Das Filmfest München steckt in einer Übergangsphase bis zur Neubesetzung der Festivalleitung 2026. Im ersten Jahr unter Interimsleiter Christoph Gröner präsentiert sich das Festival mit seiner 41. Ausgabe aber kaum verändert: Neben Uraufführungen deutscher Filme und Serien finden sich die bekannte Mischung aus Übernahmen von Festivals wie Cannes, Venedig und Sundance, das fortgesetzte Experiment einiger internationaler Weltpremieren und Glamour durch Stargäste wie Jessica Lange und Kate Winslet. Ein Ausblick.
Das Filmfest München hat viel Erfahrung damit, sich neu zu erfinden. Kaum eines der letzten Jahre ist vergangen, ohne dass mit hinzukommenden und wegfallenden Sektionen, wechselnden Kooperationen und besonderen Aktionen am Rande die Gestalt des Festivals sich immer wieder leicht veränderte. Das ist auch im Sommer 2024 mit der 41. Ausgabe vom 28. Juni bis 7. Juli nicht anders, zumal nach dem vorzeitigen Rückzug von Festivalleiterin Diana Iljine erst ab 2026 offiziell eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger ihr Amt antreten wird. Die Interimsleitung für die nächsten beiden Ausgaben unter dem langjährigen Künstlerischen Leiter Christoph Gröner betont vorab allerdings mit dem Motto „(Re-)Born to be Wild“ neben dem Aufbruch ebenso die Rückkehr zu den Wurzeln des Festivals mit dem Nebeneinander von Entdeckungen und Starkino. Die aus 150 Filmen bestehende Auswahl 2024 kündigt zudem von der Kontinuität bereits angestoßener Entwicklungen.
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Heimische Gewächse: Neue deutsche Filme
Unter den sieben Sektionen, in denen Preise vergeben werden, hat sich die Reihe „Neues deutsches Kino“ in den letzten Jahren zu einer stabilen Plattform für ambitionierte deutsche Filme gemausert. 2024 findet sich hier mit dem Eröffnungsfilm „Zwei zu eins“ von Natja Brunckhorst zwar auch eine publikumsträchtige Komödie, dominiert wird die Sektion aber von Dramen um gesellschaftlich brennende Themen neben einigen Genrearbeiten und Satiren. Bereits mit Vorschusslorbeeren in Form der „Lola“ für das beste unverfilmte Drehbuch präsentiert sich „Klandestin“ von Angelina Maccarone, in der eine konservative Politikerin um Hilfe für einen illegalen Migranten aus Marokko gebeten wird; das Thema Migration greifen mit „Im Rosengarten“ von Leis Bagdach und „Xoftex“ von Noaz Deshe noch zwei weitere Filme der Sektion auf.
Schwarzhumorig mit Missständen der Gegenwart beschäftigen sich Irene von Alberti in „Die geschützten Männer“, in der ein Virus ohnehin verheerende Eigenschaften der Herren der Schöpfung eskalieren lässt, bevor es ein männliches Massensterben zu bewirken droht, und „Muxmäuschenstillˣ“, mit der Jan Henrik Stahlberg unter eigener Regie zwanzig Jahre nach „Muxmäuschenstill“ wieder in die Rolle des drakonischen Weltverbesserers Mux schlüpft. Attraktiv ergänzt wird die Sektion unter anderem durch neue Arbeiten aus dem Bereich Auslotungen familiärer Gefüge von Judith Angerbauer („Sabbatical“) und Fabian Stumm („Sad Jokes“), die auf Fuerteventura spielende Dreiecksgeschichte „All We Ever Wanted“ als erstem Spielfilm des Filmkritikers Frédéric Jaeger und die Romanverfilmung „Frisch“ des für seine ungeschminkt harten Milieustudien bekannten gebürtigen US-Amerikaners Damian John Harper.
Neben den 16 Filmen der „Neues deutsches Kino“-Sektion bieten in München auch die anderen Reihen ehrgeizige deutsche Arbeiten auf. So stellt Joachim Lang mit „Führer und Verführer“ ein Doku-Spielfilmhybrid über die Manipulationsstrategien von Joseph Goebbels vor, RP Kahl wagt sich mit einem Mammutensemble an eine textgetreue Adaption von Peter Weiss’ dokumentarischem Theaterstück „Die Ermittlung“ über den Frankfurter Auschwitz-Prozess der 1960er-Jahre.
