© Sebastian Gabsch/European Film Academy (Die Preisträgerinnen Sandra Hüller und Justine Triet)

Tolle Filme, kaum Resonanz: 36. Europäischer Filmpreis 2023

Justine Triets Drama „Anatomie eines Falls“ ist der große Gewinner der 36. Europäischen Filmpreise, die in Berlin vergeben wurden

Veröffentlicht am
12. Juli 2024
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Bei der Verleihung der 36. Europäischen Filmpreise dominierte das Drama „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet, das als bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, beste Darstellerin, bester Schnitt und zusätzlich mit dem European University Award ausgezeichnet wurde. Die überlange Gala in Berlin gab den Kreativen viel Raum, ohne das Grundproblem zu lösen: an der Kinokasse spürt man nichts von den Europäischen Filmpreisen.


Aufmunterung ist nicht das Erste, was man mit dem ungarischen Filmemacher Béla Tarr verbindet. Seine filmischen Arbeiten vermittelten stets Einblicke in versehrte Landschaften, in denen Menschen in äußerster Verzweiflung von einer Verlorenheit in die nächste wankten. Und auch die Sicht des Regisseurs auf die Filmwelt färbte sich immer pessimistischer, bis er vor über zehn Jahren seinen Abschied erklärte. Doch so, wie man Tarrs Filme immer auch gegen die Absichten ihres Machers lesen und in der forcierten Hoffnungslosigkeit durchaus auf Zeichen für Hoffnung stoßen konnte, so sehr steckt auch in dem Mann selbst deutlich mehr als ein stumpfer Misanthrop. Bei der Verleihung des Ehrenpreises während der 36. Europäischen Filmpreis-Gala schwelgte der ungarische Filmemacher jedenfalls nicht in düsteren Prognosen, sondern fand aufmunternde Worte, wie junge Filmschaffende ihre Kreativität bewahren und sich gegen die Zwänge der Filmindustrie zur Wehr setzen können. Tarrs Dankesrede, die teils Vision, teils Erinnerung an die eigene Berührung mit dem Zauber des Filmschaffens war, bescherte der diesjährigen Verleihung in der Arena Berlin einen willkommenen emotionalen Höhepunkt.

Ehrenpreisträger Béla Tarr (© Sebastian Gabsch/European Film Academy)
Ehrenpreisträger Béla Tarr (© Sebastian Gabsch/European Film Academy)


Eine grenzwertige Länge

Im Einklang mit den Werken des Ehrenpreisträgers lag es der Gala fern, sich zeitliche Beschränkungen aufzuerlegen. Mit fast dreieinhalb Stunden erreichte die Preisverleihung eine grenzwertige Länge, die im Unterschied zu anderen Verleihungen aber nicht aus exzessiven Werbeblöcken oder Showeinlagen resultierte. Vielmehr entsprang sie dem Willen, allen Nominierten und Prämierten so viel Raum wie nötig zu geben. Dass nicht alle Preisträgerinnen und Preisträger mit Englisch als der Sprache des Abends gleich gut zurechtkamen, sorgte mitunter zwar für etwas holprigere Dankesreden; doch das Publikum war wohlwollend-geduldig und die Moderatorin Britta Steffenhagen half bereitwillig auf die Sprünge.


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Dieser respektvolle Umgang bewährte sich auch bei der dreifach geehrten Französin Justine Triet, die für ihr komplexes Drama Anatomie eines Falls den Europäischen Filmpreis für den besten Film, als Regisseurin und als Drehbuchautorin (zusammen mit ihrem Partner Arthur Harari) gewann. Triet dürfte sich im Rückgriff auf die Nicht-Muttersprache ein wenig wie die Protagonistin ihres Films vorgekommen sein, in dem Sprache das bestimmende Thema ist: in den Argumentationen aus unterschiedlichen Perspektiven vor Gericht, der Frage nach geschlechterspezifischen Blickwinkeln, noch gesteigert durch den Schriftstellerberuf der Hauptfigur und ihres Ehemanns, für dessen Tod sie verantwortlich gemacht wird, und im Zwang der Umstände, sich als Deutsche auf Französisch und Englisch verteidigen zu müssen.


