Der Ausdruck „Kuchenfilm“ wurde in den 1960er-Jahren als Kampfbegriff an der DFFB erfunden, um unpolitische Filme zu diskreditieren. In der gleichnamigen Essayreihe des Siegfried-Kracauer-Stipendiums dient er als Klammer bei der Suche nach filmischen Ausdrucksformen und Vorbildern, die sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben, sondern andere Formen des Denkens und Handelns befördern wollen.
Was ist ein „Kuchenfilm“? Die knappe Antwortet lautet: „Ein Kuchenfilm ist ein Film, der gut schmeckt, aber schlecht für die Zähne ist.“ Beim Kuchenfilm handelt es sich also keinesfalls um einen misslungenen Film, einen, der zerkocht oder versalzen ist, sondern um einen, dessen guter Geschmack auf einem Rezept beruht, das für den essenden Organismus schädlich ist, ihn zersetzt. Meine Essayreihe bemüht sich darum, die Eigenschaften des Kuchenfilms näher einzukreisen, seine Zutaten zu identifizieren, um so zeitgleich eine Art Kochrezept für Filme zusammenzutragen, welche der Verdauung guttun. Insofern ist der Motor meiner Kritik nicht die Anmaßung, es irgendwie besser zu wissen, oder gar der Wunsch nach einer Monokultur des ästhetisch bevorrechteten Films. Ihr Brandherd ist vielmehr meine anhaltende Verhexung vom Kino und die damit einhergehende Unruhe, nicht recht zu wissen, weshalb es nur manchen Werken gelingt, in der Abfolge ihrer Bilder den ihnen innewohnenden Zauber heraufzubeschwören. Hieraus leitet sich auch ab, dass die vorgebrachten Argumente keinen privilegierteren Wahrheitszugang behaupten als den eines Kneipengesprächs. Mein subjektiver Ansatz impliziert zudem die Methode, sich in erster Linie auf die ebenso subjektiven Überlegungen anderer Filmemacher:innen zu beziehen, die im Folgenden collageartig im jeweiligen Webrahmen der sechs Essays – in diesem Fall: die Lebensform – auf eine solche Weise miteinander verknüpft werden, dass sie sich gegenseitig in Schwingung versetzen.
Das Gespenst einer Wortschöpfung
Der Begriff „Kuchenfilm“ wurde an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) geboren. Nach der Recherche von Karl-Heinz Stenz geht er auf die Filmemacherin Helke Sander zurück. Auf meine Nachfrage hin verweist Sander auf ein von ihr verfasstes Flugblatt gegen die Kuchenfilmer, das allerdings nicht archiviert ist: „Wir haben uns damals oft gestritten und darin gegenseitig übertreffen wollen. Das war aber trotzdem immer noch lustig.“ Zudem schreibt sie, dass ihr Kommilitone Bernd Fiedler der Erfinder des Kuchenfilms sei, und dass er aus einer berühmten Kieler Konditorenfamilie stammt. Zusammen mit anderen wichtigen Figuren der deutschen Filmgeschichte wie Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Wolfgang Petersen zählt Sander zum ersten Jahrgang der DFFB, deren Gründung im Jahr 1966 die Entstehung der ersten westdeutschen Filmschule markiert.
Um dem Kuchenfilm auf die Spur zu kommen, ist es notwendig, sich den geschichtlichen Kontext seiner Verwendung zu vergegenwärtigen: Das „Pudding-Attentat“ der Kommune 1, die Ermordung von Benno Ohnesorg, die außerparlamentarische Opposition in Westberlin, Schüsse auf Rudi Dutschke, die Ankündigung der Notstandsgesetze, die Besetzung der DFFB und deren symbolische Umbenennung zur Dziga-Wertow-Akademie im Mai 1968. Aber auch Helke Sanders historische „Tomatenrede“ inklusive der schönen Formulierung, dass der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund, insofern er nicht auf die feministischen Forderungen des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen eingehe, nichts weiter sei als ein „aufgeblasener konterrevolutionärer Hefeteig“. Plus die Relegation von 18 DFFB-Studierenden, die an der Besetzung der Schule im Mai 1968 beteiligt waren als Reaktion auf ein beleidigendes Flugblatt gegen den damaligen Produktionsleiter der Schule; Sander war während der Besetzung krank und durfte bleiben.
