Bei der Verleihung der 36. Europäischen Filmpreise dominierte das Drama „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet, das als bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, beste Darstellerin, bester Schnitt und zusätzlich mit dem European University Award ausgezeichnet wurde. Die überlange Gala in Berlin gab den Kreativen viel Raum, ohne das Grundproblem zu lösen: an der Kinokasse spürt man nichts von den Europäischen Filmpreisen.
Aufmunterung ist nicht das Erste, was man mit dem ungarischen Filmemacher Béla Tarr verbindet. Seine filmischen Arbeiten vermittelten stets Einblicke in versehrte Landschaften, in denen Menschen in äußerster Verzweiflung von einer Verlorenheit in die nächste wankten. Und auch die Sicht des Regisseurs auf die Filmwelt färbte sich immer pessimistischer, bis er vor über zehn Jahren seinen Abschied erklärte. Doch so, wie man Tarrs Filme immer auch gegen die Absichten ihres Machers lesen und in der forcierten Hoffnungslosigkeit durchaus auf Zeichen für Hoffnung stoßen konnte, so sehr steckt auch in dem Mann selbst deutlich mehr als ein stumpfer Misanthrop. Bei der Verleihung des Ehrenpreises während der 36. Europäischen Filmpreis-Gala schwelgte der ungarische Filmemacher jedenfalls nicht in düsteren Prognosen, sondern fand aufmunternde Worte, wie junge Filmschaffende ihre Kreativität bewahren und sich gegen die Zwänge der Filmindustrie zur Wehr setzen können. Tarrs Dankesrede, die teils Vision, teils Erinnerung an die eigene Berührung mit dem Zauber des Filmschaffens war, bescherte der diesjährigen Verleihung in der Arena Berlin einen willkommenen emotionalen Höhepunkt.
Eine grenzwertige Länge
Im Einklang mit den Werken des Ehrenpreisträgers lag es der Gala fern, sich zeitliche Beschränkungen aufzuerlegen. Mit fast dreieinhalb Stunden erreichte die Preisverleihung eine grenzwertige Länge, die im Unterschied zu anderen Verleihungen aber nicht aus exzessiven Werbeblöcken oder Showeinlagen resultierte. Vielmehr entsprang sie dem Willen, allen Nominierten und Prämierten so viel Raum wie nötig zu geben. Dass nicht alle Preisträgerinnen und Preisträger mit Englisch als der Sprache des Abends gleich gut zurechtkamen, sorgte mitunter zwar für etwas holprigere Dankesreden; doch das Publikum war wohlwollend-geduldig und die Moderatorin Britta Steffenhagen half bereitwillig auf die Sprünge.
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Dieser respektvolle Umgang bewährte sich auch bei der dreifach geehrten Französin Justine Triet, die für ihr komplexes Drama „Anatomie eines Falls“ den Europäischen Filmpreis für den besten Film, als Regisseurin und als Drehbuchautorin (zusammen mit ihrem Partner Arthur Harari) gewann. Triet dürfte sich im Rückgriff auf die Nicht-Muttersprache ein wenig wie die Protagonistin ihres Films vorgekommen sein, in dem Sprache das bestimmende Thema ist: in den Argumentationen aus unterschiedlichen Perspektiven vor Gericht, der Frage nach geschlechterspezifischen Blickwinkeln, noch gesteigert durch den Schriftstellerberuf der Hauptfigur und ihres Ehemanns, für dessen Tod sie verantwortlich gemacht wird, und im Zwang der Umstände, sich als Deutsche auf Französisch und Englisch verteidigen zu müssen.
Ein Film dominierte den Abend
Mit dem klugen und
vielschichtigen Film von Justine Triet entschieden sich die Mitglieder der
Europäischen Filmakademie für einen würdigen Preisträger, womit allerdings
einmal mehr ein einziges Werk den Abend zu dominieren drohte. Zwar wurde auch dem
radikalen Drama „The Zone of Interest“ über den
Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seine Familie, den aufrüttelnden
Flüchtlingsdramen „Green Border“ von Agnieszka Holland und „Io Capitano“ von Matteo Garrone sowie Aki Kaurismäkis meisterlich zarter
Romanze „Fallende Blätter“ viel Lob zuteil. Doch gegen „Anatomie
eines Falls“ zogen sie ein ums andere Mal den Kürzeren.
Die Frage, ob Sandra Hüller für ihren Part als Mordverdächtige oder als Höß’ Gattin in „The Zone of Interest“ gewinnen würde, fiel folgerichtig ebenfalls zugunsten von Triets Film aus. Der Darsteller-Preis ging erneut an den Dänen Mads Mikkelsen, der nach seiner Auszeichnung 2020 für „Der Rausch“ diesmal für das westernhafte Historiendrama „King’s Land“ geehrt wurde. Der Film war nicht in der Kategorie „bester Film“ nominiert, konnte sich aber mit zwei „Excellence Awards“ für die Gewerke Kamera und Kostümbild trösten. Unter diesen schon vorab verkündeten Preisen kam „Anatomie eines Falls“ beim Schnitt einmal mehr zum Zug; für „The Zone of Interest“ gab es fürs Sounddesign zumindest einen Trostpreis.