Ein Film dominierte den Abend

Mit dem klugen und vielschichtigen Film von Justine Triet entschieden sich die Mitglieder der Europäischen Filmakademie für einen würdigen Preisträger, womit allerdings einmal mehr ein einziges Werk den Abend zu dominieren drohte. Zwar wurde auch dem radikalen Drama „The Zone of Interest“ über den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seine Familie, den aufrüttelnden Flüchtlingsdramen „Green Border“ von Agnieszka Holland und „Io Capitano“ von Matteo Garrone sowie Aki Kaurismäkis meisterlich zarter Romanze „Fallende Blätter“ viel Lob zuteil. Doch gegen „Anatomie eines Falls“ zogen sie ein ums andere Mal den Kürzeren.

Die Preisträger beim Gruppenfoto (© Sebastian Gabsch/European Film Academy)
Die Preisträger beim Gruppenfoto (© Sebastian Gabsch/European Film Academy)

Die Frage, ob Sandra Hüller für ihren Part als Mordverdächtige oder als Höß’ Gattin in „The Zone of Interest“ gewinnen würde, fiel folgerichtig ebenfalls zugunsten von Triets Film aus. Der Darsteller-Preis ging erneut an den Dänen Mads Mikkelsen, der nach seiner Auszeichnung 2020 für „Der Rausch“ diesmal für das westernhafte Historiendrama „King’s Land“ geehrt wurde. Der Film war nicht in der Kategorie „bester Film“ nominiert, konnte sich aber mit zwei „Excellence Awards“ für die Gewerke Kamera und Kostümbild trösten. Unter diesen schon vorab verkündeten Preisen kam „Anatomie eines Falls“ beim Schnitt einmal mehr zum Zug; für „The Zone of Interest“ gab es fürs Sounddesign zumindest einen Trostpreis.

Ein Grundproblem des Europäischen Filmpreises ließ sich damit auch 2023 nicht lösen: Die Verleihung kündete zwar von der Vielfalt des Filmschaffens in Europa, aber spannend war sie nicht. Abgesehen davon, dass vom ersten Preis für „Anatomie eines Falls“ nach knapp einer Stunde an klar war, wie der Abend verlaufen würde, standen die unterschiedlichen Absichten hinter den Auszeichnungen sich öfters gegenseitig im Weg. Es ist durchaus lobenswert, neben den Filmkategorien gleich fünf unterschiedlichste Ehren- und Spezialpreisträger prämieren zu wollen. Doch es erfordert eben auch, ein filmisches Randgebiet wie die Verdienste der Produzentin Uljana Kim um das litauische Kino oder die Nachhaltigkeitsbemühungen der türkischen Unternehmerin Güler Sabanci annähernd vergleichbar hochzuhalten wie die weit bekannteren Lebensleistungen von Isabel Coixet, Béla Tarr und Vanessa Redgrave. An dieser Aufgabe trug die Gala ebenso schwer wie an der Einbindung der preisgekrönten Gewerke, was zu minutenlangen Verzögerungen führte, bis diese endlich ihre längst bekannten Ehrungen in die Hand nehmen durften.


Kein Effekt an der Kinokasse

Einen Laudatoren-Überschuss der seltsamen Art lieferte die Preisverleihung schließlich in einigen Kategorien, bei denen Moderatorin und Filmschaffenden via Einspieler noch um ausgesuchte Zuschauergruppen ergänzt wurden, die die Filme vorstellten. So nachvollziehbar diese Idee ist, um ein jüngeres, mit der Vielfältigkeit des europäischen Kinos weniger vertrautes Publikum an dieses heranzuführen, so wenig lässt sich das Image des Europäischen Filmpreises dadurch nachhaltig aufpolieren. Was diese Auszeichnung so einzigartig und bedeutsam machen soll, fand auch bei der 36. Ausgabe keine überzeugende Antwort.

