Die Welt
ist eigentlich zu hässlich, als dass sie die Zärtlichkeit und Zuneigung
verdient hätte, mit der Otar Iosseliani
(1934-2023) auf sie geblickt hat. Obwohl er nicht an die Veränderbarkeit der Wirklichkeit
glaubte, rückte er das Unscheinbare und Beiläufige ins Zentrum seiner Filme.
Und auch wenn Aufbruch und Scheitern darin eng verwandt sind wie Komik und
Tragik, dominierte stets der Wunsch, gut gelebt zu haben, bevor man stirbt. Nachruf
auf einen heiteren Melancholiker.
Als ich gerade damit begonnen hatte, mich für das Kino zu begeistern, lieh mir ein Freund seine Festplatte. Er sagte, dass ich darauf alles finden würde, was ich brauche. Neugierig steckte ich das Gerät an meinen Laptop, um etwas verdutzt festzustellen, dass er nur einen einzigen Ordner darauf gespeichert hatte. „Iosseliani“ nannte sich der und enthielt sämtliche Filme sowie einige Interviews und Making-ofs des georgischen Filmemachers, der am 17. Dezember 2023 aus dem Leben schied. Ich kopierte diese Filme und auch wenn inzwischen mehr als zehn Jahre vergangen sind und ich froh bin, die meisten dieser Arbeiten auch in besserer Qualität gesehen zu haben, kann ich konstatieren: Er hatte Recht. Diese Filme sind alles, was ich brauche.
Die
Welt ist eigentlich zu hässlich für dieses Kino; sie verdient die Zärtlichkeit
nicht, mit der Otar Iosseliani auf sie blickt. Aus den Körpern
und Gesichtern der Menschen, die er filmt, strömt bei aller Dusseligkeit und
aller ins Verhalten kriechenden Niedertracht stets der unbedingte Wille,
gemeinsam zu leben und zu leiden. Mit anarchischem, aus dem Konformen
ausbüxenden Bewegungen erzählen all seine Filme, egal ob es sich um
dokumentarische Kurzfilme, fulminante, im sowjetischen System entstandene
Langfilme oder seine beglückenden Mosaikfilme in Frankreich, von den gleichen
Konflikten: Die Unangepassten gegen die Welt. Die Erinnerung gegen das
Vergessen. Das Vergangene gegen das Zukünftige. Das Freie gegen die
Handschellen. Immer ist klar, welche Seite der Filmemacher einnimmt und immer
ist klar, dass es die der Verlierenden ist, die Seite der Singdrosseln,
Mondgestalten, Schmetterlingssammlerinnen, Lichtsuchenden.
Traurig scherzende Kinoromantiker
In seiner eigenen Genealogie folgt der nach einem Mathematikstudium wie Andrej Tarkowski am Gerassimow-Institut für Kinematographie (VGIK) ausgebildete Filmemacher auf Buster Keaton, Jean Vigo und Jacques Tati. Die großen und traurig scherzenden Romantiker des Kinos also, die Don Quixotes, diejenigen, die dem Grauen ein Lächeln abringen. Dass er später selbst im Westen Filme machte, hatte damit zu tun, dass seine Form eines alle Ideologien ablehnenden Kinos in der Sowjetunion auf wenig Anerkennung stieß (ein Euphemismus, der ihm gefallen hätte). Er selbst verstand sich nie als politischer Flüchtling; er wäre freiwillig gegangen, sagte er oft bitter schmunzelnd. Am explizitesten kritisierte er die sowjetische Politik in „Briganten“ (1996), einem Mosaik des Folterns und des Machtmissbrauchs in vier verschiedenen Zeiten und Orten, darunter eben auch die Sowjetunion der 1930er-Jahre. Iosseliani glaubte nicht an eine sich verändernde Welt, aber er war auch kein Zyniker. Eher ein Feixer, ein Wissender, der sich nicht um die Tagespolitik schert, weil er zu oft gesehen hat, wie sich Dringlichkeit in Vergesslichkeit und Überzeugung in Scham verwandelt hat.
