Der US-Amerikaner Sean Baker dreht seit fast 25 Jahren Filme über die
sozialen Randgebiete seines Landes, in denen er mit großer Zuneigung Figuren
aus dem gesellschaftlichen Abseits porträtiert. Damit, wie er von
Armut, Migration und Sexarbeit erzählt,
ohne sie für Elendsgeschichten auszuschlachten oder sentimental zu
verbrämen, hat er sich als einer der konsequentesten
US-Independent-Filmemacher profiliert. Mit
„Anora“ hat er 2024 beim Filmfestival in Cannes die „Goldene Palme“ gewonnen; am 31.10. startet der Film nun in den deutschen Kinos.
Alexandra singt. Doch ihr Auftritt, für den sie den ganzen Tag mit Flyern geworben hat, findet kein Publikum. Einzig ihre Freundin Sin-dee und die von ihr mit in die Bar geschleifte Nebenbuhlerin besetzen eine der verwaisten Sitzbuchten. Die Stimme der Freundin bringt für einen Moment Frieden in die auf Krawall gebürstete Zwangsgemeinschaft. Und doch ist das, was auf der Bühne passiert, kein Highlight im dramaturgischen Sinne. Der Auftritt verzaubert keine Fremden; er spitzt den Film nicht zu und bringt dem Weihnachtstag, den die Freundinnen auf dem glühenden Asphalt des Straßenstrichs verbracht haben, weder ein glückliches noch ein unglückliches Ende. Alexandras Stimme verhallt. Der Moment verfliegt. Das Trio verlässt die Bar. Der Abend geht weiter.
Der Höhepunkt, der kein Höhepunkt war, ändert in „Tangerine L.A.“ (2016) nicht das Schicksal der Prostituierten. Es ist keine triumphale Befreiung, sondern nur eine weitere Sackgasse in einem Lebensentwurf, der sich längst an die Perspektivlosigkeit gewöhnt hat. Und doch hinterlässt Alexandras Auftritt etwas. Es ist dieses schwer Fassbare, eine nicht auf metaphorische oder dramatische Zuspitzung getrimmte Aufrichtigkeit, die das Kino von Sean Baker sucht. Wer Kritiken zu seinen Filmen liest, wird früher oder später über das Wort „Humanismus“ stolpern. Eine treffende, wenngleich vage Umschreibung für das Ethos des New Yorker Filmemachers. Baker kommt den Menschen nahe, die das Kino sonst gerne auf analytische Distanz hält. Jene Menschen, die sonst nur als Repräsentanten ihres Milieus dienen, sind seine Stars. Auf der Leinwand leuchten sie an der Seite von Stammschauspielern wie James Ransone, Karren Karagulian oder in Hollywood eher abgeschriebenen Darstellern wie Simon Rex und Bree Elrod.
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Im Schatten von Hollywood
Bakers Filme spielen an der Peripherie der glamourösen USA. Die Protagonist:innen leben mitten in Hollywood, direkt neben Disney World oder nur einen Block jenseits des Broadway, immer aber endlos weit entfernt vom Glanz, der mit diesen Namen assoziiert wird. „Magic Castle“ heißt das Motel, in dem die Mutter Halley (Bria Vinaite) und ihre Tochter Moonee (Brooklynn Prince) in „The Florida Project“ (2017) weder eine Aussicht auf die Zukunft noch auf das nahe gelegene Disney World haben. Die Pornodarsteller Jane (Dree Hemingway) in „Starlet“ (2012) und Mikey (Simon Rex) in „Red Rocket“ – zwei grundverschiedene Figuren aus zwei grundverschiedenen Filmen – haben Hollywood knapp und zugleich meilenweit verfehlt. Jane lebt zwar im San Fernando Valley, dreht aber nicht in den ikonischen Studios von Warner oder Disney, sondern in den Wohnzimmern von Fertigbauhäuser, die spontan zu Pornosets umgebaut werden. Mikey hat die Pornoszene hinter sich gelassen und gegen das Panorama seiner texanischen Heimatstadt tauschen müssen, wo er ohne einen Cent in der Tasche, dafür aber mit sichtbaren Blessuren auftaucht. Die transsexuellen Prostituierten Sin-dee (Kitana Kiki Rodriguez) und Alexandra (Mya Taylor) feiern in „Tangerine L.A.“ Weihnachten in Hollywood, das sich auch hier freilich nicht in Form der bekannten Wahrzeichen präsentiert, sondern auf die wenigen verruchten Blocks des Straßenstrichs reduziert ist.