Inmitten dieser sich überschlagenden Ereignisse bildeten sich zwei ästhetische Lager an der DFFB, einerseits der Produktionszusammenhang der Gruppe 3, gewissermaßen der SDS der Akademie, zu der unter anderem Sander, Bitomsky und Farocki gehörten, die den engagierten Avantgardefilm mit essayistisch-dokumentarischer Tendenz, „die revolutionäre Filmarbeit“, vertraten. Andererseits das Lager der autonomen Filmkunst, das sich dieser politischen Vereinnahmung entzog. Nach Ansicht der Gruppe 3 verstellten sie mit ihrer Bildproduktion den Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und mystifizierten die Funktion der Kunst im Verhältnis zur Macht – der „Kuchenfilm“.
Wolfgang Petersen erzählt in „Offene Wunde Deutscher Film“ (2017) im Gespräch mit Dominik Graf über diese Zeit: „Wir landeten dann ja da als die Kuchenfilmer. Dieser Begriff hat sich irgendwie durchgesetzt, als die Akademie sich so politisierte. […] Und ich wollte nach wie vor – was die allerdings ganz blöd fanden – Filme machen, klassische Filme, Erzählkino. Das war natürlich in diesen zwei, drei Jahren, die da plötzlich Ende der 1960er-Jahre so unheimlich heiß wurden, politisch und so, nicht besonders angesehen.“
Obwohl sich die filmpolitischen Konflikte im Laufe der Jahre verschoben, vielleicht weniger wurden oder sich jedenfalls verwandelten, geisterte der Begriff des Kuchenfilms weiterhin durch die DFFB als körperloser Rest des Glaubens an die Veränderung des Ganzen, lange abgespalten von denen, die sie einst ersehnt hatten. In der Collage „,Oral History‘ der Berliner Schule“ von Michael Baute berichtet der Filmemacher Ludger Blanke, der 1985 an die DFFB kam: „Wir haben damals erfahren, dass es von Beginn an, schon im ersten Jahr, zwei Gruppen gegeben habe an der DFFB. Einerseits die politisch Engagierten wie Hartmut Bitomsky, Philip Sauber, Harun Farocki, Holger Meins. Und die anderen wie Wolfgang Petersen und Wolf Gremm, abfällig ‚Kuchenfilmer‘ genannt. Kuchen als lecker schmeckende, aber ungesunde Süßigkeit. Zwei sich verfeindet gegenüberstehende Fraktionen.“
Es ist, als forderte die institutionelle Vergangenheit mit der Flaschenpost ihrer Wortschöpfung die uneingelösten Versprechen des Mediums Film ein. In den Worten von Derrida ist es eben diese „Ungleichzeitigkeit der lebendigen Gegenwart mit sich selbst“, dieses unsichtbare Echo, das die Gegenwart im Geheimen aus dem Lot bringt, was die Frage „Wohin morgen?“ ermöglicht.
Knapp 40 Jahre später kann ich mich nicht daran erinnern, den Begriff „Kuchenfilm“ in den Seminaren meines ersten Jahres an der DFFB gehört zu haben. Weil ich den Neologismus aber so schön finde, möchte ich ihn ein weiteres Mal wiederkehren, mutieren und wuchern lassen. Seine Reaktivierung soll sich dabei ausschließlich auf das Erzählkino beziehen, das ich aber, nicht wie es das Petersen-Zitat impliziert, keinesfalls als deckungsgleich mit der Zielscheibe der Kuchenfilm-Polemik begreife.
Bestärkt in dieser interpretativen Freiheit fühle ich mich durch ein 1992 abgedrucktes Gespräch zwischen Helke Sander und Renate Fischetti, in dem die Filmemacherin auf die Frage nach ihrer Position zum Erzählkino antwortet: „Mich interessiert das neuerdings sehr, weil ich es sehr schwer finde, richtig Geschichten zu erzählen.“ Außerdem nennt sie Pier Paolo Pasolini, Lina Wertmüller und Federico Fellini, allesamt dem Erzählkino zugehörig, als die Filmemacher:innen, die sie gern hat.
