In seinem ersten, in irischer Sprache gedrehten Spielfilm "The Quiet Girl" erzählt Regisseur Colm Bairéad von einem jungen Mädchen aus einer kinderreichen Familie, das nicht gerade liebevoll aufwächst. Im Sommer 1981 verbringt es jedoch ein paar Wochen bei Verwandten, einem kinderlosen Paar, und erlebt dort eine ganz andere, bereichernde Zeit. „The Quiet Girl“ überzeugte weltweit nicht nur die Kritiker, sondern begeisterte auch das Publikum. Insgesamt spielte die 1,2 Millionen teure Low-Budget-Produktion bislang über 6 Millionen Dollar ein. Der 1981 geborene Filmemacher Colm Bairéad drehte davor Kurz- und Dokumentarfilme sowie die Doku-Serie „The Joy“ (2015).
In „The Quiet Girl“ hört man Menschen irisch-gälisch sprechen. Eine keltische Sprache, die nichts mit Englisch gemeinsam hat. Für mich war das schon eine Entdeckung. Wie war das für Sie?
Colm Bairéad: Für mich und meine Frau Cleona Ni Chrualaoi, die den Film produziert hat, war das sehr berührend. Wir beide sprechen Irisch auch zu Hause. Diese Sprache war seit unserer Geburt Teil unseres Lebens. Wir haben beide ein Elternteil, das Irisch spricht und uns die Sprache beigebracht hat. Jetzt sind wir selbst Eltern zweier kleiner Jungs und sprechen mit ihnen ebenfalls Irisch, und das inmitten von Dublin, einer Stadt, in der zumeist Englisch geredet wird. Außerdem lieben wir das Kino, auch das irische Kino. Darin war das irisch-gälisch-sprachige Kino lange unterrepräsentiert. Bis vor wenigen Jahren gab es nur fünf oder sechs Filme in irischer Sprache. Dabei ist es eine Nationalsprache. Wer nach Irland kommt, sieht sie auf den Straßenschildern. Alle offiziellen Dokumente sind auf Irisch verfasst. Insofern korrigiert unser Film auch eine gewisse Abwesenheit des Irischen im nationalen Kino. Wir hoffen, dass wir das Eis gebrochen haben und es uns gelingt, uns als Nation auch mehr in unserer indigenen Sprache auszudrücken.
Wie reagierte das Publikum in Irland? Waren viele nicht überrascht, einen englisch untertitelten Film zu sehen?
Bairéad: Der Film war in Irland extrem erfolgreich und lief ein Jahr lang in den Kinos. Das hatte es bei einem irisch-sprachigen Film noch nie gegeben. Aber es sprach sich herum, dass es sich lohnt, „The Quiet Girl“ anzusehen. Der Umstand, dass er auf Irisch gedreht ist, brachte wohl noch mehr Leute dazu, ins Kino zu gehen. Das war ja etwas Neues. Auch wenn viele Iren der irischen Sprache nicht gut folgen können, sind sie auf ihre kulturelle Identität stolz. Daher freuten sich viele, dass ein irisch-sprachiger Film so erfolgreich in den Kinos läuft, in denen man unsere Sprache sonst nicht hört.
Der Erfolg ist umso bemerkenswerter, weil es ein sehr klassisch gedrehter Arthouse-Film im 4:3-Format ist.
Bairéad: Der Film stützt sich ja auf „Foster“, eine lange Kurzgeschichte, wie ihre Autorin Clare Keegan zu sagen pflegt. Diese Geschichte hat eine klassische Struktur. Alles, was wir mit dem Film ausdrücken wollten, entstand aus Respekt zur Vorlage. Im Mittelpunkt steht dabei das junge Mädchen Caít. Es ist ihre Geschichte. „Foster“ ist in der Ich-Perspektive geschrieben und im Präsens. Das bindet den Leser ein. Es ist ein sehr mitfühlendes Porträt eines jungen Mädchens und seines Bewusstseins. Der Film wollte genau das vermitteln. Das Format 4:3, ganz genau ist es 1,37:1, haben wir auch deshalb ausgewählt, um die Perspektive des Mädchens zu verdeutlichen. Uns gefiel dabei auch, dass das Bild an den Seiten etwas eingeschränkt wirkt, weil Caíts Horizont noch nicht so weit ist. Es gibt Dinge, die sie noch nicht verstehen kann.
Bildete der Film "Ida" von Pawel Pawlikowski, der das 4:3-Format wieder etwas zurückgebracht hat, eine Referenz?
Bairéad: „Ida“ ist genau der Film von Pawlikowski, den ich nicht gesehen habe. In Irland kann man ihn nur schwer auftreiben, da kein Streamer ihn im Programm hat. Ich kenne aber Bilder und Ausschnitte aus dem Film, die ich sehr eindrucksvoll finde. Ich bin ein großer Fan von „Cold War“ von Pawlikowski. „Ida“ steht ganz oben auf meiner Liste der Filme, die ich demnächst unbedingt sehen möchte.
Es gibt im ganzen Film nur eine einzige wirkliche Umarmung. Dabei spürt man durchaus viel Zuneigung. Warum fällt es den Protagonisten so schwer, Emotionen zu zeigen?
Bairéad: Auch das gefiel mir so an „Foster“, dass es diese emotionale Zurückhaltung gibt. Das hat gewiss auch eine universelle Dimension, aber es ist auch etwas sehr typisch Irisches. Vor allem ab meiner Generation. Das betrifft vor allem männliche Vaterfiguren. Es gibt in der Geschichte ja ein trauriges Schlüsselereignis, das eher im Hintergrund bleibt und über das niemals offen gesprochen wird. Mir gefiel, wie die Autorin damit umgeht, und ich mag das auch an Kinofilmen, wenn sie über eine emotionale Katharsis eher indirekt erzählen. Das finde ich ehrlicher und realistischer, weil es nicht so manipulativ ist.