Von den USA erzählen Bakers Filme nicht, indem sie die Diskurse der Trump-Ära oder der von Ressentiments zerfressenen Gesellschaft durchkauen, sondern weil sie sich ohne Stigma gesellschaftlichen Randzonen nähern. Bakers frühe Filme finden diese, ohne sich an den Schatten der großen US-Sehnsuchtsorte orientieren zu müssen. Es sind Migranten, deren Lebensentwürfe im Sozialsystem des einst von Migranten gegründeten Staats keinen Platz finden. Die illegal nach New York eingewanderten Protagonisten aus „Take Out“ (2004) und „Prince of Broadway“ (2008) leben in einer ebenso rauen wie solidarischen Schattengemeinschaft. Bakers Debütfilm „Four Letter Words“ (2000) betrachtet ein bürgerliches Milieu, vermittelt aber dennoch sein enormes Talent, die spezifische soziale und rhythmische Dynamik einer nach außen abgedichteten Gemeinschaft einzufangen. In diesem Fall ist es eine Gruppe von High-School-Absolventen auf einer Party mit viel Alkohol, wenigen Frauen und einem hohen Mitteilungsbedarf.
Lebensbejahung mit Tragik
Das Leben von Lucky (Prince Adu) aus „Prince of Broadway“ ist ungleich harscher. Seine Existenz konzentriert sich auf ein kleines Hinterzimmer in der Shopping-Ader von New York. Hierhin lockt er die potenzielle Midtown-Manhattan-Kundschaft, denen Ladenbesitzer Levon (Karren Karagulian) vom LKW gefallene Nike-Sneaker und Gucci-Taschen verkauft. Der Hustler und seine Solidargemeinschaft geraten an ihre Grenzen, als ihm seine Ex-Freundin seinen Sohn übergibt, um den er sich fortan kümmern muss, obwohl er weder das Geld noch die Erfahrung und erst recht keine Muße dafür hat. Der Tiefpunkt kommt für Lucky, als ihn auch seine neue Freundin verlässt. Nach einem Streit beim Mittagessen sitzt plötzlich nicht mehr eine potenzielle Patchwork-Familie im Soulfood-Café, sondern nur noch der Sohn, der nicht ahnt, dass die Freundin gerade Papa und Papa gerade ihn verlassen hat.
Der tragischste Moment erfährt aber eine fast komische Wendung, als Lucky reumütig wieder durch die Tür hereinschleicht und einen Blick in Richtung Sohn wirft, der gleichzeitig um Verzeihung zu bitten und zu sagen scheint: „Es ist auch ein bisschen deine Schuld.“ Dass Vater und Sohn in diesem Moment zur Familie werden, ist emblematisch für Bakers Ethos, das weder für Sozialkitsch noch distanzierte Armutsbetrachtung steht, sondern für eine die Tragik nie ganz verdrängende Lebensbejahung.
Kino der Kehrseite
„Take Out“ (2004) entstand in Co-Regie und -produktion mit Shih-Ching Tsou, die viele von Bakers späteren Filmen produziert hat. Der weitgehend in chinesischer Sprache gedrehte Film erzählt ein gänzlich anderes, aber von der gleichen Solidarität getragenes Migrantenschicksal. Bereits in der Eröffnungsszene scheinen alle Fluchtwege für den Fahrradkurier Ming (Charles Jang) versperrt zu sein. Zwei Handlanger überbringen mit einem Hammerschlag das Ultimatum seines Kredithais. Bis zum Abend muss Ming mehrere hundert Dollar zusammenkratzen. Da er als illegal immigrierter Arbeiter nur Freunde in ähnlichen Verhältnissen hat, muss es sein Job richten. Der Film folgt ihm auf seinen unzähligen Touren, um an jeder Tür vielleicht einen Dollar extra zu ergattern. Die Wege führen dabei von den verregneten Straßen in die Hausflure New Yorks und zurück in die winzigen, mit zwei Köchen, zwei Kurieren und einer Chefin gefüllten Take-Out-Restaurants.
Ming muss das Tempo dabei so hoch halten, dass ihm keine Zeit bleibt, den Alltagsrassismus, die netten Gesten oder den Grundzustand der schlechten Laune in der Stadt wahrzunehmen. Jede dieser Interaktionen hinterlässt den Beigeschmack einer prekären Existenz. Es sind die Summe dieser Interaktionen, die Masse der Auslieferungen, die zurückgelegten Kilometer und die an jeder Tür neu aufflammende Hoffnung, mehr als einen Vierteldollar Trinkgeld zu ergattern, die allmählich zu Erkenntnissen führen.
Jeder einzelne Arbeitstag ist dabei so lang, dass der Alltag zur Gänze auf das Geld ausgerichtet ist, das Ming nach Hause schickt; die ganze Freizeit steckt in einer vor dem Restaurant gerauchten Zigarette. Bakers Kino ist gepimpter Neorealismus. Ein in der US-amerikanischen Filmlandschaft weitgehend singuläres, mit Popkultur garniertes, subtil pointiertes und tief in Lokalkolorit getränktes Kino der Kehrseite, das durch die Augen derjenigen schaut, über die viel geredet wird, die aber zu sehr mit dem Überleben beschäftigt sind, um selbst mitzureden zu können.
