Gesellschaftliche Macht wird in den Filmen des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos regelmäßig angegriffen und oft auch überwunden. Sein neuer Film „Poor Things“ ist nur das jüngste Beispiel seiner Emanzipationsgeschichten, die umfassend das Ansinnen bekämpfen, kontrolliert und eingeschränkt zu werden. Bei aller Groteske und Tragik führen Lanthimos’ komplexe Werke vor, wie sozialer Wandel möglich wird. Ein Essay über bislang zu wenig gewürdigte Aspekte im Œuvre des Regisseurs.
Ein Monster mit dem Namen Bella. Sie ist, darf sein, existiert. Damit beginnt das absolut bezaubernde, vor kindlicher Freude und unschuldiger Lust übersprudelnde Kinoereignis „Poor Things“. Monster mag vielleicht das falsche Wort sein; monströse Kindfrau trifft es besser. Denn „Poor Things“ ist die grotesk-komische Geschichte einer weiblichen Emanzipation. Im Grunde variiert Regisseur Yorgos Lanthimos ein Thema, dass in seiner Filmografie immer wieder behandelt wird: Die Möglichkeit, überhaupt widerständig zu werden. Neben den formalen Experimenten und mitunter selbstbewusst sperrigen Inszenierungen der frühen Filme, in denen der Fokus auf Kommunikation und Sprache liegt, scheint dieser machtkritische Aspekt noch wenig diskutiert. Gut, dass die Revolte von Bella (Emma Stone) nun dazu einlädt, sich diesen Fragen ausgiebiger zu widmen, auch mit Blick auf die anderen und doch gar nicht so anderen Filme von Lanthimos.
Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe), eine Art Dr. Frankenstein, hat die Leiche einer schwangeren Frau aus dem Fluss gezogen. Das Baby in ihrem Bauch aber ist noch am Leben. Und so macht der monströs-geniale Wissenschaftler das, was ein Wissenschaftler eben macht: Er pflanzt der toten Mutter das Gehirn des eigenen Kindes ein. Er erschafft also eine völlig neue Person, auf dem geistigen Stand eines Kleinkindes im Körper einer erwachsenen Frau, die ihre Welt erst kennenlernen muss. Dabei kann sie auf einen bereits vollständig entwickelten, sinnlichen Apparat zurückgreifen: Körper und Geist sind auf Abstand gestellt. Die „kindliche“ Entwicklung verläuft folglich unter völlig anderen Vorzeichen.
Kindfrau auf Erkundung
Alles, was sich für den erwachsenen, weiblichen Körper gesellschaftlich nicht mehr ziemt, alles, was mit Schuld und moralischen Fesseln belegt ist, wird zu einem Feld unschuldiger Erkundung. Deshalb spielt die Sexualität in „Poor Things“ auch eine derart große Rolle: Noch vor jeder Domestizierung erlebt Bella ihren Körper lustvoll, indem sie beginnt, hemmungslos zu masturbieren. Im Verlauf des Films wird dies durch den Einfluss der Männer natürlich komplizierter für die „Kindfrau“ (nicht mit der Figur der Lolita zu verwechseln, sondern buchstäblich zu lesen).
Die narrative Grundprämisse, erdacht vom 2019 verstorbenen schottischen Schriftsteller Alasdair Gray in der gleichnamigen Romanvorlage, muss in ihrer enormen philosophischen Komplexität erstmal verdaut werden. Bereits in dieser Minimalvariation des Frankenstein-Mythos liegt beispielsweise eine feministische Perspektive auf Mutterschaft. Die Reduktion der Weiblichkeit auf das Gebären, die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es einen Nachkommen gibt, ist eines der ältesten Muster des Patriarchats.