Aber auch leichtere Stoffe bleiben in München nicht außen vor: Alireza Golafshan hat mit „Alles Fifty Fifty“ eine Beziehungskomödie mit Moritz Bleibtreu und Laura Tonke gedreht, um ein Paar, das Trennung und Elternschaft zu vereinen versucht. Ebenfalls auf publikumswirksame Heiterkeit ausgerichtet ist mit „Spieleabend“ von Marco Petry eine weitere Variation des beliebten Motivs aus dem Ruder laufender geselliger Anlässe.
Highlights aus Cannes & Co.
Wichtigste Attraktion in München neben den
deutschen Erstaufführungen ist die Übernahme von Filmen, die auf den
A-Festivals der Welt bereits reüssierten und in der Isarstadt ihre
Deutschlandpremiere erfahren. Das ist auch 2024 nicht anders, indem etwa aus
dem erst wenige Wochen zurückliegenden Festival von Cannes die dort prämierten
Filme „All We Imagine as Light“, „Kinds of Kindness“
und „The Substance“ in München zu sehen sind. Zwar haben sich in
den letzten Jahren andere deutsche Festivals zunehmend als Konkurrenz in Sachen
Cannes entpuppt – namentlich Hamburg –, doch München hat sein Portfolio bislang
gut auch mit Filmen von anderen Filmfestspielen zu füllen verstanden.
Insbesondere Premieren aus Venedig, San Sebastián und Sundance sind auch dieses
Jahr vor allem im „CineMasters“-Wettbewerb vertreten, darunter das Demenzdrama
„Memory“ mit Peter Sarsgaard und Jessica Chastain, „Frau aus Freiheit“ von Malgorzata Szumowska und Michal Englert über den
jahrelangen Kampf einer Transfrau um Anerkennung oder „Sujo“ über
einen Mexikaner, der im Schatten des Drogenkriegs aufwächst.
Einen zweiten Anlauf startet das Filmfest mit der „CineCoPro“-Sektion für Filme, die als internationale Koproduktionen entstanden. Dieser Wettbewerb hatte 2019 seine erstmalige Ausgabe gefeiert, um sofort wieder einkassiert werden. Der bislang einzige Gewinner war seinerzeit das epische Drama „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao“, dessen brasilianischer Regisseur Karim Aïnouz nun passenderweise auch beim Comeback des Preises wieder vertreten ist, dieses Mal mit seinem Thriller „Motel Destino“. Auch andere primär südamerikanische Arbeiten finden sich in dieser Sektion wie die neuen Werke des Argentiniers Martín Rejtman („La Práctica“) und des Chilenen Benjamin Naishtat („Puan“) sowie der neueste Streich der Kanadier Guy Maddin, Evan Johnson und Galen Johnson („Rumours“). Daneben steht das Regiedebüt der luxemburgischen Schauspielerin Desirée Nosbusch mit einer Adaption des Theaterstücks „Gift“ von Lot Vekemans: „Poison– Eine Liebesgeschichte“ handelt mit Trine Dyrholm und Tim Roth von der Wiederbegegnung eines früheren Paares.
Weltpremieren
Nosbuschs Film gehört zu den sechs Werken, mit denen sich das Filmfest München weiterhin der schrittweisen Öffnung für Weltpremieren verschreibt. „Wir verstehen das Filmfest München auch als Entdecker-Festival, als Wegbereiter und Sprungbrett für internationale Independent-Produktionen“, heißt es in der Ankündigung des Festivals. Dazu gehören dieses Jahr der US-Independentfilm „Allen Sunshine“, das Philosophen-Porträt „Krishnamurti, la révolution du silence“, Ulrike Koflers Studie einer dysfunktionalen Familie mit „Gina“, die Raubkunst-Doku „The Spoils“ sowie „Continente“ vom Brasilianer Davi Pretto.