Wovon die Filme träumen
In jedem Film träumt eine „Lebensform“ von ihren Trittbrettfahrer:innen. Sie träumt von Menschen, die sie sich zu eigen machen. Die Lebensform ist gewissermaßen der Funke, der aus der Reibung der Figuren mit ihrer filmischen Welt entsteht. Sie ist die filmische Essenz, die sich in die Zuschauer:innen einzuschreiben vermag. Wenn Agnès Varda in „Die Strände von Agnès“ (2008) von den Landschaften spricht, die zum Vorschein kämen, öffnete man die Menschen, so meint sie diese Essenzen. Selbst noch in Filmen, in denen über lange Strecken keine Menschen vorkommen, Filme, die bloß Wahrnehmungen zeigen, sind es die spezifischen Betrachtungsweisen jener Welten – quirlig wie bei Jonas Mekas; gedankenverloren wie in Abbas Kiarostamis „24 Frames“ (2017) –, in denen die jeweilige Lebensform sich ausdrückt.
Was sind die New-Wave-Bewegungen des Weltkinos anderes als ein Drängen, unsichtbare Lebensformen abzubilden? Paris, Rom, Taipei gehören uns! Es ist ein Drängen nach einem neuen Verhältnis von Film und Wirklichkeit, von gesellschaftlicher Wirklichkeit insofern, als es um die Lebensformen der jungen Menschen geht und das Unvermögen der filmischen Konvention, diese zu bebildern, zu wissen, zu erdenken. Und auch umgekehrt haben die Bilder des Kinos das Vermögen, Vorbilder zu werden, die Wirklichkeit zu konservieren oder zu verflüssigen.
Pasolini hat das verstanden. Es gibt dieses bemerkenswerte Fernsehinterview aus dem Jahr 1974, ein Jahr vor seiner Ermordung. In ihm beklagt Pasolini die Gleichförmigkeit auf den Straßen der westlichen Welt, die sich durch die identischen Zeichensysteme der körperlich-mimischen Sprache von Menschen ausdrückt, die auf diesen Straßen wandeln. Der Hauptsatz dieses Zeichensystems lautet: „Die Herrschenden haben beschlossen, dass wir alle gleich sein sollen.“ Sein konformistisches Verhaltensmodell artikuliere sich in seiner spezifischen Form des Konsumierens und Glücklichseins, des Freiseins. Das Hauptmerkmal des Zeichensystems sei die tiefgreifende Traurigkeit der Individuen über diese Gleichheit, die sie nicht wählten, sondern geschenkt bekamen. Pasolini illustriert dies am Beispiel des Bäckerjungen: „Früher war der Bäckerjunge einmal eine Gestalt, die immer und ewig fröhlich war: eine Fröhlichkeit, die ihm förmlich aus den Augen sprühte. Er machte pfeifend seine Runde durch die Straßen und ließ seine Sprüche los. Niemand konnte sich seiner Lebensfreude entziehen. […] Der Welt des Reichtums hatte er seine Welt, mit eigenen Werten, entgegenzusetzen.“ Im anarchistischen Lachen des Bäckerjungen offenbare sich seine Würde und sein Glück. Nun aber gehe er, ernst wie alle anderen, seiner Arbeit nach.
Doch in welcher Beziehung steht Pasolinis Bäckerjunge zum Kino? Bitomsky schreibt über das Medium Film: „Dass es ein Zeichensystem ist, ist das Schöne an ihm, und dass es Ware ist, das weniger Schöne.“ Seine Zeichenhaftigkeit strukturiert die in ihm verschlüsselte Lebensform, seine Warenhaftigkeit gleicht der Zuckerglasur, die diese, entsprechend seinen Produktionsbedingungen und seiner Ausgestaltung, mehr oder weniger trübt. Diesem Argumentationsstrang folgend, beschriebe der Begriff Kuchenfilm jene Filme, welche, ungeachtet ihrer handwerklichen Wertigkeit, die Traurigkeit verstetigen, weil sie eine konformistische Lebensform umhüllen oder aber weil ihr Überhang an Warenhaftigkeit ihre Zeichenhaftigkeit vereinnahmt.