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Trotz allem mit Liebe filmen, das wäre für ihn, so betonte Iosseliani wiederholt in Interviews, der Gipfel der Kunst. Er folgte diesem Trotz von seinen frühen, allesamt verbotenen Filmen in der Sowjetunion bis zu seinen etablierten Produktionen mit großen Darstellern des europäischen Films wie Michel Piccoli oder Mathieu Amalric. Ein Beispiel: In „Es war einmal eine Singdrossel“ (1970) stolpert ein junger Orchesterschlagzeuger, ein Don Juan und Taugenichts, durchs Leben. Er bezirzt alle mit seinem Charme, aber enttäuscht fast im gleichen Atemzug mit seiner sprunghaften, sich auf nichts und niemand festlegenden, unzuverlässigen Attitüde. Die Kamera folgt diesem rastlos von Situation zu Situation hangelnden, tatsächlich an einen Vogel erinnernden Mann mit hektischen Schwenks und einer mitreißenden Unentschlossenheit.
Aus
dem Meer der in die Luft gesetzten Gesten sticht eine heraus. In einem Büro
schlägt er auf einmal einen Nagel in die Wand, um die Mütze eines Arbeiters
dort aufzuhängen. Vermeintlich nur ein Scherz, ein weiterer dummer Einfall, der
nichts bedeutet. Später aber, nachdem dieser zweifelhafte, aber nie zweifelnde
Held das Leben genauso plötzlich verliert, wie er es gelebt hat, kommt dieser
Arbeiter in sein Büro, erinnert sich und hängt die Mütze an den Nagel. Etwas
ist doch geblieben von dieser Singdrossel, deren Musik wir jeden Tag hören,
ohne sie genug zu beachten. Eine kleine Geste, die unendlich berührt.
Otar
Iosseliani verstand es, das Unscheinbare, Beiläufige ins Zentrum zu holen.
Ganze liebevolle Brücken baut er aus scheinbar nebensächlichen Handlungen von
Film zu Film. Man achte beispielsweise darauf, wie oft in seinen Filmen
Rollstuhlfahrer aus dem Bild geschoben und sich selbst überlassen werden.
Protagonisten gibt es nur im Plural
In „Die Günstlinge des Mondes“ (1984), einem verspielten, das französische Kino huldigenden Episodenfilm rund um ein Gemälde und einige Porzellanteller, werden alle Statisten zu Protagonisten. Niemand scheint einfach so ins Bild zu laufen, alle haben etwas zu erzählen, alle und alles sind einen eigenen Film wert. Protagonisten gibt es bei Iosseliani nur im Plural. Hierarchien gibt es vielleicht, aber etwa so wie in den Fresken von Paolo Veronese; zumeist verlieren sich die eigentlichen Helden im Strudel der Ereignisse, tauchen kurz wieder auf, um dann für immer zu verschwinden.
Iosselianis Filme interessieren sich für die kollektiven Bewegungen. Seine Vorliebe sein großes Verständnis für die Musik wird dabei nicht nur in den zahlreichen musizierenden Figuren ausgelebt, etwa im rauschhaften „Ein Sommer auf dem Dorf“ (1975), bei dem junge Orchestermusiker mit der Landbevölkerung konfrontiert werden, oder in dem schönen Dokument „Alte georgische Lieder“ (1969)), das sich mit traditionellen Gesängen aus Iosselianis Heimat befasst. Seine Filme können durchaus als musikalische Bewegungen aufgefasst werden, mit wiederkehrenden Motiven, Wiederholungen, Variationen und einem Rhythmus, der bereits das Stahlwerk-Porträt „Gusseisen“ (1964) strukturierte. Dabei verzichtete Iosseliani über sein gesamtes Schaffen hinweg weitestgehend auf Dialoge; die Sätze und Ausrufe in seinen Filmen ähneln vielmehr einer nebensächlichen Musik, einem Grundrauschen der Existenz. Dazu gehören das Unverständliche genau wie die plötzliche Weisheit, der poetische Satz wie der banale Fluch. Ein Film, der Dialoge brauche, um Sinn zu ergeben, interessiere ihn nicht, hat er einmal gesagt.
