Auf das Konto des tschechischen Regisseurs František Vláčil (1924-1999) geht eine ganze Reihe international anerkannter Meisterwerke. Doch obwohl er Vorläufer, Wegbereiter und Impulsgeber der tschechischen Neuen Welle war, sind seine Filme in Deutschland so gut wie unbekannt. Am 19. Februar wäre er hundert Jahre alt geworden.
Der 1924 geborene František Vláčil kam durch Zufall zum Film. Im Katalog des Festivals von Bergamo,
wo ihm und seinen Filmen eine Retrospektive gewidmet war, bezeichnet er sich
als den einzigen Amateur des tschechischen Kinos und ergänzt, dass ihm keine
Vorzeichen aus seiner Kindheit oder Jugend erinnerlich seien, die darauf
hingedeutet hätten, einmal dort zu landen, wo er schließlich gelandet ist. Vláčil
studierte weder an der Filmhochschule FAMU, noch arbeitete er als Assistent
anderer Regisseure.
Ursprünglich wollte er Maler werden, verabschiedet sich aber schnell von dieser Idee, weil er bald feststellte, dass er nie in die Fußstapfen von Picasso treten würde. Zeitgleich fing er aber an, wie ein Besessener zu zeichnen. An der Masaryk Universität von Brno belegte er Kurse in Kunstgeschichte, mit der vagen Idee, vielleicht einmal als Archivar im Kunstgewerbemuseum sein Auskommen zu finden. Parallel jobbte er im Zeichentrickstudio von Brno als Bühnenarbeiter. Dort fiel er mit seinem Zeichentalent auf. Bald wurden ihm anspruchsvollere Aufgaben übertragen, wie die Anfertigung von Silhouetten, das Ausstanzen von Figuren und die Herstellung ganzer Storyboards für neue Produktionen. Es gibt keine Hinweise, dass Vláčil je Luis Buñuel begegnet ist, aber aus seinen Selbstzeugnissen kann man schließen, dass er Buñuels Einschätzung, wie man schicksalhafte Ereignisse im Leben von Menschen hierarchisieren müsse, zugestimmt hätte: „Der Zufall ist der große Meister aller Dinge. Danach erst kommt die Notwendigkeit.“
Das könnte Sie auch interessieren
- Nachruf auf einen Vergessenen: František Vláčil
- Subversive Poesie. Eine verkannte Tradition im osteuropäischen Kino
- Filmkritik zu „Marketa Lazarová“
In der Biografie des jungen Vláčil, den man später den „Riesen des tschechischen Films“ nennen sollte, folgten weitere Zufallslandungen. Etwa bei Krátký Film, dem nationalen Studio für kurze, wissenschaftliche Filme und Lehrfilme, wo er mit dem späteren Literaturwissenschaftler Oleg Sus zusammenarbeitete. Er drehte Gebrauchsfilme über pharmakologische Prozesse und Elektrizität und versuchte, sich mit seinem „Abschlussfilm“, einer Arbeit über Thermodynamik, einerseits an das Ausdrucksrepertoire der tschechischen Vorkriegsavantgarde anzuschmiegen, andererseits aber bereits einen Vorgeschmack auf das zu liefern, was seine ureigenen filmischen Verfahren werden sollten, die er selbst als poetischen Formalismus bezeichnete.
Als er 1951 in die Armee eingezogen
und aufgrund seiner vorherigen Erfahrungen ins Armeefilmstudio überstellt wurde,
erschien es ihm wie eine Vorausschau auf eine glorreiche Zukunft. Die 26
Auftragsfilme, die Vláčil dort bis 1958 realisierte, frappieren mit einer
geradezu schwelgerischen Bildästhetik, der anscheinend nirgends administrative
oder ökonomische Grenzen gesetzt worden sind. Dabei heben sie gar nicht ins
Politisch-Pathetisch-Propagandistische ab, sondern scheinen geradezu übermütig auszutesten,
wo die Grenzen für erzählerischen Eigensinn und gestalterischen Ehrgeiz im
gegebenen militärischen Rahmen liegen.
Mit seinem ersten eigenverantwortlichen, in den Prager Barrandov Studios realisierten Film, dem 17-minütigen „Skleněná oblaka“ („Glaswolken“), beendete Vláčil seine Zeit als Armeefilmregisseur. 1958 wurde diese Arbeit bei den Filmfestspielen von Venedig mit einem Sonderpreis in der Kategorie Experimentalfilme ausgezeichnet. Ein Jahr später präsentierte er mit „Holubice“ („Die weiße Taube“) seinen ersten abendfüllenden Spielfilm.