Ein Grundproblem des Europäischen Filmpreises ließ sich damit auch 2023 nicht lösen: Die Verleihung kündete zwar von der Vielfalt des Filmschaffens in Europa, aber spannend war sie nicht. Abgesehen davon, dass vom ersten Preis für „Anatomie eines Falls“ nach knapp einer Stunde an klar war, wie der Abend verlaufen würde, standen die unterschiedlichen Absichten hinter den Auszeichnungen sich öfters gegenseitig im Weg. Es ist durchaus lobenswert, neben den Filmkategorien gleich fünf unterschiedlichste Ehren- und Spezialpreisträger prämieren zu wollen. Doch es erfordert eben auch, ein filmisches Randgebiet wie die Verdienste der Produzentin Uljana Kim um das litauische Kino oder die Nachhaltigkeitsbemühungen der türkischen Unternehmerin Güler Sabanci annähernd vergleichbar hochzuhalten wie die weit bekannteren Lebensleistungen von Isabel Coixet, Béla Tarr und Vanessa Redgrave. An dieser Aufgabe trug die Gala ebenso schwer wie an der Einbindung der preisgekrönten Gewerke, was zu minutenlangen Verzögerungen führte, bis diese endlich ihre längst bekannten Ehrungen in die Hand nehmen durften.
Kein Effekt an der Kinokasse
Einen Laudatoren-Überschuss der seltsamen Art lieferte die Preisverleihung schließlich in einigen Kategorien, bei denen Moderatorin und Filmschaffenden via Einspieler noch um ausgesuchte Zuschauergruppen ergänzt wurden, die die Filme vorstellten. So nachvollziehbar diese Idee ist, um ein jüngeres, mit der Vielfältigkeit des europäischen Kinos weniger vertrautes Publikum an dieses heranzuführen, so wenig lässt sich das Image des Europäischen Filmpreises dadurch nachhaltig aufpolieren. Was diese Auszeichnung so einzigartig und bedeutsam machen soll, fand auch bei der 36. Ausgabe keine überzeugende Antwort.
Das ist umso bedauerlicher, weil die Kreativität der Filmschaffenden europäischer Herkunft unbestreitbar ist und bei der Gala beständig in den Blick gerückt wurde. Die jahrelange Arbeit etwa hinter dem prämierten Dokumentarfilm „Smoke Sauna Sisterhood“ der Estin Anna Hints ist ebenso ein Glücksfall fürs Kino wie die Ehrung von Pablo Berger, seit der Stummfilm-Hommage „Blancanieves“ (2012) eines der hoffungsvollsten Talente Europas; in Berlin wurde er für seinen ersten Animationsfilm „Robot Dreams“ ausgezeichnet. Doch für den normalen Kinobetrieb senden die Europäischen Filmpreise weiterhin keine nachhaltigen Signale. Es liegt an den Mitgliedern der Europäischen Filmakademie, die ihren Einfluss nutzen müssten, um die besten filmischen Leistungen aus Europa gezielter dort zu bewerben, wo die Europäischen Filmpreise bisher als Werbemittel kaum eine Rolle spielen: in den Kinos.
Die Gewinner der 36. Europäischen Filmpreise
Europäischer Spielfilm
Anatomie eines Falls, Regie: Justine Triet
Europäischer Dokumentarfilm
Smoke Sauna Sisterhood, Regie: Anna Hints
Europäische Entdeckung – Fipresci Preis
How to Have Sex, Regie: Molly Manning Walker
Europäischer Animationsfilm
Robot Dreams, Regie: Pablo Berger
Europäischer Kurzfilm
Hardly Working, Regie: Susanna Flock, Robin Klengel, Leonhard Müllner, Michael Stumpf
Europäische Regie
Justine Triet für „Anatomie eines Falls“
Europäische Darstellerin
Sandra Hüller für „Anatomie eines Falls“
Europäischer Darsteller
Mads Mikkelsen in „King’s Land“
Europäisches Drehbuch
Justine Triet, Arthur Harari für „Anatomie eines Falls“
Europäische Kamera
Rasmus Videbæk für „King’s Land“
Europäisches Szenenbild
Emita Frigato für „La Chimera“
Europäisches Kostümbild
Kicki Ilander für „King’s Land“
Europäischer Schnitt
Laurent Sénéchal für „Anatomie eines Falls“
Europäische Make-Up- und Frisurengestaltung
Ana López-Puigcerver, Belén López-Puigcerver, David Martí, Montse Ribé für „Die Schneegesellschaft“
Europäischer Filmkomponist
Markus Binder für „Club Zero“
Europäisches Sounddesign
Johnnie Burn, Tarn Willers für „The Zone of Interest“
Europäische Visuelle Effekte
Félix Bergés, Laura Pedro für „Die Schneegesellschaft“
Lebenswerk
Europäischer Beitrag zum Weltkino
Ehrenpreis
European Sustainability Award - Prix Film4Climate
European University Award
„Anatomie eines Falls“ von Justine Triet
Hinweis
Eine Übersicht über alle Gewinner der Europäischen Filmpreise findet sich auf der Website der European Film Awards.