Große Symphonie des Durcheinanders
Oft
erklingen Töne, Wortfetzen, Lärm und Musik aus allen Richtungen zugleich. Für
jene, die in Wohnhäusern leben und täglich damit umgehen müssen, dass sie mit
falschen Klavierklängen aus dem Stock über ihnen, Autolärm, quietschenden Reifen
und Kindergeschrei von der Straße, dem laufenden Fernseher oder Radio im
eigenen Wohnzimmer, einem bellenden Hund im Treppenhaus und dem eigenen Ohrwurm
zugleich konfrontiert werden, hat es nie einen besseren Filmemacher gegeben.
Iosseliani bringt all diese Geräusche in eine Form, in eine Art Symphonie des
Durcheinanders, aus der die Gefühle gefiltert werden, die das Leben lebenswert
machen.
Dieses liebevolle, stets auf ein tragisches Ende zusteuernde Chaos der Existenzen ist für ihn eine Sache der Gleichzeitigkeiten. Das, was beispielsweise in den Räumen geschieht, wird stets von dem gestört und bereichert, was davor passiert. Fast manisch filmt Iosseliani durch Fenster; er lässt die Menschen aus ihnen spucken, blicken, springen. Am meisten liebt er dabei – wie könnte es anders sein – die Jüngsten und die Ältesten. Ich denke an eine unglaubliche Szene in „Jagd auf Schmetterlinge“ (1992), in dem eine ältere Frau mit Pfeil und Bogen einen Fisch erlegt. Iosselianis Filme fühlen sich jung und alt zugleich an. Sie vergehen und pulsieren wie ein Leben, man verbringt eine Zeit, man lernt, man lacht, man weint, man leidet, man zweifelt. Nichts scheint voranzugehen, und plötzlich ist da nichts mehr und man wundert sich, wo all das Leben geblieben ist. Das gilt übrigens für die Menschen wie die Häuser, in denen sie leben. Auch diese und deren Geschichten werden in zahlreichen Filmen zum Einsturz gebracht. Iosseliani ist ein Melancholiker, aber keiner, der sich in diesem so behaglichen Gefühl suhlt. Stattdessen kann er den Irrwegen von Kapitalismus und ähnlichen menschlichen Verfehlungen genauso viel Komik und Tragik abgewinnen. Das Leben geht weiter, wie auch immer.
Jeder soll gut gelebt haben
Der Ausstieg aus den einengenden Mustern gelingt seinen Figuren, aber zugleich scheitern sie daran. Was damit gemeint ist, zeigt sich etwa in „Montag Morgen“ (2002), in dem ein Arbeiter seine Familie und seinen Beruf hinter sich lässt, um in Venedig als Maler zu leben. Es ist erstaunlich, wie wenig Iosseliani braucht, um die Tristesse des Alltags zu zeigen. Ein grauer Himmel, enge Räume und eisiges Schweigen am Frühstückstisch. Das genügt, um sehr viel zu verstehen. In Venedig verbringt der Mann einige glückselige Stunden, nur um am Ende wieder vor den gleichen Fabrikschloten zu stehen, den gleichen Mechanismen und Ängsten. Das ist ein denkbar einfaches, vielleicht an Aki Kaurismäki erinnerndes dramaturgisches Konstrukt, doch Iosseliani füllt es mit den Widersprüchen, die in jeder genauen Beobachtung menschlichen Handelns wie von selbst auftauchen. Von ihm haben ich beispielsweise gelernt, dass die, die am lautesten tönen, oft am wenigsten zu sagen haben. Und dass die, die am wenigsten Zärtlichkeit zeigen, manchmal am meisten Liebe brauchen.
Zur Hölle damit, scheint Iosseliani hinter der Kamera zu sagen, auch wenn er für einige kuriose Cameos (als Mörder, eitler Aristokrat oder Terrorist) vor die Kamera wechselt, wenigsten soll man gut gelebt haben, bevor man stirbt. Zum exzessiven Gebrauch von Alkohol in seinen Filmen sagte er einmal frei nach einem russischen Sprichwort: die, die nicht rauchen und saufen, sterben dann eben gesund.
Wenn
mich jemand fragt, warum mir das so viel bedeutet, weiß ich wie meist bei
wirklich guten Dingen keine Antwort. Vielleicht zeigt sein Kino, wie man trotz
der sich wiederholenden Grausamkeiten des Daseins tanzen, trinken und lachen
kann. Aber das sagt eigentlich nichts. Es soll aber auch nichts gesagt werden. Das
ist ja das, was diese Filme lehren.