Sandra Hüller gewann als beste Darstellerin (© Sebastian Gabsch/European Film Academy)
Sandra Hüller gewann als beste Darstellerin (© Sebastian Gabsch/European Film Academy)

Das ist umso bedauerlicher, weil die Kreativität der Filmschaffenden europäischer Herkunft unbestreitbar ist und bei der Gala beständig in den Blick gerückt wurde. Die jahrelange Arbeit etwa hinter dem prämierten Dokumentarfilm „Smoke Sauna Sisterhood“ der Estin Anna Hints ist ebenso ein Glücksfall fürs Kino wie die Ehrung von Pablo Berger, seit der Stummfilm-Hommage „Blancanieves“ (2012) eines der hoffungsvollsten Talente Europas; in Berlin wurde er für seinen ersten Animationsfilm „Robot Dreams“ ausgezeichnet. Doch für den normalen Kinobetrieb senden die Europäischen Filmpreise weiterhin keine nachhaltigen Signale. Es liegt an den Mitgliedern der Europäischen Filmakademie, die ihren Einfluss nutzen müssten, um die besten filmischen Leistungen aus Europa gezielter dort zu bewerben, wo die Europäischen Filmpreise bisher als Werbemittel kaum eine Rolle spielen: in den Kinos.


Die Gewinner der 36. Europäischen Filmpreise

Europäischer Spielfilm

Anatomie eines Falls, Regie: Justine Triet

Europäischer Dokumentarfilm

Smoke Sauna Sisterhood, Regie: Anna Hints

Europäische Entdeckung – Fipresci Preis

How to Have Sex, Regie: Molly Manning Walker

Europäischer Animationsfilm

Robot Dreams, Regie: Pablo Berger

Europäischer Kurzfilm

Hardly Working, Regie: Susanna Flock, Robin Klengel, Leonhard Müllner, Michael Stumpf

Europäische Regie

Justine Triet für Anatomie eines Falls

Europäische Darstellerin

Sandra Hüller für Anatomie eines Falls

Europäischer Darsteller

Mads Mikkelsen inKing’s Land

Europäisches Drehbuch

Justine Triet, Arthur Harari für Anatomie eines Falls

Europäische Kamera

Rasmus Videbæk für King’s Land

„King’s Land“ gewann u.a. für die Kameraarbeit (© Zentropa Ent./Nordisk Film & TV-Fond)
„King’s Land“ gewann u.a. für die Kameraarbeit (© Zentropa Ent./Nordisk Film & TV-Fond)

Europäisches Szenenbild

Emita Frigato für La Chimera

Europäisches Kostümbild

Kicki Ilander für King’s Land

Europäischer Schnitt

Laurent Sénéchal für Anatomie eines Falls

Europäische Make-Up- und Frisurengestaltung

Ana López-Puigcerver, Belén López-Puigcerver, David Martí, Montse Ribé für Die Schneegesellschaft

Europäischer Filmkomponist

Markus Binder für Club Zero

Europäisches Sounddesign

Johnnie Burn, Tarn Willers für The Zone of Interest

Europäische Visuelle Effekte

Félix Bergés, Laura Pedro für Die Schneegesellschaft

Die visuellen Effekte für „Die Schneegesellschaft“ wurden ebenfalls prämiert (© Netflix)
Die visuellen Effekte für „Die Schneegesellschaft“ wurden ebenfalls prämiert (© Netflix)

Lebenswerk

Vanessa Redgrave

Europäischer Beitrag zum Weltkino

Isabel Coixet

Ehrenpreis

Béla Tarr

Eurimages Co-Produktionspreis

Uljana Kim

European Sustainability Award - Prix Film4Climate

Güler Sabanci

European University Award

Anatomie eines Falls von Justine Triet


Hinweis

Eine Übersicht über alle Gewinner der Europäischen Filmpreise findet sich auf der Website der European Film Awards.

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