Wobei es ja zwei miteinander kontrastierende Szenen gibt. Da ist Seán, der langsam in eine Art Vaterrolle wächst und Caít dafür lobt, dass sie nicht zu viel redet. Es gibt aber auch die klatschsüchtige Nachbarin, die tratscht und das Geheimnis ausplaudert. Der Film heißt nicht umsonst „The Quiet Girl“, oder?
Bairéad: Wenn der Pflegevater über Caít redet, sagt er ja: „Sie sagt nur, was es zu sagen gibt.“ Dieser Satz wurde für uns zu einem künstlerischen Mantra. Wir wollten mit den filmischen Mitteln sehr sparsam umgehen und uns nicht zu sehr auf Dialoge verlassen. Man wird im Film von einer großen Stille umgeben. Das war für mich als Filmemacher die größte Herausforderung, denn das stille Mädchen ist in der Geschichte dennoch die Erzählerin. Ihre Stimme ist dadurch sehr präsent. Wenn man das filmisch zu lösen versucht und dem Buch treu bleiben will, hat man nur zwei Optionen. Entweder man arbeitet mit einer Off-Stimme, die dann viel erzählt. Das wollte ich nicht. Ich halte es für eine sehr unelegante Lösung. Die andere Option besteht darin, diese stille Figur zu umfassen. Dann wird die Stille zu einem sehr wichtigen Stilelement im Film. Es gibt ja nicht nur eine Form der Stille, sondern gleich mehrere. Die teilen auch etwas über die Reise mit, die Caít unternimmt. Zunächst ist das eine Stille voller Schuld und Angst. Dann erfährt sie etwas über eine Stille voller Kummer, die ironischerweise auch eine Stille voller Liebe ist. Die Schwierigkeit der Figuren, ihre Emotionen zu zeigen, wird manchmal durch kleine Gesten überwunden, über die nie gesprochen wird. Diese nonverbale Art, Gefühle zu zeigen, halte ich für sehr viel eindringlicher. Das erklärt vielleicht auch den internationalen Erfolg des Films, weil Sprache am Ende nicht so wichtig ist. Die einzige Sprache, auf die sich der Film stützt, ist die Sprache des Kinos, und die ist universell.
Sie legen sehr viel Wert auf Details. So fiel mir erst beim erneuten Betrachten der Anfangssequenz auf, in der sich Caít unter ihrem Bett versteckt, dass auf ihrer Matratze ein nasser Fleck ist. Wie sehr verlangsamt diese Detailgenauigkeit das Drehen? Oder sind Sie so genau vorbereitet, dass das keine Rolle spielt?
Bairéad: Das ist eher eine Frage der Vorbereitung. Wenn man ein Maler ist, musst man ja auch wissen, was man malen will. Denken Sie nur an Alfonso Cuarón und „Roma“, bei dem Cuarón ja auch die Kamera geführt hat. Er hat erzählt, dass er sich zuvor mit jeder Ecke des Bildrahmens befasst hat. Das hat mich sehr beeindruckt, und uns während der Produktion auch inspiriert. Ich komme ja vom Dokumentarfilm her, daher dieser Hang zur Authentizität. Die Welt, die wir erschaffen, soll fühlbar werden.
Wie viele Drehtage hatten Sie?
Bairéad: Wir hatten 25 Drehtage. Das ist ein Low-Budget-Film, der 1,2 Millionen Dollar gekostet hat.
Haben Sie versucht, chronologisch zu drehen?
Bairéad: Ja, so gut es irgendwie ging, auch wegen unserer jungen Hauptdarstellerin Catherine Clinch, die zum ersten Mal in einem Film mitspielte. Auf diese Weise wollten wir ihr helfen, die Geschichte zu durchleben. Das hat uns vor einige logistische Herausforderungen gestellt, aber es hat sich gelohnt.
Wie schauen Sie jetzt auf dieses filmische Abenteuer zurück?
Bairéad: Für uns war es ein kleiner Film, unser erster Spielfilm. Wir hatten wenig Ahnung vom weltweiten Vertrieb und vom Weltmarkt. Wir waren nicht einmal besonders darauf fokussiert, wie der Film angenommen werden könnte, sondern wollten nur unseren Film drehen. Dann akzeptierte uns die Berlinale, wo der Film seine Weltpremiere erlebte. Das war ein historischer Moment, weil es der erste irisch-sprachige Film war, der je auf der Berlinale gelaufen ist. Für uns war das ein wunderbares Ereignis. Damit hätten wir uns schon zufriedengegeben. Aber dann ging es weiter. Erst gewannen wir bei der Berlinale, später sieben Preise bei den Irischen Filmpreisen, darunter auch den als Bester Film. Auch das eine Premiere.
Und danach kam der Kinostart. Das Momentum hörte und hörte nicht mehr auf. Das Schönste war, dass Großmütter den Film mit ihren Kindern und Enkeln ansahen. Im Film geht es ja auch um Erinnerung. Das ist vor allem für Irinnen und Iren sehr wichtig. Der Film funktioniert wie ein Familienalbum. Der Film kam in vielen Ländern ins Kino und wir schafften es sogar auf die Shortlist der „Oscars“. Da wünscht man sich natürlich, auch unter die letzten fünf nominierten Filme zu kommen.