Wenn die Armut noch kein Begriff ist
Oder, wie im Falle der Kinder, die die Welt von „The Florida Project“ unsicher machen: durch die Augen derjenigen, für die ihre eigene Armut noch kein Begriff ist. Moonee, Scooty und Jancey nehmen die Zuschauer an die Hand und führen sie durch die grellbunte Tristesse der Welt, in der sie mit kindlicher Begeisterung die Zerstörung von Wohlstandsobjekten zelebrieren: Autos werden bespuckt, verwaiste Häuser angezündet und der Strom abgestellt. Dass Hal Roach und seinen „kleinen Strolchen“ von Baker prominent in den Credits gedankt wird, kommt nicht von ungefähr: Moonee und ihre Freundinnen erleben ihre eigene Version einer Kindheit im Schatten der „Großen Depression“; ein spielerisches Zerschmettern ihrer kapitalistischen Umgebung, das ein böses Ende verspricht, bis dahin aber erst einmal Spaß und Freiheit bedeutet.
Die Scherben, die sie dabei hinterlassen, fegt Willem Dafoe als gutmütiger Hausmeister Bobby zusammen. Um die Welt von „Magic Castle“ intakt zu halten, pinselt er nicht nur den fliederfarbenen Glanz der Fassade nach, sondern nutzt seinen Posten auch, um einen schützenden Blick auf die Kinder zu haben. Wie wichtig diese Perspektive ist, zeigt Baker dort, wo der Farbeimer auf den Boden stürzt, weil Bobby ein Mann ins Auge fällt, der für die spielenden Kinder nur ein netter Opa zu sein scheint. Bobby aber jagt den Pädophilen unter den so verständnislosen wie entsetzten Blicken der Kinder vom Hof.
Ködern mit Farbe
Die Farbe, die
dabei aus Bobbys stürzendem Eimer spritzt und dem Bild einen neuen Anstrich
verpasst, ist das wohl augenscheinlichste Merkmal von Bakers Blick auf das
marginalisierte Amerika. Bakers Kino ist ein Kino der Farbpracht. Je weiter
sich die Filme aus New York Richtung Westen und gleichzeitig aus der No-Budget-
in die Independent-Ecke bewegen, desto deutlicher wird ihre reiche Farbpalette
als ästhetischer Lockruf erkennbar. Eine auf Mini-DV, iPhone, körnigen 16mm-
oder glasklaren 35mm-Bildern festgehaltene Einladung, genau jene mitleidige
Distanz aufzugeben, mit der das Kino gerne auf Armut, Migration und Sexarbeit
blickt. Seine Filme sind eine Einladung, sich auf die Menschen einzulassen, die
an den Rändern der Gesellschaft leben. Baker ködert die Zuschauer mit Farbe,
schmeißt sie mitten hinein in die Welt dieser Menschen, die auf den ersten Blick
mitunter so unausstehlich scheinen, dass man kaum glauben mag, wie gerne man
mit ihnen im Kino die Zeit verbringt.
Doch weder der Regenbogen, der in „The Florida Project“ mit dem Motel um die Wette strahlt, noch die Sonne, die in „Tangerine L.A.“ den ersten Weihnachtstag in Los Angeles vergoldet, täuschen darüber hinweg, dass das Schicksal für die Protagonist:innen eher Perspektiven verstellt als bereitstellt. Nichts ist hier magischer Eskapismus, auch wenn Baker unverhohlen Komödien inszeniert, wo alles nach Drama schreit. In „Red Rocket“ strahlen die schönsten Farben nicht von externen Lichtquellen auf die Umgebung ab, sondern von der negativen Persönlichkeit Mikeys (Simon Rex). Hell genug, um auf den ersten Blick als etwas Unangenehmes, gar Gefährliches erkennbar zu sein, aber eben auch so hell, dass man sich trotzdem von ihr blenden lässt. „Red Rocket“ ist ein Film, der genau auf diese Widersprüche hin ausgerichtet ist. Er zeigt eine Heimkehr, bei der es an erster Stelle ums Weglaufen geht, und einen Protagonisten, der beim Aufstieg beständig scheitert und sich dabei um die Gunst all derer bringt, die ihn auf dem Weg dorthin stützen.
Von einer wohlverdienten Abreibung abgesehen, erteilt Baker aber auch diesem, für sein Œuvre auffallend garstigen Frontmann keine Lektion. Selbst in den finstersten Momenten brauchen seine Filme keine Judikative, eben weil ihre Welten nicht als das Abseits der bürgerlichen Realität, sondern als Mikrokosmos mit eigenem Farbraum inszeniert werden. Übergeordnete Instanzen finden erst dort einen Platz, wo die Lücken, die ein marodes Sozialsystem hinterlässt, mit der Empathie der Gleichgesinnten nicht mehr zu füllen ist.
Bakers eigene Zuneigung aber kommt auch hier noch nicht ans Ende; er schenkt seinen Protagonist:innen einen gutmütigen Hausmeister, eine empathische Freundin, einen solidarischen Mitarbeiter oder einen kurzen Auftritt im Rampenlicht einer ranzigen Bar. Keine Perspektive inmitten der Perspektivlosigkeit, aber eben doch einen Moment, einen wunderschönen Moment.