust daraus bezieht, die Möglichkeit des Gelingens eines unwahrscheinlichen Vorhabens zu bebildern, erhitzt Lumet die dramatische Form, bis das Fleisch sich von ihren Knochen löst, bis bloß noch das Gerippe bleibt. Er führt das Genre in die Wüste, vermindert, staucht zusammen, schrumpft ein. Der aus dem klassischen Heist herausgelöste Rest ist jedoch keinesfalls mager. Mit den Worten Jan Künemunds vollzieht sich vielmehr dessen „Intensivierung, Spannung, Aufgrellung, Verarmung“.

Lumet erhitzt seine dramatische Form immer mehr (© imago images/United Archives)
Lumet erhitzt seine dramatische Form immer mehr (© imago images/United Archives)


Literaturhinweis

Der Kriminalroman I. Von Jochen Vogt. Wilhelm Fink Verlag, München 1971.

Kafka. Für eine kleine Literatur. Von Gilles Deleuze, Félix Guattari. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1976.

The Desiring-Image.Gilles Deleuze And Contemporary Queer Cinema. Von Nick Davis. Oxford University Press, Oxford 2013.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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