Das verzauberte Kind
Beide Filme verbindet das Motiv des verzauberten Kindes, eine ekstatische Bildkraft und die mit strenger Virtuosität prunkende Tonspur. Der Kameramann seiner frühen Filme, Jan Čuřík, erinnerte sich, dass Vláčil geradezu obsessiv Storyboards zeichnete und immer wieder Bilder innerhalb von Bildern komponierte. In „Die weiße Taube“ fängt ein Junge, der in einem modernistischen Hochhaus an den Rollstuhl gefesselt ist, eine verirrte Brieftaube ein. Zusammen mit einem Künstler, der im gleichen Hochhaus sein Atelier hat, versucht er den Vogel vor den Attacken einer gierigen schwarzen Katze zu schützen. Es ist ein überwiegend wortloser Film, was der Regisseur damit erklärte, dass er seinem damals zehnjährigen Hauptdarsteller nicht zu viel Text zumuten wollte.
Den Regisseur, der sich mit „Die weiße Taube“ als eine Art Mastermind der gerade heranbrechenden tschechischen Neue Welle hätte etablieren können, schien eine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gar nicht zu interessieren. Mit seinem folgenden Film „Ďáblova Past“ („Die Teufelsfalle“, 1961) zielte er auf ein anderes Verständnis von filmischer Modernität als seine Alters- und Zeitgenossen. Unversehens fand er sich mit seinen Interessen in der künstlerischen Nachbarschaft von Regisseuren wie Carl Theodor Dreyer, Akira Kurosawa, Andrej Tarkowski und Sergei Paradschanow.
„Die Teufelsfalle“ zeigt eine grausame Welt, wo der Terror der Inquisition ungezügelt über Menschen und Tier, Welt- und Zeitläufte gebietet und das heidnische Wissen eines einfachen Müllers über das Übersinnliche als Beweis für einen Pakt mit dem Teufel ausgelegt wird. Der Film kommt als wüste Naturgewalt daher, wie aus urzeitlichem Magma geformt, worin Verstand und Glaube, Profanes und Erhabenes, Individuum und Gesellschaft ungestüm aufeinandertreffen. Antonín Liehm, der Publizist, Filmhistoriker und Gründer von „Lettre International“, charakterisierte das Anliegen Vláčils bei diesem und seinen beiden nachfolgenden Filmen, die alle zwischen Mittelalter und kopernikanischer Wende angesiedelt sind, als einen Versuch, das Publikum ungefiltert und ungeschönt in eine fremde Zeit und eine andere Wirklichkeit zu katapultieren.
Mit verzehrender Glut
Die
Filme dieser historischen Trilogie, neben „Die Teufelsfalle“ „Marketa Lazarova“ (1965) und „Údoli včel“ („Das Tal der Bienen“, 1967),
sind Werke, die einen wie wild ausschlagende Visionen bedrängen und jenseits
herkömmlicher dramaturgischer Strukturen zu einer losen Abfolge erzählerischer
Blöcke gefügt sind. Man hat den Eindruck, der Blick wandere durch ein Gemälde
von Hieronymus Bosch, wo sich in loser Zeitordnung einzelne Handlungspunkte
verdichten, allerdings ohne Zentralperspektive, ohne Psychologie und ohne
Rationalität.
Über die Dreharbeiten von „Marketa Lazarova“, das mit Abstand aufwändigste Werk von Vláčil wie auch des gesamten tschechoslowakischen Kinos, schrieb Marc Vetter im Booklet der DVD des Films: „Der Startschuss fiel 1965, erste Vorbereitungen für das Projekt gehen bis ins Jahr 1961 zurück. Vorgesehen waren gleich mehrere Schauplätze, die das Filmteam allerdings erst einmal mühevoll erschließen musste. Darunter befanden sich Lánská und Klokočín in Ostböhmen, wo das eindrucksvolle Schloss steht, das in ‚Marketa Lazarova‘ zu sehen ist. Insgesamt drehte František Vlácil mit seinem Team 548 Tage lang, bis alle Einstellungen im Kasten waren, davon sechs Monate am Stück und vor allem on location. Zu sehen sind zahlreiche Ruinen, Waldlandschaften und ein Moor, das sich für die Filmcrew fast zur lebensbedrohlichen Gefahr entwickelt hätte. Neben den mehr als 30 Hauptrollen kamen Hunderte Komparsen und unzählige Tiere zum Einsatz.“ Wer sich bei diesem Resümee an den Wahnsinn erinnert fühlt, der ein gutes Jahrzehnt später Coppolas „Apocalypse Now“ angetrieben hat, liegt nicht falsch.