Chaplin und die Henne
Ich bin auf eine bald 100 Jahre alte Filmkritik von Siegfried Kracauer zu Chaplins „Der Zirkus“ (1928) gestoßen, die diesen vielleicht etwas abstrakten Gedankengang auf schöne Weise veranschaulicht. Der frisch als Clown angeheuerte Chaplin sitzt auf dem Zirkusgelände und bereitet sein Frühstück zu. Da läuft eine Henne an ihm vorbei. Chaplin eilt ihr hinterher und gelangt schließlich zu einem Heuballen, hinter dem er ein Ei findet. Chaplin setzt sich wieder auf seine Holzkiste und widmet sich seinem Frühstück, nicht jedoch ohne sich durch ein Lupfen des Hütchens bei der Henne zu bedanken. Die Naivität der Figur verursacht in ihrer Reibung mit der ihn missverstehenden filmischen Welt Gelächter im Publikum. Doch nach Kracauer handelt es sich um ein trauriges Lachen: „Denn der Humor Chaplins blamiert die sich ernst gebärdende Welt nicht, um sie zuletzt unangetastet bestehen zu lassen; er enthüllt sie vielmehr wie jeder große Humor, zeigt etwas an ihr auf, das sie aus den Angeln heben vermöchte. Wenn jeder alle Geschöpfe so höflich begrüßte – wäre sie nicht verändert?“
Die Schwäche, mit der Chaplin der gewaltsamen Slapstick-Welt begegnet, schlägt den Funken einer Lebensform der Unschuld, der unsere Wirklichkeit zu verflüssigen vermag. „Dass sie anders sein könnte und doch weiter besteht: bei diesem Blick auf sie mischen sich Tränen doppelter Herkunft.“
Ist es nicht das anarchistische Lachen von Pasolinis Bäckerjungen, das in Chaplins Hütchen-Lupfen, dieser aus einer anderen Welt stammenden Dankesgeste, dem Ernst der Wirklichkeit entgegenschallt? Handelt es sich nicht um eine Lebensform, welche die Traurigkeit in den Straßen der westlichen Welt schon allein dadurch zu unterlaufen weiß, dass sie ihr ein Bild der Fröhlichkeit entgegenhält? In den Worten des Kulturwissenschaftlers Mark Fisher muss eine „emanzipatorische Politik immer den Anschein einer ‚natürlichen Ordnung‘ zerstören und das als notwendig und unausweichlich dargestellte als reine Kontingenz aufdecken.“ Es ist die Größe Chaplins, in einem flüchtigen Gag eine alternative Daseinsweise aufzuwerfen, eine andere Form des Denkens und Handelns, und dabei auch noch leichtfüßig zu wirken. Vielleicht charakterisiert sein Unvermögen, eben dies zu tun, den Kuchenfilm. Sein Konformismus lässt ihn bloß spiegeln, was er bereits kennt. Er ist nicht in der Lage zu fragen: Wohin morgen?
Literaturhinweis
Kampfplatz Kamera. Die filmkulturelle Bedeutung der filmstudierenden '68er Generation. Von Karl-Heinz Stenz. GRIM Verlag, München 2007
Marx’ Gespenster. Von Jacques Derrida. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1995
Das neue Kino. Acht Portraits von Regisseurinnen. Von Renate Fischetti. Tende Verlag, Münster 1992
Freibeuterschriften, Aufsätze und Polemiken. Von Pier Paolo Pasolini. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993
Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit. Von Hartmut Bitomsky. Verlag Luchterhand, Neuwied und Darmstadt 1972
Kino. Von Siegfried Kracauer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1974
Kapitalistischer Realismus. Von Mark Fisher. VSA Verlag, Hamburg 2020
Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium
Die Essayreihe „Kuchenfilm“ und das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler entstehen im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.
Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.