Damit aber hält sich Lanthimos gar nicht lange auf. Vielmehr häufen er und Drehbuchautor Tony McNamara in ihrem Film – anders als der postmoderne, mehrfach die Erzählhaltung wechselnde Roman – offene Fragen in grotesk-komische Miniaturen an. Jedes Thema erzeugt ein Echo, dass sich durch alle anderen narrativen Etappen zieht. „Poor Things“ ist ein feministischer Bildungsroman, projiziert in eine Coming-of-Age-Geschichte. Oder andersherum – es spielt keine Rolle, wie man es dreht und wendet. Erzählt wird von einer kindlichen Frau, die von ihrem Schöpfer zunächst in einer abgeschlossenen Welt gefangen gehalten wird, bis sie schließlich in eine von Männern dominierte Welt tritt, um sich mit jedem Schritt zu entwickeln: Bella wird zum dekonstruktiven Moment, zur produktiven Störung. Wo sie wirkt, wird alles durcheinandergewirbelt – allen voran sie selbst.
Bella ist das, was man mit dem französischen Philosophen Gilles Deleuze als „Gegenverwirklichung“ begreifen kann. Jeder andere Mensch, den sie kennenlernt, versucht sie auf spezifische Art zu kontrollieren, ihre Schönheit zu besitzen und letztlich die Lebenslust, den ungebändigten Freiheitsdurst und den Hedonismus zu kontrollieren. Der von Mark Ruffalo grandios aufplusternd gespielte, furchtbar selbstgefällige Anwalt und Frauenheld Duncan Wedderburn ist nur der deutlichste Repräsentant dieser (Geschlechter-)Ordnung.
Das Bordell, in dem Bella später arbeiten wird, ist eine weitere Konfiguration von Widrigkeiten, in die sich Bella völlig vorbehaltlos stürzt. Sie weiß nichts von der systemischen Unterdrückung, die dort stattfindet. Für sie ist es ein Ort, wo man für Lust eine Bezahlung erhält. Erst im konkreten Kontakt mit diesem Milieu beginnt sie sich zu emanzipieren und eine Idee von Sozialismus zu entwickeln. Bella verwirklicht sich gegen die Regeln und Normen und wird zur Abweichung von ihnen: zu einer Feministin, ohne jedoch im Vorfeld einen Begriff davon gehabt zu haben.
Mit der Welt gegen die Welt
In dieser Hinsicht gibt es zwischen dem poppigen „Poor Things“ und einem deutlich unzugänglicheren, ja unendlich streng komponierten Film aus dem Frühwerk von Yorgos Lanthimos große Ähnlichkeiten. Bella ist so etwas wie eine Wiedergängerin der älteren, sich (möglicherweise) befreienden Schwester aus „Dogtooth“ (2009). Auch hier wird von einer männlich dominierten Welt erzählt, von einer naiven Figur, die im Kontakt mit der Außenwelt eine andere wird. Gewissermaßen ist der Vater ebenso eine Frankenstein-Figur, wenngleich er eher auf den Geist seiner Kinder einwirkt und keine Tote zum Leben erweckt.
„Dogtooth“ erzählt von Eltern, die ihre drei Kinder nicht in die Welt entlassen wollen. Die Gründe hierfür werden nie wirklich geklärt. Lanthimos zeigt lediglich, mit welchen totalitären Zugriffen Vater und Mutter ein Umfeld konstruieren, bei dem alles, was außerhalb des familiären Anwesens liegt, eine Bedrohung darstellt.
Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf der Kontrolle der Sprache, die vollständig umcodiert wird. Innerhalb der familiären Ordnung bekommt jedes Wort eine eigene Bedeutung: So meint „Meer“ einen Lederstuhl mit Armlehnen aus Holz, „Autobahn“ einen sehr starken Wind, und „Muschi“ eine große Lampe. Das Eindringen der äußeren Zeichenwelt soll ebenso verhindert werden, wie der Austausch der Kinder mit der Umwelt erschwert.
Kontrolle und Ausbruch
In „Dogtooth“ aber zeigt sich, wie die Elemente der Kontrolle selbst zum Motor eines Ausbruchs werden. Als sich nämlich fremde Zeichen in diesem hermetischen System ausbreiten – eine Videokassette von „Rocky“ eröffnet einen Ausblick auf die Welt –, beginnt bei der ältesten Tochter ein Prozess der Gegenverwirklichung. Wie bei Bella, die im Umgang mit der Welt eine Andere wird, weil sie keine Erziehung zu einer distinkten Weltsicht erfahren hat, entfaltet in „Dogtooth“ ein Hollywood-Boxerfilm unerwartet progressive Wirkungen im Geist einer der Welt Entrückten.