In seiner historischen Trilogie perfektionierte Vláčil das, was man später mit einem Seitenblick auf Kafka „vláčilesk“ nennen sollte. Die Herausforderungen, die damit verbunden waren, hinterließen aber auch massive Spuren in der Physis und der Psyche des Regisseurs. Ausgezogen in den Krieg, den diese Filme bedeuteten, war Vláčil mit dem Credo: „Wer etwas wirklich will, sucht nach einem Weg. Wer nicht will, sucht nach den Gründen, warum es nicht geht.“ Zurück kam er als erschöpfter Veteran. Der Schriftsteller Josef Škvorecký beschrieb den Regisseur einmal so: „Sein Kampf dauerte fünf Jahre und er hätte dabei auch sterben können. Mit Allen und Jedem legte er sich an, machte sich unbeliebt, weil die Projekte immer teurer wurden und sogar an anderer Stelle Geld abzogen, aber seiner Fieberhaftigkeit schien eine solche Macht innezuwohnen, dass sie niemand zu bändigen vermochte. Von Film zu Film verlor er, der sowieso schon dürr war, an Gewicht, stärkte sich mit Alkohol, brach zusammen und gebärdete sich danach, als wäre er vom gleichen Fieber befallen wie die Haudegen seiner Filme, bis er zu einem bärtigen Skelett geworden war.“
Kaltgestellt & ausgesperrt
Die zweijährige Rekonvaleszenz nach der Veröffentlichung von „Das Tal der Bienen“ nutzte Vláčil zur Vorbereitung von „Adelheid“ (1969). Das Kammerspiel über die wechselnden Machtverhältnisse zwischen Tschechen und Deutschen im Sudetenland nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde mit dem Verdacht aufgenommen, dass die darin aufgeworfenen Fragen missverständlich beantwortet werden könnten. Entsprechend geriet Vláčil, wie viele andere, die für den Prager Frühling in den Künsten standen, ins Visier der auf „Normalisierung“ bedachten Kulturbehörden. Wobei Vláčil kaltgestellt wurde: die Türen des staatlichen Filmstudios blieben für ihn künftig verschlossen.
Die Eiszeit dauerte bis 1976. Nichtsdestotrotz konnte er ab 1972 ein halbes Dutzend Kurz- und Kinderfilme drehen, die für ihn selbst einen großen Stellenwert hatten. In einem Interview erinnerte er sich: „František Uldrich (sein Kameramann, mit dem er 15 Filme drehte) hatte seine eigene Technik. Auch Zdeněk Lyška (Komponist beim überwiegenden Teil seiner langen Filme) hatte fast unbegrenzt Zeit. Wir bekamen das Filmmaterial und niemand überprüfte uns. Wir waren frei, fuhren morgens los und wussten oft nicht, was wir drehen würden. Nach Jahren hatte ich keine riesige Crew hinter mir und ich stand nicht unter dem Druck einer großen Verantwortung. Beim Drehen von Kurzfilmen ist man dem Geheimnis künstlerischen Schaffens sehr nah.“
Mit „Dým bramborové natě“ („Der Rauch des Kartoffelfeuers“, 1976) kehrte Vláčil nicht nur ins Barrandov Studio zurück, sondern drehte dort auch einen der unbekümmertsten und frischesten „Filme für Erwachsene“ der sogenannten grauen Jahren. Die freie Adaption des Romans „Doktor Meluzin“ von Bohumil Říhas ist ausdrücklich leise. Sie gebärdet sich unscheinbar, fast oberflächlich, und gibt dem ländlichen Milieu, in das der weltgewandte Doktor Meluzin nach einer erfolgreichen Karriere in Paris zurückkehrt, großzügig Gelegenheit, mitzuspielen. Das erzählerische Zentrum des Films, die väterliche Beziehung des alten Arztes zu einer schwangeren Frau, die von ihrer Mutter verstoßen wurde, erscheint wunderbar beiläufig aus der Zentralperspektive gerückt.
„Ich vertraue der Menschheit“, erklärte Vláčil in einem späten Porträt des tschechischen Fernsehens, „aber dem einzelnen Menschen vertraue ich nur halb. Will sagen, jeder Einzelne ist zur Hälfte gut und zur Hälfte böse. Aber auch wenn das Mischverhältnis oft zur schlechten Seite hin ausschlägt, will ich nicht verzweifeln.“
Hinweis
„Marketa Lazarova“ ist der einzige der 13 Spielfilme von František Vláčil, der 2016 in die deutschen Kinos kam und 2017 beim deutschen Label Bildstörung als Heimkino-Edition mit zahlreichen Bonusmaterialien erschien. Der Film-Dienst würdigte die viel zu lange „übersehene Perle“ als „Missing Link der Filmgeschichte“. In einer Umfrage unter tschechischen Filmemachern und Kritikern wurde „Marekta Lazarova“ 1998 zum besten tschechischen Film aller Zeiten gewählt worden. Eine Originalversion mit englischen Untertiteln ist via Youtube frei verfügbar.