An der etablierten Sektion „CineVision“ für Debütfilme hält das Festival im Übrigen ebenso fest wie an der noch relativ frischen „CineRebels“-Auswahl für „formatsprengende“ Filme. Zu den 14 dort dieses Jahr zu sehenden Werken gehört etwa mit „Los Hiperbóreos“ der zweite Film von Cristóbal León und Joaquín Cociña nach ihrer Stop-Motion-Puppenanimation „La Casa Lobo“ über die Colonia Dignidad. Auch diesmal arbeiten sie einen dunklen Punkt der chilenischen Geschichte auf, indem sie mit künstlerisch vielfältigen Mitteln an den Diplomaten Miguel Serrano erinnern, der einen „esoterischen Hitlerismus“ begründete. Erwartungen weckt auch „Misericordia“ der stets spannend an den Übergängen zwischen Theater und Kino inszenierenden Italienerin Emma Dante.
Auch Kino für die Kurzen
Gehört es zum Wesen dieser Wettbewerbe, sich auch auf sperrige filmische Ansätze einzulassen, setzt das Filmfest aber ebenso auf sehr publikumswirksame Beiträge. Dazu gehört insbesondere das Kinderfilmfest, das seit diesem Jahr „CineKindl“ heißt. Zwar wartet es 2024 nicht mit einem neuen „Räuber Hotzenplatz“ oder „Pumuckl“ als naheliegendem Publikumsrenner auf, die Auswahl präsentiert sich aber mit dem in Sundance hoch gehandelten Coming-of-Age-Drama „Dìdi“, dem Animationsfilm „Sirocco und das Königreich der Winde“ oder der deutschen Doku „Sisterqueens“ über Mädchen, die bei Rapperinnen Mut lernen, ambitioniert. Die bewährten Nebensektionen „International Independents“ und „Spotlight“ versammeln derweil Entdeckungen aus aller Welt vom tibetischen Drama „Snow Leopard“ bis zum Starkino mit Moritz Bleibtreu, Robert De Niro und Viggo Mortensen.
Besonderes Flair versprechen auch die beiden Schauspielerinnen nach München zu bringen, die dort 2024 Ehrenpreise für ihr Lebenswerk erhalten. Kate Winslet hat dabei ihr Herzensprojekt „Die Fotografin“ über die Kriegskorrespondentin Lee Miller dabei, Jessica Lange präsentiert neben dem Drama „The Great Lillian Hall“ über eine mit Gedächtnisverlust ringende Darstellerin auch eine Ausstellung mit ihren Fotoarbeiten aus der Corona-Zeit im Deutschen Theatermuseum. An filmhistorisch Interessierte richtet sich auch eine kleine Hommage an den aus dem Iran stammenden Regisseur Sohrab Shahid Saless (1944-1998) mit drei gesellschaftskritischen Filmen aus den 1980er-Jahren.
Demokratie stärken
Saless’ Arbeiten passen mit ihren intensiven Warnungen vor fremdenfeindlichen und rechtsradikalen Auswüchsen in Deutschland auch trefflich zu dem Label „Filme zur Stärkung der Demokratie“, unter das in München Teile des diesjährigen Programms gestellt werden. Filme wie „Die Ermittlung“, „Führer und Verführer“ oder „The Spoils“ künden von der Unabgeschlossenheit der Nazi-Vergangenheit und setzen im Programm ein politisches Zeichen. Genauso wie bereits zum 12. Mal der Fritz-Gerlich-Preis, der im Gedenken an den von den Nazis ermordeten Publizisten am 3. Juli vergeben wird. Nominiert dafür sind dieses Jahr das galizische Drama „O Corno“ über eine Hebamme im Widerstand gegen den Franco-Staat, die in alemannischer Mundart gedrehte Studie „Milch ins Feuer“ und „Tatami“ über eine iranische Judoka, die auf Geheiß des Regimes nicht gegen eine israelische Gegnerin antreten soll, eine gemeinschaftliche Inszenierung des Israelis Guy Nattiv und der Iranerin Zar Amir Ebrahimi.
Anspruchsvoll, politisch relevant und publikumsfreundlich – das Filmfest München steht also 2024 auf vielen Säulen. Aber auch das ist schließlich gute Tradition.