Man kann das Experiment Bella auch als Verkörperung eines Umgangs mit der Welt sehen, der ohne Konditionierung ist und in seiner Freiheit eine Umdeutung aller Werte vollzieht. Sie geht ohne feste Haltung, ohne moralische Maßstäbe durch die Welt. Im Kontakt mit dieser legt Bella auf wunderbare Weise andere Möglichkeiten (Handlungsweisen) offen, die in den jeweiligen Situationen liegen. Sie wird zur Revoltierenden nicht durch die Erkenntnis einer Wahrheit, die außerhalb des patriarchalen Systems liegt: Sie zieht das Andere aus den repressiven, ihr allerdings lächerlich und niemals bindend erscheinenden Regeln. „Dogtooth“ und „Poor Things“ unterscheiden sich lediglich in der Öffnung der Welten, die sie darstellen. Letzterer erzählt von Emanzipation. Ersterer betont die Konstruktion eines sozialen Gefängnisses.
Figuren werden Effekte
Diese Figur der „Gegenverwirklichung“ findet sich auch in anderen Filmen, wenngleich nicht immer mit der Wendung in die Revolte. Ganz allgemein ist diese skizzierte Handlungsweise innerhalb einer bestimmten Situation weitgehend analytisch und ohne Bewertung zu verstehen. So geht es beispielsweise auch in „Alpen“ darum, dass die Regeln einer Gruppe überhaupt erst den Verstoß ermöglichen.
Lanthimos’
Film aus dem Jahr 2011 erzählt von einer Gruppe aus Frauen und Männern, die
anderen Menschen und Familien anbieten, den Platz von Verstorbenen einzunehmen.
Mithilfe standardisierter Sätze versuchen sie sich in der konkreten Situation
in den verblichenen Menschen einzufügen, was zu bedrückend-lustigen Szenen
führt. Einzig Rosa (Angeliki Papoulia) vertieft sich zunehmend in
die Rollen, bis sie nicht mehr zwischen ihrem alten Ich und der Rolle
unterscheiden kann. Dies hat sowohl innerhalb der autoritär geführten Gruppe
als auch in Bezug auf die Klienten enorme Auswirkungen.
Indem Lanthimos alle Kommunikationsakte völlig entrückt darstellt, die Sprache vom Sprechenden trennt, zeigt er, wie wenig wir überhaupt die Sprache besitzen oder kontrollieren. Alles ist ein Schauspiel, jede Geste ein Werkzeug, einem Hammer oder Schraubenschlüssel gleich. Im Fall von „Alpen“ spricht die Sprache die Figuren, die irgendwann nur noch Effekte sind: Identitäten werden im Verlauf des Films immer diffuser und schließlich in Bewegung versetzt. Das Regelset der Alpis-Gruppe erzeugt die Möglichkeit der Gegenverwirklichung: Rosa wird eine Andere durch die Rollen, die sie spielt.
Das hartnäckige Vokabular der Liebe
Als Gegenbeispiel fungieren David (Colin Farrell) und die namenlose, kurzsichtige Frau (Rachel Weisz), denen es in „The Lobster“ nicht gelingt, eine andere Sprache der Liebe jenseits der angeblich notwendigen Gemeinsamkeiten zu erfinden. Einzig jener Moment der Musik, in dem sie in einer anderen Sprache miteinander und doch getrennt tanzen, gibt einen kurzen Ausblick auf eine utopische Beziehung. In „The Lobster“ misslingt die Gegenverwirklichung; womöglich auch deshalb, weil das Vokabular der Liebe, diese uralte Überlieferung, ziemlich hartnäckig ist.
Doch die komplexen Filme von Yorgos Lanthimos eint eines: Alles ist im Werden und immer gibt es, trotz aller tragischen Momente und verstörenden Widrigkeiten, immer auch Hoffnung, dass doch alles anders sein könnte. Gerade diese sich entfaltende Hoffnung, verkörpert durch Bella in „Poor Things“, wird zweifellos zu den großen Momenten des Kinojahres 2024 gehören. Gleichzeitig wirft es aber auch ein Licht auf die Art und Weise, wie wir sozialen Wandel denken sollten.